Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich ziehe da keine Wechsel auf die Zukunft; ich werde es sorgfältig verfolgen.
Es war richtig, daß sich der Herr Bundeskanzler für diejenigen eingesetzt hat, die nach reiflicher Überlegung zu uns in die Bundesrepublik ausreisen wollen, aber damit allein ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr, daß hier alles zur Eingliederung dieser Menschen Erforderliche getan wird. Herr Bundeskanzler, das können Sie gerade bei dem persönlichen Engagement, das Sie diesen Menschen gegenüber zeigen, nicht den Ländern und den Gemeinden aufbürden.
Hier sind Sie genauso gefordert wie bei der Begrüßung dieser Menschen. Hier muß sich der Bund in viel stärkerem Maße engagieren. Vor allem müssen die Wohnungsbauprogramme erweitert, vom Bund höher finanziert und dann auch für diejenigen geöffnet werden, die hier schon lange auf eine Wohnung warten.
Wir tun den Aussiedlern einen Bärendienst, wenn wir zwischen Menschen eine Spannung weiter eskalieren lassen, die hier schon seit Jahr und Tag auf Wohnungen warten und es zudem noch mit steigenden Mieten zu tun haben, und anderen, die gerade eingetroffen sind und an der langen Schlange vorbeiziehen. Integration bedeutet: gemeinsame Programme und die Menschen dann auch gemeinsam unterbringen.
Das eigentliche Defizit Ihrer Reise sehen wir jedoch an anderer Stelle. Wir sehen es darin, daß es in den politisch-substantiellen Fragen kein — ich füge hoffend hinzu: noch kein — erkennbares Ergebnis gegeben hat.
Zu diesen substantiellen Themen gehören für uns der Fortgang des Abrüstungsprozesses und die damit eng verbundene Frage nach der konkreten Ausgestaltung des gemeinsamen europäischen Hauses, also nach der europäischen Friedensordnung. Sie haben in diesen beiden Fragen auch in Ihrer heutigen Erklärung kein deutliches Profil erkennen lassen. Das wäre aber ebenso notwendig wie möglich gewesen.
In voller Loyalität zum Bündnis hätte deutlich werden können, daß Sie den dreigestuften Vorschlag Gorbatschows und des Warschauer Vertrages — Abbau der Asymmetrien, drastische Reduzierung und dann Herstellung der strukturellen Angriffsunfähigkeit beider Seiten — für vernünftig halten, daß wir die baldige Aufnahme von Verhandlungen auch über die Reduzierung und Beseitigung atomarer Gefechtsfeld- und Kurzstreckenwaffen für notwendig halten, daß wir gegen kompensatorische Rüstungen sind, weil Sie den mit dem INF-Abkommen begonnenen Prozeß nuklearer Abrüstung konterkarieren würden.
Zum Thema Europa müssen wir gerade in der Phase, in der die Gemeinschaft jetzt mit der Verwirklichung des Binnenmarktes Ernst macht, konkret werden. Wir haben dazu Anfang dieser Woche auf der
Konferenz aller Vorsitzenden der sozialdemokratischen und der sozialistischen Parteien der Mitgliedstaaten der EG und der EFTA in Berlin unseren Beitrag geleistet. Wir haben in der gemeinsamen Abschlußerklärung gesagt, daß der Binnenmarkt nicht zu einer neuen Teilung Europas, sondern zu einer verstärkten Zusammenarbeit nicht nur mit den EFTA-Staaten, sondern auch mit der Sowjetunion und den übrigen Mitgliedern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe führen soll. Es war uns wichtig, daß diese Botschaft gerade von Berlin ausging. Denn diese Art der europäischen Entwicklung bietet für Berlin die Chance, allmählich aus einer Randlage in die Funktion eines Scharniers zwischen den verschiedenen Teilregionen Europas hineinzuwachsen. Das ist eine sinnvolle Aufgabe für Berlin.
Diese Defizite in der Substanz werden hoffentlich bei dem Gegenbesuch Gorbatschows im Frühjahr 1989 abgebaut werden können. Die für diesen Zeitpunkt geplante deutsch-sowjetische Erklärung wird zur politischen Substanz vordringen müssen. Die Zeit bis dahin sollte genutzt werden. Sie sollte auch in der Frage der Modernisierung genutzt werden. Das heißt, bezüglich der Stationierung neuer Kurzstreckensysteme größerer Reichweite endlich Klarheit zu schaffen. Mit dem Jein, Herr Bundeskanzler, mit dem Sie bislang zwischen dem Nein des Herrn Genscher — zuletzt in einem drei Tage alten Interview erneut bekräftigt — und dem Ja des Herrn Scholz, seit Monaten, auch in der NATO, lavieren, dienen Sie deutschen und europäischen Interessen nicht. Sie werden, wenn Sie in der kommenden Woche in Washington sein werden, Argumente hören, mit denen auf eine deutsche Zustimmung zu neuen Stationierungen gedrängt wird. Ich ersuche Sie dringend, auch im Interesse klarer Verhältnisse zwischen unseren Verbündeten und uns und auch aus Respekt vor unseren Verbündeten, hier nicht länger zu lavieren, sondern dem ein deutliches Nein entgegenzusetzen.
Mit uns ist jedenfalls keine Politik zu machen, die den Abrüstungsprozeß schwer belastet, wenn nicht sogar zum Stehen bringen wird.
Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Besuch, über den Sie heute berichtet haben, war nützlich. Zur weiteren Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion bleibt noch viel zu tun. Wir Sozialdemokraten werden uns auf diesem unserem ureigensten Felde auch weiterhin mit großem Ernst im Sinne eines friedlichen Wettbewerbs der Systeme, im Sinne der individuellen und der sozialen Menschenrechte, im Sinne des Friedens in Europa und in der Welt und vor allem auch im Sinne einer Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion und den Menschen, die dort leben, engagieren.