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ID1110601400

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/106 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 106. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. November 1988 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Czaja 7277 A Erweiterung der Tagesordnung 7277 B Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Ergebnisse der Reise des Bundeskanzlers und seiner Delegation in die UdSSR Dr. Kohl, Bundeskanzler 7278A Dr. Vogel SPD 7284 B Rühe CDU/CSU 7287 D Schily GRÜNE 7291 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 7294 A Heimann SPD 7296 C Frau Geiger CDU/CSU 7299 C Frau Beer GRÜNE 7301 B Genscher, Bundesminister AA 7302 A Erler SPD 7305 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE (Erklärung nach § 32 GO) 7307 D Tagesordnungspunkt 3: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland (Wohnungsbauänderungsgesetz 1988) (Drucksachen 11/3160, 11/3264) 7309C b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Aufhebung des Visumzwanges gegenüber Ungarn (Drucksache 11/2203) 7309 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Für eine Politik der offenen Grenzen — für ein Recht auf Zuflucht — Flüchtlings- und Asylkonzeption (Drucksache 11/3249) 7309D Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Weinwirtschaftsgesetzes (Drucksachen 11/1823, 11/3131) 7310A Tagesordnungspunkt 5: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Sechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 11/2726, 11/3123) 7310B Tagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens (Drucksache 11/3245) 7310B II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. November 1988 Zusatztagesordnungspunkt 9: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 86 zu Petitionen (Drucksache 11/3289) 7310 C Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 87 zu Petitionen (Drucksache 11/3290) 7310 C Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft (Drucksachen 11/2047, 11/2992) Uldall CDU/CSU 7310 C Dr. Wieczorek SPD 7311D Dr. Solms FDP 7313 C Hüser GRÜNE 7314 B Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär BMF 7315 A Tagesordnungspunkt 13: a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung für die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Chile und um Gerechtigkeit für ihre Opfer (Drucksache 11/2985) b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Sofortige Aufnahme der in Chile mit der Todesstrafe bedrohten politischen Gefangenen (Drucksache 11/2986) c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung der Oppositionspresse in Chile (Drucksache 11/2987) Volmer GRÜNE 7316B Schreiber CDU/CSU 7317 D Duve SPD 7319 C Irmer FDP 7321 A Schäfer, Staatsminister AA 7322 B Volmer GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 7323 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer internationalen Begegnungsstätte für Frieden und Versöhnung in Guernica, Baskenland zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien (Drucksachen 11/362, 11/483, 11/3180) Frau Kelly GRÜNE 7324 A Dr. Pohlmeier CDU/CSU 7325 A Duve SPD 7325 C Irmer FDP 7326 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 11/2302, 11/3189) Spranger, Parl. Staatssekretär BMI 7327 D Frau Dr. Sonntag-Wolgast SPD 7328 D Dr. Hirsch FDP 7330 D Frau Olms GRÜNE 7332 A Dr. Olderog CDU/CSU 7332 D Tagesordnungspunkt 9: a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung (Drucksachen 11/2065, 11/3279) b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Dr. Hüsch, Eylmann, Dr. Langner, Seesing, Geis, Hörster und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren (Drucksachen 11/2991, 11/3279) Dr. Pick SPD 7334 B Helmrich CDU/CSU 7334 D Hüser GRÜNE 7335 A Kleinert (Hannover) FDP 7335 C Engelhard, Bundesminister BMJ 7335 D Tagesordnungspunkt 10: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Duve, Dr. Apel, Dr. Penner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Erhaltung des halben Mehrwertsteuersatzes für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften (Drucksachen 11/920, 11/1978) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. November 1988 III b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu einer Mitteilung der Kommission an den Rat über Maßnahmen im Bereich des Buches (Drucksachen 11/706, 11/2505) Weisskirchen (Wiesloch) SPD 7337 A Frau Pack CDU/CSU 7338 A Hüser GRÜNE 7338 D Neuhausen FDP 7339 B Schulhoff CDU/CSU 7340 B Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär BMF 7341A, 7341D Duve SPD 7341 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags des Abgeordneten Wüppesahl (fraktionslos): Sitzplatz des Abgeordneten Wüppesahl im Plenarsaal (Drucksache 11/3198) Bohl CDU/CSU (zur GO) 7342 B Wüppesahl fraktionslos 7342 B Tagesordnungspunkt 11: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Humanitäres Kriegsvölkerrecht (Drucksache 11/2118) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Humanitäres Kriegsvölkerrecht (Drucksache 11/3295) Verheugen SPD 7344 A Graf Huyn CDU/CSU 7345 B Frau Schilling GRÜNE 7346 B Irmer FDP 7347 B Dr. Scheer SPD 7348 D Schäfer, Staatsminister AA 7349 D Tagesordnungspunkt 12: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Humanitäre Hilfeleistungen der Bundesrepublik Deutschland an Afghanistan im Zusammenhang mit dem Abzug der sowjetischen Truppen (Drucksache 11/2437) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Das Genfer Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan vom 14. April 1988 und humanitäre Hilfeleistungen der Bundesrepublik Deutschland an Afghanistan (Drucksache 11/3272) Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 7351 C Dr. Holtz SPD 7352 A Frau Folz-Steinacker FDP 7353 B Frau Olms GRÜNE 7354 C Höffkes CDU/CSU 7355 B Schäfer, Staatsminister AA 7356 B Zusatztagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1988 (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1988) (Drucksachen 11/2742, 11/3293, 11/3297) Regenspurger CDU/CSU 7358 A Lutz SPD 7359 B Dr. Hirsch FDP 7360 B Nächste Sitzung 7361 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 7362* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. November 1988 7277 106. Sitzung Bonn, den 10. November 1988 Beginn: 15.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens** 11. 11. Amling 11. 11. Antretter 10. 11. Frau Beer 11. 11. Böhm (Melsungen)* 11. 11. Börnsen (Ritterbude) 11. 11. Dr. Bötsch 11. 11. Bühler (Bruchsal)* 10. 11. Dollinger 11. 11. Dr. Dregger 11. 11. Ebermann 11. 11. Frau Eid 11. 11. Dr. von Geldern 10. 11. Dr. Glotz 11. 11. Grüner 10. 11. Frau Dr. Hamm-Brücher 11. 11. Dr. Hauff 11. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Hensel 11. 11. Frau Hoffmann (Soltau) 11. 11. Irmer 10. 11. Dr. Klejdzinski* 10. 11. Dr. Knabe 10. 11. Kolb 10. 11. Leonhart 11. 11. Frau Luuk* 10. 11. Dr. Müller** 11. 11. Müller (Düsseldorf) 10. 11. Frau Nickels 11. 11. Niegel* 10. 11. Paintner 11. 11. Reddemann** 10. 11. Reuschenbach 11. 11. Frau Rock 11. 11. Frau Saibold 10. 11. Dr. Schäuble 10. 11. Scherrer 10. 11. Dr. Schmude 11. 11. Dr. Schneider (Nürnberg) 10. 11. Frau Trenz 11. 11. Voigt (Frankfurt) 11. 11. Frau Wieczorek-Zeul 11. 11.
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    Rede von Volker Rühe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein erstes Wort ist ein Wort des Dankes



    Rühe
    und des Glückwunsches an den Bundeskanzler und an die Bundesregierung für den erfolgreichen Besuch in Moskau.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Daß dieser Besuch erfolgreich war, ist ja auch in wesentlichen Teilen von der Opposition anerkannt worden.
    Es sind Irritationen aus der Vergangenheit abgebaut worden, und die Normalisierung der deutschsowjetischen Beziehungen ist eingeleitet worden. Ich denke, es gibt jetzt ein gutes Arbeitsverhältnis zwischen beiden Seiten, das der Bedeutung der beiden Länder füreinander entspricht. Damit ist die Grundlage dafür gelegt, daß man in den nächsten Jahren in fast allen Bereichen zu ganz konkreten neuen Verabredungen kommen kann. Insofern ist jetzt eine neue Qualität der Beziehungen geschaffen worden, durch die beide Länder entspechend ihrem Gewicht in der europäischen Politik die Chance haben, Spannungen abzubauen, die Beziehungen zwischen Ost und West zu vertiefen, zur Vertrauensbildung beizutragen und zu einer für jeden einzelnen Menschen in Europa erlebbaren Entspannung beizutragen.
    Jetzt ist es wichtig, auf dieser Grundlage mit absolutem Realismus weiterzuarbeiten. Wir sollten dabei nüchtern, aber erkennbar positiv auf die neuen Entwicklungen in der Sowjetunion zugehen. Übertriebenes Mißtrauen muß beiseite gelegt werden, und neues Vertrauen muß wachsen können. Mehr Offenheit wird auch zu mehr Vertrauen führen. Je offener Europa ist, desto sicherer ist es auch. Je offener eine neue Sowjetunion für die eigenen Bürger und für ihre europäischen Nachbarn ist, desto sicherer werden sich diese Nachbarn der Sowjetunion fühlen. Offenheit schafft Sicherheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die CDU hat auf ihrem letzten Bundesparteitag in einer außenpolitischen Resolution hierzu folgendes festgestellt:
    Erst wenn ganz Europa ein Kontinent der Menschenrechte und der gewaltfreien Konfliktregelung, der Freizügigkeit und des freien Austausches von Meinungen und Informationen ist, ist der Frieden dauerhaft gesichert.
    Wir betreiben unsere Politik gegenüber der Sowjetunion aus einer gefestigten und glaubwürdigen Position innerhalb des westlichen Bündnisses, aber nicht aus dem politischen Niemandsland heraus. Es ist das, was ich eine Politik des klaren Standorts nennen möchte. Westpolitik ist das Fundament unserer Ostpolitik.
    Herr Vogel, ich muß Ihnen sagen: Wir wissen, Sie haben eine Ostpolitik. Darüber muß gelegentlich gestritten werden. Aber niemand kann bestreiten, daß Sie eine Ostpolitik haben. Was genau ist jedoch Ihre Westpolitik? Ihre Ostpolitik unterscheidet sich allein schon deswegen von unserer Ostpolitik, weil Ihre Westpolitik in den vergangenen Jahren unklar und unberechenbar gewesen ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich denke an Ihre Bereitschaft, innerhalb des westlichen Bündnisses Entscheidungen mitzutragen. Ich denke aber z. B. auch an Ihre Kritik an einer engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich.

    (Richtig! bei der CDU/CSU)

    Deswegen ist es falsch, so zu tun, als ob wir Ihre Ostpolitik übernommen hätten. Unsere Ostpolitik unterscheidet sich alleine schon deswegen von Ihrer, weil sie ein ganz sicheres Fundament der Westpolitik hat. Da müssen Sie weiterarbeiten, Herr Vogel.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Gemeinsame Sicherheit und Geschlossenheit im Bündnis sind eben auch in Zukunft die Grundlage für erfolgversprechende Abrüstungsbemühungen mit dem Warschauer Pakt.
    Glasnost und Perestroika, überhaupt die Reformdiskussion in der Sowjetunion und in den anderen Staaten des real existierenden Sozialismus sind im Grunde genommen — ich finde, daß das noch viel zuwenig gesagt wird — ein Kompliment an uns und ein Argument für Demokratie als politische Ordnung und für den sozial abgesicherten Markt als wirtschaftliche Ordnung. Dem friedlichen Wettbewerb von Ideen und Gesellschaftsordnungen in Europa können und sollten wir jedenfalls sehr selbstbewußt entgegensehen.
    Für uns bedeuten Innovation und Wandel, Pluralismus und Meinungsstreit, Ideenwettstreit, Offenheit und Gewaltenteilung keine Bedrohung. Sie sind vielmehr seit langem, von Anfang an Grundlage unseres politischen Systems und unserer Gesellschaftsordnung. Unser politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System beruht auf der ungefesselten Kreativität, der Leistungsbereitschaft und den geistigen Impulsen eines jeden Menschen.
    Cocom, also Beschränkungen beim Export und beim Handel im Hinblick auf sicherheitspolitische Erfordernisse des Westens, mag manchmal ein Ärgernis sein. Aber es ist bei weitem nicht der Grund dafür, daß heute eine Hälfte Europas wirtschaftlich und technologisch weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Die Selbstfesselung der Menschen im Rahmen eines erstarrten politischen Systems ist der entscheidende Grund für diese Teilung Europas.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb sind die Reformdiskussion und die Systemkritik im real existierenden Sozialismus von historischer Bedeutung.
    Wer im übrigen das gemeinsame europäische Haus will, der muß dafür sorgen, daß alle Europäer, egal wo sie leben, ihre Kreativität, ihre Leistungsbereitschaft und all ihre menschlichen Fähigkeiten und Vorstellungen voll entfalten können. Das ist der Kern der Diskussion, und das ist im übrigen auch der Kern des europäischen Problems.
    Glasnost und Perestroika anerkennen die Notwendigkeit des Wandels; sie widerspiegeln aber auch die Faszination und die Attraktion von politisch offenen Systemen und im übrigen deren Zweckmäßigkeit für moderne Staats- und Gesellschaftsordnungen. Ein



    Rühe
    weiteres Verharren in überkommenen Strukturen würde sich in Europa destabilisierend auswirken.
    Zur Stabilität gehört der Wandel. Stabilität durch Wandel, das ist heute das Lebensgesetz von Gorbatschows Sowjetunion. Stabilität ohne Wandel erscheint ausgeschlossen. In diesem Verständnis sollten wir den Wandel in der Sowjetunion und in den anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa ermutigen und fördern.
    Wenn ich eben davon gesprochen habe, daß wir die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf der Basis von absolutem Realismus weiterentwickeln sollten, dann gilt das auch für die Fragen der Deutschland- und Berlin-Politik. Hier muß man nüchtern sehen, daß es weder in der Berlin-Politik noch in der DeutschlandPolitik eine grundlegend neue Politik in Moskau gibt. Neues Denken ist hier jedenfalls noch nicht zu beobachten.
    Wenn uns die Sowjetunion darauf hinweist — wie dies auch in Moskau geschehen ist —, daß niemand an den Realitäten in Europa vorbeikomme, dann muß man hinzufügen, daß zu den Realitäten in Europa, an denen niemand vorbeikommt, auch der Wille des deutschen Volkes gehört, die widernatürliche Teilung zu überwinden. Wir sollten allerdings realistisch im Auge behalten, in welchen Bereichen der deutschsowjetischen Beziehungen wir kurzfristig nicht zu einer Übereinstimmung kommen können. Aber wir werden unser Ziel der Überwindung der deutschen Teilung mit dem dafür notwendigen langen Atem verfolgen.
    Auch die deutsche Geschichte geht weiter. Die europäische Geschichte kann ebenfalls niemand anhalten. Das erlebt im Augenblick insbesondere der erste Mann in der Sowjetunion. Die europäische Geschichte kann nicht eingefroren werden. Deshalb wird es auch mit Sicherheit nicht so bleiben, wie es jetzt im Augenblick um das geteilte Deutschland steht.
    Es paßt im übrigen ja auch nicht zusammen, daß wir aufgerufen werden, Europa zu einem gemeinsamen Haus zusammenwachsen zu lassen, und sich gleichzeitig in der deutschen Frage nichts bewegen soll, wenn sich im übrigen in Europa sehr viel bewegt. Deshalb war es richtig und wichtig, daß der Bundeskanzler diese Frage in Moskau so offen angesprochen hat. Dies gilt, wie ich meine, auch für Berlin.
    Die wirtschaftlichen Vereinbarungen mit der Sowjetunion haben eine schon vorhandene Diskussion im Westen über die richtige Strategie gegenüber der Sowjetunion weiter vorangetrieben. Unabhängig davon, daß die deutschen finanziellen und wirtschaftlichen Vereinbarungen international keineswegs aus dem Rahmen fallen, auch wenn manche dies behaupten, scheint es mir notwendig zu sein, nun endlich eine langfristige gemeinsame Strategie des Westens zu entwickeln. Der Westen insgesamt muß sich klar darüber werden, mit welcher Strategie er den Prozeß der Veränderung in der Sowjetunion und in den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas begleitet und fördert. Dies gilt auch für die Europäische Gemeinschaft, die sich sehr schnell auf ein solches Konzept verständigen sollte.
    Ich meine, wir würden im Westen eine historische Chance verpassen, wenn wir bei den Veränderungsbestrebungen in Osteuropa nur zuschauen und im übrigen die weitere Entwicklung abwarten würden. Daher sollten wir mutiger sein und auch eine aktive Rolle spielen.
    So sollten wir jetzt die günstige Gelegenheit nutzen, um über die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit die politische Öffnung dieser Länder zu fördern, zumal bei der Mehrzahl der Regierungen in Osteuropa inzwischen durchaus die Erkenntnis vorhanden ist, daß eine erfolgreiche Wirtschaftsreform ohne politische Reformen nicht machbar sein wird und daß man das Engagement der Menschen für diese Reformen nicht erreichen kann, solange für diese keine greifbaren Vorteile und erst recht kein Glaube an die Zukunft besteht. Das ist im übrigen auch bis in diese Tage hinein das Problem der mangelnden Popularität Gorbatschows in der Sowjetunion, und zwar an der Basis, wo für viele Menschen die Fortschritte noch nicht eingetreten sind. Wenn von der Führung der Sowjetunion jetzt offen festgestellt wird, daß sich ihr Land in einer tiefen Krise befindet, dann, meine ich, hat der Westen für seine eigene Sicherheit ein Interesse an einer Stabilisierung der Situation. Deswegen sollten wir die Chancen der Zusammenarbeit nutzen, wenn sie zu einer Stabilisierung führen. Doch sollten wir dabei deutlich sagen, daß aus unserer Sicht zur Stabilisierung der Situation auch die Bereitschaft der politischen Führungen gehört, den einzelnen Menschen größere politische und persönliche Freiheiten als bisher zu gewähren.
    Im übrigen kann man ja an unseren politischen Systemen erkennen, daß zur Stabilität durchaus auch Demonstrationen und offene politische Meinungsäußerungen gehören können. Das Ringen um den richtigen Weg ist ja keineswegs ein Zeichen für Instabilität, sondern Ausdruck für Stabilität. Mit all diesen Dingen müssen sich Systeme auseinandersetzen, die bisher geglaubt haben, daß man Stabilität am ehesten dadurch erreicht, das sich möglichst wenig ändert. Ich wiederhole: Stabilität ohne Wandel, das ist in der Sowjetunion und in Osteuropa nicht mehr möglich.
    Größere Leistungsbereitschaft wird von den Menschen nur zu erwarten sein, wenn ihre individuellen Rechte besser geachtet werden, wenn es zu einem echten Dialog und zur Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte kommt. Wo der Westen dabei auf die Öffnung der osteuropäischen Gesellschaften hinwirken kann, sollte er dies tun; doch das kann man nicht allein durch Reden, daß muß man durch Taten tun. In diesem Zusammenhang ist das Angebot des Bundeskanzlers zu sehen, in den nächsten drei Jahren tausend junge Sowjets in unserem Land auszubilden. Ich meine, eine derart von jedem einzelnen erlebte Entspannung trägt nicht nur zur Vertrauensbildung bei, denn hier wird Ermutigung zur Eigenverantwortung, zur Eigeninitiative, zu selbständigem Denken und Handeln als Folge solcher Begegnungen und solcher Ausbildungen geschaffen. Insofern glaube ich, daß auch dies Schritte zur Förderung der Modernisierung der Gesellschaften hin zu offeneren Strukturen sind.



    Rühe
    Wenn jetzt Stimmen vor einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion warnen und gefragt wird, ob westliche Kredite der Sowjetunion wirtschaftliche Verbesserungen bei gleichbleibend hoher Rüstung ermöglichen würden, also Kanonen und Butter statt mehr Butter für weniger Kanonen
    — manche leisten sich sogar die Geschmacklosigkeit, zu diskutieren, ob wir ein Interesse an mageren oder an fetten Russen hätten —, dann muß ich mit aller Klarheit festhalten, daß durch die Form der Zusammenarbeit , die wir mit der Sowjetunion pflegen wollen, der Reformdruck von Gorbatschow nicht genommen werden soll und auch nicht genommen werden kann. Wenn er sein Land modernisieren will, so muß das bedeuten, daß in Zukunft weniger Geld als bisher
    — 14 % des Bruttosozialprodukts — für Waffen ausgegeben werden kann. Diese Entscheidung über eine Umverlagerung der Ressourcen, dieser Reformdruck muß und wird bleiben. Er kann dem sowjetischen Generalsekretär nicht erspart werden; unsere Politik erspart ihm diese Entscheidung auch nicht. Die jetzt gewährten Kredite entheben die Sowjets keineswegs von tiefgreifenden Wirtschaftsreformen.
    Ich meine aber auch, daß der Westen ein sicherheitspolitisches Interesse daran hat, daß sich die Sowjetunion wirtschaftlich und damit auch politisch modernisiert. Sie ist im Grunde genommen bis heute eine eindimensionale Weltmacht: nur militärisch stark. Im Grunde genommen ist ein wichtiger Grund dafür, daß es auch weiterhin so schwer ist und in der Vergangenheit fast unmöglich war, mit der Sowjetunion zu Abrüstungsvereinbarungen zu kommen, daß die militärische Stärke ihre einzige Stärke ist, während der Westen im Verhältnis zur Sowjetunion heute ökonomisch und, wie ich glaube, auch ideologisch stark ist. Von daher macht es Sinn, wenn die Sowjetunion auch andere Stärken entwickelt als nur die militärische Stärke. Ich glaube, daß sie dann ein besserer Partner sein kann, solange diese nicht zusätzlich zu der militärischen Überstärke entwickelt werden, die in der Sowjetunion bis zum heutigen Tage anhält.
    Gerade in den Fragen der Verteidigungs- und Abrüstungspolitik sollten wir uns allerdings auch in Zukunft weiter von absolutem Realismus leiten lassen und weder die Veränderungen und Verbesserungen herunterspielen, die es gegeben hat, noch die weiter bestehenden Probleme verschweigen.
    Ich meine, daß der Westen gut beraten ist, in dem für uns entscheidenden Feld der konventionellen Abrüstung endlich Vorschläge zu machen, so wie es auch Franz Josef Strauß immer wieder gefordert hat, die es Moskau schwermachen, sie abzulehnen. Das müssen Vorschläge sein, die auch die Opfer und Einschnitte auf unserer eigenen Seite deutlich machen.

    (Erler [SPD]: Hätte man doch jetzt machen können!)

    Ich meine, daß Chancen bestehen, gerade auch mit der neuen politischen Führung in den Vereinigten Staaten. Wir sollten von unserer Seite aus einen Beitrag dazu leisten, ein Konzept zu entwickeln, hinter dem unsere Bevölkerung voll steht und das so überzeugend ist, daß es nicht einfach vom Tisch gewischt
    werden kann, wenn es um die schicksalhafte Frage der konventonellen Abrüstung in Europa geht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Denn es geht ja nur vordergründig um Panzer; im Kern geht es um das zukünftige politische Gesicht Gesamteuropas.
    Verteidigungsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft gehören zusammen. Sie ergänzen sich, solange sich so unterschiedliche Systeme wie in Europa gegenüberstehen. Das ist unsere Politik. Verteidigungsfähigkeit ohne Verständigungsbereitschaft, das würde niemals aus der Sackgasse einer waffenstarrenden Welt herausführen. Das ist nicht unsere Politik. Verständigungsbereitschaft ohne Verteidigungsfähigkeit, das könnte zu weniger Sicherheit und weniger Freiheit für viele Europäer führen. Auch das ist nicht unsere Politik. Deshalb sage ich, daß die Bundeswehr auch und gerade in der Entwicklung der nächsten Jahre von großer Bedeutung für eine gute Entwicklung in Europa sein wird.
    Lassen Sie mich noch einige wenige Bemerkungen zur Situation der Deutschen in der Sowjetunion machen. Wir haben mit denen gesprochen, die dableiben wollen, und auch mit einer Gruppe von Aussiedlern. Das waren jeweils sehr intensive und bewegende Gespräche. Dabei ist sehr deutlich geworden, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen der Gewährung von Autonomie für die Deutschen in der Sowjetunion und der Ausreisefrage gibt, also der weiteren Entwicklung des stark angeschwollenen Aussiedlerstroms aus der Sowjetunion.
    Die Deutschen in der Sowjetunion wollen Gleichberechtigung mit anderen Nationalitäten. Ihnen ist während des Zweiten Weltkriegs von der sowjetischen Seite Unrecht geschehen. Es ist gut, daß in jüngster Zeit sowjetische Stimmen dieses anerkannt haben.
    Die Deutschen in der Sowjetunion wollen und können, wie ich glaube, auch eine Brücke zwischen beiden Völkern sein. Es liegt jedenfalls auch in unserem Interesse, wenn die deutsche Kultur in der Sowjetunion lebendig bleibt.
    Die Sprecher der Deutschen haben uns sehr deutlich gemacht, daß das, was Familienzusammenführung in der Bundesrepublik bedeutet, in der Sowjetunion sehr häufig und für viele Menschen Trennung von Familien, Trennung von Freundschaften, Brüche in Dorfgemeinschaften ist und daß sich insofern die Freude derjenigen, die das Land endlich verlassen können, mit der Trauer über den Abbruch vieler Beziehungen, Freundschaften und sehr enger Bindungen mischt.
    Sie haben hinzugefügt, daß sich dann, wenn sich die Verhältnisse nicht grundlegend verbessern im Sinne der Autonomie, der Pflege der eigenen Kultur in Schulen, Zeitungen, Theatern und Bibliotheken, der Ausreisewunsch weiter steigern wird und damit allerdings die Lage der verbleibenden Deutschen in der Sowjetunion immer schwieriger werden wird.
    Sie haben gesagt — ich möchte, weil mich das besonders beeindruckt hat, das hier wörtlich zitieren, was einer der Sprecher dieser Deutschen uns gesagt hat —:



    Rühe
    Wir verstehen diejenigen, die die Sowjetunion unter den jetzigen Bedingungen verlassen. Wir bedauern es, wenn jemand von diesen Deutschen die Sowjetunion verläßt. Aber wir beneiden Sie um diese Landsleute, die in die Bundesrepublik Deutschland kommen.
    Ich muß Ihnen sagen, daß uns ein solcher Satz beschämen sollte angesichts mancher Diskussionsbeiträge — ob an Stammtischen oder in hohen politischen Ämtern —, die es gegeben hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich muß Ihnen sagen, daß ich, nachdem ich diesen Satz gehört habe, an meine Heimatstadt Hamburg gedacht habe, wo wir deutsche Familien mit kleinen Kindern aus der Sowjetunion und Polen auf der Reeperbahn in einem ehemaligen Eros-Center unterbringen. Ich frage mich wirklich, ob wir unserer Verantwortung in dieser Situation immer voll gerecht werden. Ich meine, daß von allen Seiten des Hauses verstärkt Beiträge zu leisten sind, damit wir uns dieser historischen Situation und vor allen Dingen auch der Menschen würdig erweisen, die hierherkommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Alle Deutschen, die sich aber unter den jetzigen Bedingungen entschließen, zu uns zu kommen, sollten wissen, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland willkommen sind. Wir sollten ihnen helfen. Wir sollten im übrigen aber — das deckt sich mit dem, was Herr Vogel gesagt hat — verstärkte Anstrengungen unternehmen, um gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen in der Sowjetunion die Lage der Deutschen in der Sowjetunion grundlegend zu verbessern. Das liegt im Interesse beider Staaten.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie der SPD)

    Bei allen Gesprächen in Moskau haben wir deutlich gemacht, daß mehr Offenheit unverzichtbar für mehr Sicherheit in Europa ist. Das gilt im engeren sicherheitspolitischen Bereich durch die Verifikation, also die Überprüfung, vor Ort. Das gilt für eine größere ökonomische Offenheit der Sowjetunion im Inneren und nach außen. Das gilt schließlich für die Offenheit für Ideen und Menschen, für die Menschenrechte.
    In diesem Zusammenhang wird im Westen die Frage der Menschenrechtskonferenz in Moskau kritisch und kontrovers debattiert. Ich meine, daß wir offen sein sollten für eine solche Konferenz, wenn sie denselben Standard einhält, der auf den Konferenzen in Paris und Kopenhagen geschaffen werden soll, und wenn bestimmte andere Voraussetzungen, wie z. B. die Freilassung aller politischen Gefangenen, erfüllt sind.
    Aber es muß auch klar sein, daß das Recht, frei zu sprechen und zu schreiben, und das Recht, frei zu reisen und auszuwandern, zu den grundlegenden Menschenrechten gehören, daß sie kein Geschenk eines Staates oder einer Staats- und Parteiführung an Menschen sind. Diese Rechte können nicht zugeteilt werden, mal weniger und — wie jetzt erfreulicherweise — mal mehr. Sie gehören nicht den Staats- und Parteiführungen, sondern sie gehören den Menschen als
    Grundrechte. Insofern müssen diese Rechte, wenn der Weg konsequent weitergegangen werden soll, in Form von Rechtsansprüchen für die Menschen auch im real existierenden Sozialismus irreversibel gemacht werden.

    (Zustimmung bei der FDP)

    Ich glaube, daß eine Menschenrechtskonferenz in Moskau die richtige Gelegenheit bieten kann, im Grundsatz über unser Verständnis von Menschenrechten zu sprechen.
    Ich möchte am Ende den Bundeskanzler und auch die Bundesregierung ermuntern, auf dem beschrittenen Wege so fortzufahren, wie es der Bundeskanzler hier heute gesagt hat, nicht kleingläubig, aber auch nicht blauäugig — wie manche meinten bemerken zu müssen —, sondern solide und Schritt für Schritt, nüchtern, aber erkennbar positiv.
    Vielen Dank.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Otto Schily


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie werden verstehen, daß ich nach dem heutigen beschämenden Vormittag nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Ich glaube, es besteht Anlaß für uns alle, einmal in einer besonderen Sitzung den gesamten Themenkreis, der Gegenstand des heutigen Vormittags war, ohne übertrumpfende Selbstgerechtigkeit in diesem Hause zu behandeln. Dazu möchte ich aufrufen. Ich möchte den Herrn Bundestagspräsidenten bitten, rasch zu einer Selbstprüfung zu gelangen, ob er seinem Amt wirklich gewachsen ist.
    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand bestreitet, daß es der europäischen Entwicklung im Sinne einer friedlichen Zielsetzung von Nutzen ist, wenn auch die Bundesregierung und die sowjetische Führung wieder ins Gespräch kommen. Wenn der Bundeskanzler die Tatsache, daß es in Moskau nach längerer Pause Verhandlungen zwischen der sowjetischen Führung und der Bundesregierung gab, als Erfolg sieht, sei es ihm gegönnt, obwohl es vielleicht doch etwas zu großspurig war, daß er in der Öffentlichkeit die Freilassung politischer Gefangener als Ergebnis seiner besonderen Bemühungen dargestellt hat.
    Es besteht, denke ich, eine weitgehende grundsätzliche Übereinstimmung, daß der deutsch-sowjetische Dialog in Gang kommen muß, nicht zuletzt angesichts der weitreichenden Veränderungen in der Sowjetunion. Ehe sich aber die Bundesregierung voreilig als Wegbereiter einer neuen Ostpolitik feiert — ich wiederhole an dieser Stelle ganz bewußt einen Hinweis von Herrn Vogel — , wäre es nicht unangebracht, wenn der Bundeskanzler seinen Dank dafür zum Ausdruck brächte, daß für ihn die Fahrkarte nach Moskau von Willy Brandt gebucht worden ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)




    Schily
    Es hieß — der Bundeskanzler ist nicht mehr da —,

    (Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Ich habe es Ihnen doch gesagt, warum! Er kommt wieder!)

    daß der Bundeskanzler mit großen Erwartungen nach Moskau gefahren sei. Heute zieht er eine positive Bilanz. Aber er wird uns doch noch einiges erklären müssen. In den Zeitungen war zu lesen, daß sich der Bundeskanzler in den Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow auf die übliche Seifenblasenspielerei mit Wiedervereinigungsillusionen eingelassen hat. Sehr glanzvoll war dieser Auftritt wohl nicht. Gewiß, einer bestimmten politischen Klientel in der Bundesrepublik mag es gefallen haben, daß der Bundeskanzler wacker die Wiederherstellung des Deutschen Reiches eingeklagt hat.
    Ich frage mich nun aber eines: Wovon hat der Bundeskanzler in seinem Hotelbett in Moskau geträumt?

    (Rühe [CDU/CSU]: Er war nicht im Hotel, er war im Gästehaus! Da fängt es mit den Fehlern schon an!)

    — Ich war ja nicht dabei, Herr Rühe ; Sie können es mir dann genauer erläutern. — Wie immer man es bewerten mag, als Wunschtraum oder als Alptraum: Wie hat der Bundeskanzler den Traum überstanden? Vielleicht ist ihm Michail Gorbatschow im Traum erschienen und erklärte: Gut, Gospodin Kohl, warum nicht, versuchen wir es mit der Wiedervereinigung. Aber was bieten Sie dafür? Den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO, die Neutralisierung der beiden deutschen Staaten, die Aufgabe der EG-Mitgliedschaft der Bundesrepublik?
    Und was hat dann der Bundeskanzler im Traum geantwortet?

    (Dr. Vogel [SPD]: Um Gottes willen!)

    Oder ist der Bundeskanzler eventuell mit Schweißperlen auf der Stirn aufgewacht, nachdem ihm Freund François Mitterrand mit drohendem Zeigefinger erschienen ist?

    (Rühe [CDU/CSU]: Der hat von Ihnen geträumt!)

    Bei Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik als unwiderruflich und als Kern der deutschen Staatsräson überhöht. Wie geht das zusammen, NATO-Mitgliedschaft und Wiedervereinigung?
    Die Diskussion in seiner eigenen Partei hat den Bundeskanzler längst eingeholt. Die Äußerungen von Heiner Geißler, Norbert Blüm und Lamers einerseits sowie Heinrich Lummer und Todenhöfer andererseits beweisen, daß die krassen Widersprüche in Ihren politischen Aussagen nicht länger ignoriert werden können. Die furchtsame Abstinenz, mit der sich der Bundeskanzler aus der Diskussion heraushalten will, wird ihm auf Dauer nicht weiterhelfen. Es besteht dringender Klärungsbedarf. Einige in Ihren Reihen, Herr Bundeskanzler, haben längst erkannt, daß das krampfhafte Festhalten an der Wiedervereinigungsillusion nichts anderes als der alte überlebte Nationalstaatsgedanke ist und daß es ein Zurück zu den Grenzen von 19xy nicht geben kann.
    Da gibt es Arbeit für den Bundeskanzler. Sie müssen Ihr Programm entrümpeln, auch wenn es schmerzt.
    Noch ein zweiter Widerspruch ist zu benennen, mit dem sich der Bundeskanzler in der Ostpolitik in eine Sackgasse manövrieren könnte. Sie waren bekanntlich mit großem Gefolge in Moskau, darunter die Minister Genscher und Scholz.

    (Frau Beer [GRÜNE]: Ja, wo ist der eigentlich, der Scholz?)

    Vielleicht sollte ich mich hüten, Herrn Genscher zum Gefolge des Bundeskanzlers zu zählen, aber das brauchen wir nicht zu vertiefen.

    (Rühe [CDU/CSU]: Er hat sich da wohlgefühlt!)

    Jedenfalls haben die beiden Herren dafür gesorgt, daß der Bundeskanzler gewissermaßen wie Buridans Esel zwischen zwei gleich großen Heuhaufen stand. Herr Genscher bietet ihm die Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses, die dritte Null-Lösung vielleicht, während Herr Scholz — ein Novize unter den Verteidigungsministern — mit der Nuklearen Planungsgruppe der NATO stramm auf eine neue Nachrüstung zumarschiert, was der Öffentlichkeit nach der gewohnten Methode als Modernisierung untergejubelt werden soll. Von dem Bundeskanzler, der dazu ausersehen ist, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, haben wir dazu bisher kein klares Wort gehört.

    (Frau Berger [Berlin] [CDU/CSU]: Billiger geht es wirklich nicht!)

    Gelegenheit wird dazu spätestens im kommenden Jahr sein, wenn Michail Gorbatschow zu einem Gegenbesuch noch Bonn kommt.
    Wir hoffen, daß zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik in der Tat eine „systemöffnende Kooperation" zustande kommt, wie es Bundespräsident Richard von Weizsäcker zutreffend gekennzeichnet hat. Wenn die Bundesregierung dazu beiträgt, werden wir sie dabei unterstützen. Jedoch werden wir Sie selbstverständlich fragen und fragen Sie bereits heute: Was ist die Grundlage und was ist die Substanz der Zusammenarbeit mit Osteuropa nach Ihren Vorstellungen?
    Eine Kooperation, die darin besteht, daß Sie mit dem Hochtemperaturreaktor sicherheitstechnisch gefährliche, energiepolitisch nicht verantwortbare und in der Bundesrepublik politisch nicht mehr durchsetzbare Atomtechnik in die Sowjetunion verkaufen, lehnen wir rundweg ab.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir meinen auch, daß die Prioritäten in der Zusammenarbeit richtig gesetzt werden müssen. Weltraumforschung mag interessant sein. Vielen mag es imponieren, daß nun ein bundesdeutscher Raumfahrer zu einem Ausflug in einer sowjetischen Rakete eingeladen worden ist. Aber Sie hätten mit viel mehr Beifall von uns rechnen können, wenn es Ihnen gelungen wäre, die Sowjetunion davon zu überzeugen, künftig



    Schily
    keine Atomreaktoren in den Weltraum zu verfrachten.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Wichtiger ist im übrigen und verdient bei weitem den Vorrang, daß die Zusammenarbeit in der Umweltpolitik in einem sehr umfassenden Rahmen intensiviert und beschleunigt wird, daß der ökologische Umbau der europäischen Industrien gemeinsam in Angriff genommen, der Abrüstungsprozeß entschlossen fortgesetzt und eine gemeinsame solidarische Politik gegenüber den Dritte-Welt-Ländern entwickelt wird. Wir fordern eine gesamteuropäische Umweltcharta. Wir fordern europaweite Sofortmaßnahmen zum Schutz der Ozonschicht. Wir fordern ein gesamteuropäisches Bodenschutzprogramm, ein Programm der Reinhaltung der Luft und ein gesamteuropäisches Gewässerschutzprogramm.
    Zusammenarbeit mit dem europäischen Osten muß in einer gemeinsamen europäischen Perspektive konzipiert werden. Die Vision eines gemeinsamen Europäischen Hauses nehmen wir als Herausforderung an. Niemand hat bisher Detailpläne für die Architektur dieses gemeinsamen Europäischen Hauses vorlegen können. Jedoch lassen sich aus grüner Sicht jedenfalls die Grundelemente für die künftige Struktur Europas benennen:
    Erstens. Nach unserer Überzeugung kann es nur um einen gesamteuropäischen Entwurf gehen. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein zweigeteiltes Europa würde neue Spannungen hervorrufen und den Ost-West-Gegensatz unweigerlich wieder verschärfen.
    Zweitens. Ein friedfertiges, kooperatives und seinen humanistischen Traditionen verpflichtetes Europa muß sich seiner globalen Verantwortung stellen und seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in der Nord-Süd-Achse neu bestimmen, im Sinne von mehr Gleichberechtigung und Respektierung eigener Entwicklungswege in den Ländern der Dritten Welt. Zu der neu zu definierenden globalen Verantwortung Europas gehört zugleich, alle technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen zusammenzufassen und zu nutzen, um die gegenwärtige industrielle Produktionsweise mit ihren gigantischen ökologischen und sozialen Schadensfolgen grundlegend zu verändern.
    Drittens. Wir wollen kein kulturell nivelliertes und homogenisiertes Europa, übrigens auch keine homogenisierte Bundesrepublik. Wir wollen auch kein Europa mit zentralen Machtinstanzen, die demokratisch nicht mehr kontrolliert werden können. Und wir wollen kein Europa, das sich den Direktiven wirtschaftlicher Machtgruppierungen unterwerfen muß. Deshalb muß die regionale Struktur Europas erhalten bleiben und ausgebaut werden. Der kulturelle Reichtum des Europas der vielen Gesichter und Charaktere, der Mannigfaltigkeit, darf nicht verlorengehen. Kulturelle Zusammenhänge müssen sich über Staatsgrenzen hinweg ausbilden, aber zugleich gegenüber überstaatlichen Instanzen behaupten können. Aus Europa wird dann ein vielfältiges Geflecht unterschiedlicher gesellschaftlicher Beziehungen entstehen. Eine regionale und funktionale Autonomie ist dafür die Voraussetzung. Nach unserem Verständnis kann Europa durch Aufhebung der Grenzen zu einer stärkeren Zusammenarbeit gelangen und zugleich eine regionale und funktionale Differenzierung und Dezentralisierung fördern.
    Viertens. Wir wollen ein ziviles, entmilitarisiertes Europa, das nicht an Rüstungsexporten verdient und das durch friedliche Austragung von Konflikten beispielgebend wirkt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Mit den sowjetischen Reformen eröffnet sich eine neue historische Dimension für die europäische Zukunft. Dennoch soll vor blinder Euphorie gewarnt werden. Wer in dem alten Machtkalkül denkt und auf einen schnellen, trügerischen Machtzugewinn aus ist, geht in die Irre. Aber Vorsicht kann auch nicht schaden; denn niemand kann sich wünschen, eine Abhängigkeit gegen eine andere einzutauschen. Die Entwicklung in der Sowjetunion und im europäischen Osten insgesamt vollzieht sich in einer atemberaubenden Dynamik, von der niemand sicher vorauszusagen weiß, zu welchen Konstellationen sie führen wird. Eines aber ist gewiß: An Schwierigkeiten und Risiken wird es nicht fehlen.
    Die bundesrepublikanische Außenpolitik muß sich darauf einstellen, wie sie sich gegenüber dem Prozeß einer Differenzierung und Metamorphose im Sinne von mehr Pluralismus in der bisher monolithischen Sowjetunion verhalten will. Eine Festung Westeuropa, die militärisch, wirtschaftlich und politisch als neue Supermacht debütieren will, womöglich mit einem kräftigen deutschen Übergewicht, verbaut den Weg in eine friedliche gemeinsame Zukunft Europas und würde den Prozeß der Differenzierung und Lokkerung in der Sowjetunion verhindern.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Umgekehrt, wenn die sowjetische Führung aus machtpolitischen Gesichtspunkten die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Verbündeten als Festung erhalten will, könnte das nicht den Grundriß für ein europäisches Haus bilden, weil die Statik aus dem Gleichgewicht geriete. Dann wird es unverzichtbar sein, daß die politische Anwesenheit der USA und Kanadas in Europa zum Austarieren der Machtgewichte gesichert bleibt. Auch das ist ein denkbarer Entwurf Europas, daß die Mächte mit dem Doppelgesicht, einerseits die USA und Kanada mit ihrer europäischen und pazifischen Orientierung und andererseits die Sowjetunion mit ihrer europäischen und asiatischen Perspektive, an der europäischen Kooperative und Friedensstruktur beteiligt bleiben.
    Die künftige europäische Architektur muß sich nach den Interessen der europäischen Völker richten. Sie sind die wahren Bauherren. Wir wollen und die europäischen Völker wollen eine gesamteuropäische Kooperative, kulturelle Vielfalt, die Zurücknahme staatlicher Machtansprüche, reduzierte Rüstung und die uneingeschränkte Durchsetzung der Menschenrechte. Der Wille der europäischen Völker wird sich aber nur in einer europaweiten pluralistischen Demokratie verwirklichen lassen.



    Schily
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)