Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen! Arbeitsminister Blüm, aber auch Oskar Lafontaine sind für die Ausweitung von Wochenendarbeit. Wir sind es mittlerweise gewöhnt, daß insbesondere Norbert Blüm sein Anliegen mit flotten, ablenkenden Begriffen vorträgt, die es mancher Bürgerin und manchem Bürger erschweren, das zu erkennen, was dahinterliegt.
Ich will versuchen, in fünf Minuten Argumente dagegenzusetzen.
Herr Blüm bietet drei Kröten und ein Bonbon an. Die erste Kröte: Die Arbeitnehmer sollen den Samstag als Regelarbeitstag in Betrieben und Läden akzeptieren.
Die zweite Kröte: Der Arbeitstag soll auf neun Stunden ausgedehnt werden.
Die dritte Kröte — nachzulesen in dem von Herrn Blüm eingebrachten neuen Arbeitszeitgesetz — : die Möglichkeit der Erweiterung von Sonntagsarbeit gegenüber der bisherigen Gesetzgebung.
Das Bonbon ist die Vier-Tage-Woche.
Sehen wir uns das näher an: Herr Blüm sagt, wir müssen flexibler werden, in Wahrheit schlägt er, wie bei BMW und IBM z. B. praktiziert, starre Blöcke von Arbeitszeit und auch der Freizeit vor, die am Wochenende und mitten in die Woche plaziert sind, nach der Regel: zweimal samstags arbeiten und einmal frei.
Die durch Arbeitszeit gewonnene freie Zeit und durch den Neun-Stunden-Tag angesammelte Zeit ist der Selbstbestimmung der Kolleginnen und Kollegen entzogen. Die Verfügung über eigene Bedürfnisse und Gestaltung kann nicht von seiten der Kollegen vorgetragen oder wahrgenommen werden, die Zeit muß
genommen werden, wie es die Maschinen erfordern. Auch Lafontaine sollte sich das hinter die Ohren schreiben und sich das mal vor Ort ansehen.
Weiter sagt Herr Blüm: Wir gewinnen Lebensqualität. Frauen und Männer sind bei neun Stunden Arbeit am Tag — hinzukommen in der Regel ein bis zwei Stunden Wegezeit —
noch weniger in der Lage, ihre individuellen Bedürfnisse, z. B. der Kindererziehung, der Weiterbildung, der Teilnahme am öffentlichen Leben, in einer berechenbaren und kontinuierlichen Weise wahrzunehmen.
Dagegen sind wir GRÜNE für eine Arbeitszeitgestaltung, die es z. B. Kindererziehenden ermöglicht, Männern und Frauen, abwechselnd z. B. morgens um acht Uhr mit der Arbeit anzufangen, um zusammen mit den Kindern den Tag zu beginnen, die Kinder zu versorgen. Das ist flexible Arbeitszeit, das ist Erhöhung der Lebensqualität und nicht das, was Herr Blüm vorschlägt.
Herr Blüm sagt: Wir müssen die Arbeitszeit und die Nutzungszeit der Maschinen entkoppeln. Ich will Ihnen sagen: Die Bundesrepublik liegt in der Entkoppelung an der Spitze in Europa.
Die Bundesrepublik hat eine Nutzungszeit der Maschinen von 61 Stunden im verarbeitenden Gewerbe, in der metallerzeugenden Industrie von 79 Stunden, im Textilbereich von 81 Stunden. In der Nachtschichtarbeit und Schichtarbeit allgemein liegen wir höher, als es der Situation in Frankreich und den USA entspricht.
Herr Blüm sagt: Wir müssen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Die Binsenwahrheit ist aber, daß eine zeitlich verlängerte Nutzung der Maschinenzeit in einem Betrieb mit zusätzlichen Arbeitsplätzen bei gleichbleibender oder sogar geringfügig steigender Produktion in anderen Standorten zum Abbau oder zur Stillegung von Produktion führt. Herr Blüm schafft Fakten, und er versucht, dies hinzukriegen. Er weiß genau, daß die 35-Stunden-Woche kommen wird,
und mit seinem Vorschlag versucht er, heute schon Fakten zu setzen, die die Leute in feste, starre Blöcke von Arbeitszeit, von Freizeit einzwängen, um damit die Möglichkeiten, die die einzelnen haben, zu untergraben. Gegen so eine flexibilisierte Rund-um-dieUhr-Gesellschaft, in der die Menschen kaum noch über gemeinsame Zeit verfügen, wehren sich die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 107. Sitzung. Bonn, Freitag, don 11. November 1988 7381
Hoss
Leute in den Betrieben. Gehen Sie und Herr Lafontaine doch zu BMW und IBM, und sehen Sie sich an, daß den Leuten dort diese Neun-Stunden-Zeit nur mit dem Argument aufgezwungen wird, daß sonst verlagert wird, und sie so nur mit erpresserischen Argumenten in diese Situation gebracht werden!