Liebe Kollegin, ich komme auf die europäische Problematik noch zu sprechen.
Für die Atmosphäre in dieser Republik ist die Diskussion, die ich soeben beschrieb, fatal genug, und zwar auch deshalb, Herr Gerster, weil die Scheingefechte um das Asylrecht von einer längst überfälligen Aufgabe ablenken, der wir uns zu widmen haben, nämlich konkrete und wirkungsvolle Schritte zu unternehmen, um etwa die Asylverfahren abzukürzen. Das brauchen wir, und zwar im Interesse aller Betroffenen, sowohl der Bundesbürger als auch der Bewerber.
— Ich sage es gleich. — Der Innenminister wartet in schöner Regelmäßigkeit mit neuen Statistiken über Asylsuchende auf, auch der Herr Staatssekretär Spranger — mit einem Unterton, den ich herauslese — , als stünden wir vor einer akuten Gefahr. Sie sollten lieber Kraft und Mühe auf die Entwicklung eines tragfähigen Konzepts zur Behandlung von Asylbewerbern und Flüchtlingen verwenden als auf diese Sprüche.
Was uns die Regierung unter dem hochtrabenden Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften" präsentiert, verdient diesen Namen kaum. Wir begrüßen zwar, daß der vorgesehene Ausschluß der Beschwerde im Prozeßkostenhilfe-Verfahren entfällt, aber insgesamt fehlt auch nur der Ansatz für ein Asyl- und Flüchtlingskonzept. Deshalb lehnt die SPD-Fraktion dieses kärgliche Zwei-Punkte-Programm aus grundsätzlichen Erwägungen ab.
7330 Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. November 1988
Frau Dr. Sonntag-Wolgast
Zu unseren eigenen Vorschlägen. In vielen Teilen der Welt herrschen Bürgerkrieg, Terror und Folter. Solange das so ist, werden politisch Verfolgte bei uns Zuflucht suchen. In vielen Teilen der Welt, Herr Gerster, herrschen aber auch Hunger und Not, reicht es nicht zur Erfüllung elementarer Lebensbedürfnisse. Solange das so ist, wird es auch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge geben. Wir wissen, daß sie die Mehrheit unter den Bewerbern stellen, und wir kennen die hohen Ablehnungsquoten. Aber mit dem bloßen Abschieben dieser Menschen ist das eigentliche Problem eben nicht bewältigt. Der bessere Weg zur Eindämmung der Flüchtlingsströme ist eben eine andere Politik der Industrienationen gegenüber der Dritten Welt. Solange aber die Bundesrepublik und andere vergleichsweise reiche Länder es nicht schaffen, aktiv für die Lösung der Schuldenkrise und für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung einzutreten, dürfen wir uns nicht aus unserer humanitären Verpflichtung gegenüber den Flüchtlingen selbst entlassen. Wir können — das wissen wir — längst nicht alle dauerhaft aufnehmen. Aber gerade deshalb ist für uns Sozialdemokraten eine europäische Flüchtlingskonzeption unverzichtbar,
nicht nur, aber auch wegen der bevorstehenden Öffnung des Binnenmarkts. Ich komme jetzt zu diesem Punkt.
Die Länder Europas müssen eben eine gemeinsame, eine menschliche und eine rechtsstaatliche Asylpolitik entwickeln. Unser Ziel muß es sein, was wir in anderen Bereichen auch wollen — im Arbeitsrecht, im Umwelt- oder Verbraucherschutz —, nämlich die Einigung nicht etwa auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern auf denkbar hohem Standard. Wer glaubt, sich mit dem Hinweis auf die sogenannte Harmonisierung auf dem europäischen Binnenmarkt aus einer angeblich lästig gewordenen Verpflichtung hinausschummeln zu können, der ist nicht nur leichtfertig, sondern der hat nichts, aber auch gar nichts von der besonderen, geschichtlich bedingten Verantwortung begriffen, die wir als Deutsche tragen.
Während der NS-Diktatur mußten Ungezählte ins Ausland flüchten und haben nur so überlebt. Deswegen sage ich — auch wenn Sie es nicht gerne hören mögen, Herr Spranger — : Für uns Sozialdemokraten ist das Recht auf Asyl nach Art. 16 des Grundgesetzes unverzichtbar und unumstößlich.
Wir schlagen die Errichtung eines europäischen Flüchtlingsamtes vor, daß die Politik gegenüber Flüchtlingen in den Ländern der Gemeinschaft aufeinander abstimmt und die gleichmäßige Belastung der Staaten festlegt. Asylverfahren — darüber sind wir uns einig — dauern immer noch zu lange. Straffung ist nötig. Aber wir dulden auch keine HauruckVerfahren unter Aussparung rechtlicher Instanzen. Ich weiß, daß die quälende Wartezeit den Seelenzustand und auch das Verhalten derer, die auf Anerkennung hoffen, strapaziert, und wir meinen, daß vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge in der Regel binnen drei Monaten entschieden werden müßte. Dazu sind aber weitere Personalaufstockungen und organisatorische Maßnahmen nötig.
Dringend ist es auch, den Status sogenannter Defacto-Flüchtlinge zu verbessern; das sind Menschen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Antrag abgewiesen worden ist, die aber dennoch aus humanitären oder politischen Gründen nicht abgeschoben werden, immerhin 290 000 zur Zeit. Bislang fehlt ein gesetzlich geregeltes Verfahren, in dem die Eigenschaft der Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, die Herr Hirsch eben erwähnte, festgestellt werden kann. Wir schlagen deswegen vor, dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge diese Aufgabe zu übertragen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Das gegenwärtige lange Arbeitsverbot für Asylbewerber belastet die Sozialhilfe, es schürt bei der deutschen Bevölkerung Abneigung und Vorurteile und verletzt die Menschenwürde der Betroffenen. Deswegen sollte die Wartefrist für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis nicht mehr als sechs Monate betragen. Die Wartefrist soll künftig entfallen, wenn feststeht, daß die Bewerber nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden.
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Ein Gesichtspunkt: Ein Konzept, sage ich noch einmal, für unseren Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist dringlich, und ich weiß, daß viele diese Aufgabe als unbequem empfinden. Aber fassen wir sie doch endlich einmal als etwas Positives, nämlich als soziale und kulturelle Herausforderung auf, die unserer Gesellschaft nützen kann und wird! Bischof Martin Kruse, der Ratsvorsitzende der EKG, fand in diesen Tagen die folgende Formel, und er bezog sie sowohl auf die Gruppe der Ausländer als auch die der Asylbewerber. Er sagte:
Ich denke, daß lange Jahre zu stark der Eindruck geprägt worden ist, wir seien völlig überfüllt und ein Boot, in das niemand mehr hineingelassen werden dürfte. Ich glaube, wir können uns noch einiges zumuten in unserem Land.
Meine Damen und Herren, diesem Zitat ist nichts hinzuzufügen. Handeln wir danach!