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ID1109114900

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    Plenarprotokoll 11/91 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 91. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung) : a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung) : Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Roth SPD 6209 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 6214 C Sellin GRÜNE 6217D Dr. Graf Lambsdorff FDP 6219C Frau Dr. Martiny-Glotz SPD 6224 B Rossmanith CDU/CSU 6227 A Schäfer (Offenburg) SPD 6229 A Schmidbauer CDU/CSU 6232 D Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . 6235 C Baum FDP 6238 B Lennartz SPD 6241 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 6243 C Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 6245 C Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI . 6254 C Dr. Penner SPD 6256 C Frau Seiler-Albring FDP 6262 C Frau Olms GRÜNE 6263 D Dr. Laufs CDU/CSU 6265 D Dr. Hirsch FDP 6268 D Wüppesahl fraktionslos 6270 D Gerster (Mainz) CDU/CSU 6273 A Engelhard, Bundesminister BMJ 6276 A Dreßler SPD 6276 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 6280 B Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 6282 A Frau Hasselfeldt CDU/CSU 6284 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 6287 D Heyenn SPD 6293 A Tagesordnungspunkt 2: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Mariental-Horst bei Helmstedt (Drucksachen 11/2301, 11/2561) Roth (Gießen) CDU/CSU 6250 C Müntefering SPD 6251 B Zywietz FDP 6252 B Brauer GRÜNE 6252 D Dr. Voss, Parl. Staatssekretär BMF . . . 6253 C Nächste Sitzung 6295 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 6296* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 6209 91. Sitzung Bonn, den 8. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Gallus 8. 9. Gattermann 9. 9. Dr. Glotz 9. 9. Dr. Götz 9. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger* * 9. 9. Dr.-Ing. Kansy* * 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Frau Kelly 8. 9. Kiechle 9. 9. Klose 9. 9. Dr. Kreile 9. 9. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kroll-Schlüter 9. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)* * 9. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Poß 8. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Reuschenbach 9. 9. Schäfer (Mainz) 9. 9. Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 9. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. Wissmann 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich



    Bundesminister Dr. Blüm
    will der Versuchung widerstehen, auf die hundertste Wiederholung der gleichen Vorwürfe zum hunderterstenmal zu antworten.
    Ich möchte die Gelegenheit dieser Haushaltsdebatte nutzen, unsere Sozialpolitik im Zusammenhang darzustellen. „Wandel" , „Wende", „Reformen", das sind ja Lieblingsworte unserer Zeit. Aber was sie bezeichnen, ist nicht neu. Immer gab es Veränderungen, und mit manchen Veränderungen begann eine neue Epoche.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das stimmt!)

    Einschneidende Veränderungen waren immer Antworten auf große Herausforderungen. Das Bewußtsein, oft noch diffus, daß sich unsere Welt wieder einmal verändert, daß sie sich häutet, ist weit verbreitet.
    Schon beginnt der Streit über die Bezeichnung des neuen Abschnitts. Mit Worten und über Worte läßt sich ja bekanntlich trefflich streiten. Der Erfindungsreichtum der Terminologen hinkt allerdings der Bereitschaft zur realen Veränderung hinterher. Es ist leichter, Worte auszuwechseln, als Besitzstände aufzugeben, und seien es nur Gewohnheiten.
    Meine Damen und Herren, wir leiden nicht an einem Mangel an Reformvorschlägen. Wie im Feuerwerk tauchen täglich neue Ideen auf, die schon wenig später im Dunkel des Vergessens verschwinden. Wir haben es mit einem vagabundierenden Einfallsreichtum zu tun, dem die Unfähigkeit anhaftet, an einem Konzept festzumachen.
    Die Opposition kann sich den Luxus leisten, Politik mit der Summe von Einwänden zu verwechseln. Regierungen müssen entscheiden. Wir können nicht nur sagen, wogegen wir sind; wir müssen sagen, wofür wir sind; wir müssen handeln.
    Die Notwendigkeit der Gesundheitsreform beispielsweise wird von niemandem bestritten; ich kenne niemanden. Ich kenne aber tausend Einwände gegen unsere Vorschläge. Nur, ich sehe keine einzige geschlossene Alternative zu unserer Gesundheitsreform. Die zunehmende Diskussionswut ist nur eine andere Form von feiger Entscheidungsflucht.

    (Günther [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Der verdanken wir, daß diese Reform eher zu spät als zu früh kommt.
    Die Umstellung, die uns abverlangt wird, folgt der Einsicht. Sie folgt nicht der unmittelbaren elementaren Not. Entscheidungen unter vitaler Existenznot sind möglicherweise leichter. Umstellungen sind in Wohlstandsgesellschaften offenbar schwerer zu bewerkstelligen als in Armutsgesellschaften. Wir stellen nicht unter vitaler Existenznot um wie in früheren Zeiten, sondern unter der Last der Verantwortung für die Zukunft.
    Die Antworten auf die großen Katastrophen der Vergangenheit standen unter dem Zwang der augenblicklichen Rettung: Jetzt handeln. Dieses Gefühl der augenblicklichen Rettung ist in unserer Gesellschaft nicht verbreitet. Leidet — so frage ich — darunter unsere Fähigkeit zur Umstellung? Aber wir können uns ja keine Katastrophe wünschen, um wieder veränderungsfähig zu werden. Also muß die Vernunft ersetzen, was der Überlebenswille in der Vergangenheit, beispielsweise in der Nachkriegszeit, besorgte.
    Aber die Vernunft ist ein Waisenkind im Interessengerangel. Hier besteht die Gefahr, daß Lautstärke mit dem Gewicht der Argumentation verwechselt wird. Das Spektakel der Proteste und Demonstrationen ist unterhaltsam, aber es trägt die Züge einer Traumreise, die von der Härte der Realität nicht erfaßt ist. Wir haben es mit einer skandalierenden Emotionalität zu tun, die sich an wechselnden Aufregungen des Tages berauscht und den Blick für die großen Linien verliert. Wir werden von einer hektischen Flatterhaftigkeit geplagt, auch wir in der Politik, ohne den großen Atem fur Perspektive, Ausdauer und Durchblick zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb will ich versuchen, die großen Linien unserer Sozialpolitik kurz darzustellen.
    In der Kranken- und Rentenversicherungsreform kreuzen sich zwei Linien unseres Sozialstaates. Deshalb folgen beide Reformen ganz unterschiedlichen Richtungen.
    Während es in der Krankenversicherung darum geht, einen Grundstandard solidarisch abgesicherter Versorgung zu schaffen und so unsere Krankenversicherung vor kollektiver Überforderung und Verschwendung zu bewahren, geht es in der Rentenversicherung nicht um Grundstandard, Grundsicherung, sondern um ein Alterseinkommen, das dem Lohn entspricht, den sich der Versicherte ein Leben lang erarbeitet hat. Das sind ganz unterschiedliche Ansätze von Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsreform.
    Die soziale Krankenversicherung sichert die fundamentalen Gesundheitsrisiken ab. Sie ist nicht für jedweden denkbaren Gesundheitswunsch zuständig. Die Rentenversicherung folgt dem Lebenslohn. Während die Krankenversicherung das Notwendige garantiert, soll die Rentenversicherung den erarbeiteten Lebensstandard absichern.
    Die Krankenversicherung arbeitet vornehmlich nach dem Sachleistungsprinzip, die Rentenversicherung nach dem Geldleistungsprinzip. Das sind zwei ganz unterschiedliche Methoden.
    Die Reformen im Gesundheitswesen und in der Rentenversicherung sind unterschiedlicher Bauart. Ich nenne sie nochmals: solidarische Absicherung des Notwendigen in der Krankenversicherung, Leistungsgerechtigkeit für die Rentner in der Rentenversicherung.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Was ist das für ein Gerechtigkeitsprinzip?)

    — Die Leistungsgerechtigkeit ist eine geradezu emanzipative Gerechtigkeit, weil ein Anspruch auf eigener Leistung beruht und nicht von Dritten gewährt wird.
    Beide Reformen haben mit dem demographischen Wandel, dem veränderten Bevölkerungsaufbau, zu tun. Deshalb unsere Anstrengung, die Generationenbalance mit der Reform der Rentenversicherung zu



    Bundesminister Dr. Blüm
    wahren. Deshalb unser Bemühen, mit der Gesundheitsreform Antworten auf die Pflegeproblematik zu finden.
    Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind die beiden großen tragenden Sozialprinzipien. Sie dürfen sich nicht wechselseitig verdrängen, sondern müssen sich ergänzen. Dort, wo die Leistungsgerechtigkeit ein soziales Problem lösen kann — sie kann nicht alle sozialen Probleme lösen —, sollte sie nicht von der Barmherzigkeit verdrängt werden.
    Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt hat, dem sichert die Rentenversicherung einen entsprechenden Lebensstandard im Alter. Sie folgt dem Äquivalenzprinzip: Leistung für Gegenleistung.
    Die Krankenversicherung dagegen kann nicht diesem Leistungsprinzip folgen. Der hilfsbedürftige Kranke hat Anspruch auf unsere Hilfe ohne Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit. Die großen Gesundheitsrisiken, die über die Kraft des einzelnen gehen, müssen solidarisch gemeistert werden. Das Notwendige muß ohne jede Zuzahlung geleistet werden.
    Wir dürfen die Systeme und Prinzipien nicht durcheinanderwirbeln, so daß zu guter Letzt niemand mehr weiß, wem er wessen Anspruch verdankt und von wem was bezahlt wird. Die große Konfusion ist das Feld der Manipulateure. Deshalb muß die Durchschaubarkeit der Systeme verbessert werden.
    Die Sparzwänge — ich gebe es zu — helfen uns auf die Sprünge. Aber unsere Reformen sind nicht lediglich Antworten auf Geldfragen.
    Wollen wir — so frage ich — ein Gesundheitssystem — das hat mit Geld noch nichts zu tun —, das sich anmaßt, dem Menschen alle Probleme abzunehmen, eine wohltemperierte Gesellschaft, die alle Schwierigkeiten therapeutisiert,

    (Zuruf von der SPD: Ein Softi!)

    um uns in einer künstlichen Gleichgewichtslage zu wiegen? Abends gelbe Tabletten zur Beruhigung und morgens blaue Tabletten zur Vitalisierung?

    (Schreiner [SPD]: Und mittags den Blüm anhören!)

    Die Sparzwänge können eine hilfreiche Rückbesinnung dazu einleiten, daß nicht für jedes Problem ein anderer zuständig ist. Die Mitverantwortung beginnt mit der Selbstverantwortung, und die Selbstverantwortung schützt die Solidarität vor Überlastung.
    Arbeit verliert in der nachindustriellen Gesellschaft ihre alles, über Jahrhunderte beherrschende Dominanz. Aber sie ist deshalb nicht weniger lebenswichtig. Das Schlaraffenland gibt es auch in der postindustriellen Gesellschaft nicht. Das Schlaraffenland gehört der Märchenwelt an, die sich auch in Zukunft von der Realität unterscheidet. Es gibt auch in Zukunft keine menschenwürdige Gesellschaft ohne Arbeit und Anstrengung. Wir wollen sie auch nicht, weil sie eine glücklose Gesellschaft wäre, weil Glück auch die Erfahrung ist, mit Problemen fertig zu werden, sie überwunden zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, die in früheren Zeiten auf eine Handvoll Privilegierter beschränkt war, wird zur Massengefahr. So erscheint die Ausbeutung am Horizont der Zukunft anders als im 19. Jahrhundert: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr „Reiche" beuten „Arme" aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleißigen aus. Auch das ist Ausbeutung.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das war wirklich schwach!)

    — Wissen Sie, die Malocher, die, die sich 40 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, die bezahlen den Sozialstaat. Daß sie ihn bezahlen für die Hilfsbedürftigen, für die, die nicht arbeiten können, gehört zur Solidarität. Aber ich frage mich, ob alle, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, nicht können oder ob das nicht in einer nachindustriellen Gesellschaft eine schicke Art und Weise ist, die Dummen, die Fleißigen auszubeuten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Es ist unglaublich, was Sie sagen! — Bohl [CDU/ CSU]: Weiter so!)

    Gegen diese neue Schickeria, in welchem Gewand sie auch auftritt, müssen wir vorgehen. Deshalb muß unser Sozialsystem Widerstände gegen diese Ausbeutungsgefahr einbauen.
    Die Idee der Grundrente hat eine eingebaute Versuchung, Gott einen guten Mann und die Arbeitenden die Dummen sein zu lassen. 800 DM Grundrente — Sie haben sie ja heute auf 1 200 DM gesteigert —: dafür muß ein Durchschnittsverdiener 22 Jahre Beiträge zahlen, um durch Arbeit und Lohn diese Rente zu erwerben. Warum sollte er sich 22 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, wenn er 800 DM auch ohne Arbeit bekommen kann? Und will er gar für seine Frau in der Hinterbliebenenversorgung 800 DM erreichen, muß er 35 Jahre lang arbeiten. Ich frage mich, warum soll jemand überhaupt noch arbeiten, wenn er auch ohne Arbeit das gleiche erreichen kann?
    Ich berufe mich in der Verteidigung unserer leistungsbezogenen Rente auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zu Beginn unserer Legislaturperiode; ich zitiere:
    Die Bürger können darauf vertrauen, daß sie im Alter als Gegenleistung für die während ihres Arbeitslebens gezahlten Beiträge eine angemessene Rente erhalten.
    Das Wort ist gegeben. Wir wollen und werden dieses Wort halten.
    Das Rentenniveau darf auch nicht in die Nähe des Sozialhilfesatzes kommen, weil sich Arbeit sonst nicht mehr lohnt. Soziale Hilfen, aus welchen Gründen auch immer, wie auch Lohnersatz müssen immer etwas niedriger sein als der Lohn, weil sonst die Versuchung groß ist, mit Lohnersatz das Leben zu gestalten. Dann sind wir gezwungen, geradezu polizeistaatlich zu überwachen, ob jemand arbeiten kann oder nicht. Wir wollen diese schreckliche Version eines Überwa-



    Bundesminister Dr. Blüm
    chungsstaates nicht. Deshalb dürfen in das Sozialsystem keine Einladungen eingebaut sein, sich auf Kosten anderer zu bedienen.
    Es wäre auch eine besondere Pointe des historischen Augenblicks: Während Gorbatschow und die Seinen in ihr Sozialsystem verstärkt Leistungsregulatoren einbauen, würden wir im gleichen Augenblick, in dem unser System weltweit an Attraktion gewinnt, auf den Versorgungsstaat zumarschieren. Grundrente wäre sozusagen die Gegenrichtung zu einer leistungsbezogenen, auch in der Sowjetunion zunehmend an Attraktivität gewinnenden Organisation unserer Gesellschaft.
    Die Leistungsgerechtigkeit bleibt die Leitlinie der Rentenversicherung. Aber wir beschränken sie nicht eng auf die Erwerbsleistung.
    Kindererziehung ist für die Rentenversicherung eine Überlebensleistung; denn ohne Kinder heute gibt es keine Beitragszahler morgen. Deshalb haben wir Kindererziehungszeiten in das Rentenrecht eingeführt. — Herr Kollege, waren das auch Kürzungen? Sie haben doch gesagt, ich hätte nur gekürzt. — Heute beziehen 1,8 Millionen Mütter eine Rente, in der Kindererziehungszeiten enthalten sind. Besonders wichtig ist: 200 000 beziehen eine Rente, die nur auf Kindererziehungszeiten beruht.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Und leben davon? Wieviel ist das denn?)

    In wenigen Wochen, am 1. Oktober, werden etwa eine Million Mütter, die den Geburtsjahrgängen 1907 bis 1911 angehören, ihre Kindererziehungsleistungen von 28 DM monatlich für jedes Kind erhalten. Im Durchschnitt werden diese Mütter etwa 70 DM monatlich bekommen. Bis 1990 werden die noch fehlenden Jahrgänge in den Bezug der Kindererziehungszeiten kommen. Dann werden sechs Millionen Mütter nach hundert Jahren Rentenversicherung ihre Erziehungsleistungen, ihre Erziehungsarbeit zum erstenmal in der Rentenversicherung anerkannt erhalten haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gesundheits- und Rentenreform finden in einem gegensätzlich politischen Umfeld statt. Während in der Gesundheitsreform — darüber ist gesprochen worden — der Konflikt vorherrscht, sind in der Rentenreform die Chancen — ich sage Chancen, nicht mehr — für einen Konsens gut. So könnten beide Reformen auch den Anschauungsunterricht für eine politische Kultur abgeben, in der Konflikt und Konsens zu Hause sind und wir zu beidem fähig sind. Es würde unsere Konflikte entdramatisieren, wenn wir mit der gleichen Opposition, mit der wir in Sachen Gesundheitsreform in harten Auseinandersetzungen stehen, in der Rentenversicherung Konsens schaffen würden. Denn auf beides ist die Demokratie angewiesen: auf die Fähigkeit zur harten Konfrontation, zum Konflikt, wie auf die Fähigkeit zur Kooperation. Es muß die Sache entscheiden, welcher Weg genommen wird, und nicht die parteipolitische Scheuklappe unsere Richtung bestimmen. Wenn die Teilnehmer des demokratischen Spiels zwischen Konsens und Konflikt wechseln können, schützen Sie den Konsens vor der Verwechslung mit der Kumpanei und den Konflikt vor der Verwechslung mit der bornierten Aggression. Sind wir konfliktfähig, oder kuschen wir vor den Lobbyisten? Das ist die Testfrage der Widerstandsfähigkeit des Gemeinwohls, auf das wir verpflichtet sind. Die Diskussion um die Gesundheitsreform zeigt, daß es Verbandsfunktionäre gibt, denen keine Verdrehung zu schade und die Wahrheit nichts wert ist, wenn es um ihre Kasse geht.
    Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten jedweden Arzneimittelpreis zu zahlen. Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten Umsatzgarantien für alle Anbieter zu geben. Auch hier muß der Wettbewerb entscheiden. Bezahlt wird die Krankenversicherung nämlich von den Beitragen derjenigen, die arbeiten, und wir sparen nicht zum Selbstzweck. Wir sparen, um Freiräume für neue Notwendigkeiten zu schaffen.

    (Haack [Extertal] [SPD]: Stichwort: Pflege!)

    Die Hälfte dessen, was wir sparen, wollen wir der Pflege zugute kommen lassen. Wir haben ein Sozialsystem, wie es kaum ein zweites in der Welt gibt. Und wir werden alle Hände voll zu tun haben, es zu erhalten.
    Aber es gibt in diesem Sozialsystem noch weiße Flecken auf der Landkarte. Und einer ist die Lage der Pflegebedürftigen. Während wir jährlich 3 Milliarden DM für Medikamente ausgeben, die im Mülleimer verschwinden, während medizinische Apparate laufen, weil sie sich bezahlt machen müssen, während Taxis Versicherte zum Arzt fahren, obwohl die Straßenbahn nebenan fährt, werden Mütter mit schwerbehinderten Kindern alleingelassen. Hier wollen wir helfen. Wir sparen auf der einen Seite, um auf der anderen Seite helfen zu können. Das ist eine Sozialpolitik, die neue Prioritäten setzt. Und nichts ist wichtiger als der Mut zur Priorität. Man kann es nicht allen recht machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und die Testfrage, ob wir fähig sind, Besitzstände abzubauen, ist auch die Testfrage, der sich jeder Abgeordnete stellen muß. Es geht — meine Damen und Herren, wozu die ganze Aufregung? — um bescheidene 14 Milliarden DM aus dem großen, fast 130 Milliarden DM umfassenden Kuchen der Krankenversicherung. Diese 14 Milliarden DM, die wir jetzt unter großer Anstrengung gegen alle Widerstände sparen, sind so viel wie das Steigerungsvolumen von vier Jahren. Das ist nichts anderes, als was durch Beitragserhöhungen seit vier Jahren mehr eingenommen wurde. Hätten wir vor vier Jahren mit der Beitragssteigerung Schluß gemacht, brauchten wir jetzt diese 14 Milliarden DM nicht zu sparen. Wir nehmen also nur das Steigerungsvolumen von vier Jahren zurück — und welch ein Geschrei!
    2 Milliarden DM wollen wir im Arzneimittelbereich einsparen — 2 Milliarden, nicht mehr —, in dem großen Bereich der Arzneimittel, deren Hersteller ja schließlich nicht nur von der Krankenversicherung leben, sondern auch vom Export und von Arzneimitteln, die mit der Krankenversicherung gar nicht verrechnet werden. Die Arzneimittelpreise auf der Herstellerebene sind seit 1982, meine Damen und Herren,



    Bundesminister Dr. Blüm
    um 14,5 % gestiegen. Hätten sich die Hersteller der Arzneimittel seit 1982 auch nur auf dem Preisniveau der übrigen Industrie bewegt, nur die Preissteigerungen der übrigen Industrie gehabt, brauchten wir heute für Arzneimittel 1,8 Milliarden DM weniger auszugeben.
    Ich will mit diesem Beispiel nur die Proportionen zurechtrücken und die Rückfrage stellen, ob die Kampagne, die hier entfacht wird, als ginge es um den Zusammenbruch einer Industrie, den Anlaß rechtfertigt. Wir sparen nicht mehr, als durch einen Gleichklang in der Preisentwicklung zwischen Arzneimittelherstellern und den industriellen Herstellern erreicht worden wäre — und welch ein Geschrei!
    Wie nachgiebig das jetzige System unserer Krankenversicherung gegenüber Konsumwünschen ist — und Konsumwünsche sind nicht immer identisch mit Gesundheitsbedarf —, zeigt das, was unter dem Namen „Blüm-Bauch" in die Sozialgeschichte eingeht: die horrenden Ausgabensteigerungen aus dem ersten Halbjahr dieses Jahres. Wenn es in manchen Sektoren zu massiven Ausgabensteigerungen kam — Zahnersatz: +16,8 %, Hörhilfen: +22 % —, und zwar in einem halben Jahr, dann ist das doch der Beweis, daß das nicht einem gestiegenen Gesundheitsbedarf entspricht,

    (Bohl [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    sondern daß man offenbar nur abholen muß, daß das System überhaupt keine Widerstände hat. Denn hätte es Widerstände, dann müßte es sich doch gegen eine solche Springflut der Ausgaben wehren können. Es wird doch wohl niemand sagen, die Ausgaben für Hörhilfen seien um 22 % gestiegen, weil die Hörfähigkeit der Bevölkerung in einem halben Jahr um 22 abgenommen hat. Oder will das jemand behaupten? Das gleiche gilt für die Sehhilfen.

    (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ja, das muß man beim Namen nennen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Das zeigt, daß dieses System geradezu hilflos ist, daß es ausgebeutet werden kann.
    Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns von der schäumenden Agitation nicht beeindrucken lassen. Denn es gibt mehr Bürger mit Einsicht, als in den Festungen des Lobbyismus bekannt ist. Vor wenigen Tagen schrieb mir ein Hals-, Nasen-, Ohrenarzt aus Essen — ich erwähne das als Beispiel für viele andere Briefe —:
    Die 30 Essener Hals-, Nasen-, und Ohrenärzte haben es in ihrer Frühjahrssitzung abgelehnt, gegen den Plan, die Patienten an den Hörgerätekosten zu beteiligen, zu opponieren und Plakate auszuhängen. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß eine Beteiligung an den Hörgerätekosten, wenn sie 800 oder 900 DM überschreiten, richtig ist. Bekanntlich werden die Hörgeräte zur Zeit nach fünf Jahren schlagartig unbrauchbar (ab fünf Jahren genehmigen Krankenkassen ein neues), während Privatpatienten durchaus noch nach zehn Jahren mit ihrem Hörgerät zufrieden sind. In diesem Jahr wird der Hörgeräteverkauf sich verdoppeln.
    Auch das ist eine Stimme eines Arztes. Das ist die Stimme der vielzitierten Basis vor Ort und nicht der Hochmut der Funktionäre, der auf dem Marktplatz zu hören ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb lassen Sie sich nicht irritieren! Ich glaube, die Einsicht in die Notwendigkeit, auch an Besitzstände mächtiger Gruppen zu gehen, ist in der Bevölkerung weiter verbreitet, als den Lobbyisten lieb ist.
    Ich rufe die großen Sozialverbände um Unterstützung für unsere Reformbestrebungen auf. Ich fordere die Arbeitgeberverbände auf, uns zu unterstützen. Denn es sind nicht die Blüm'schen Lohnnebenkosten, die wir reduzieren wollen, sondern die Lohnnebenkosten, unter denen viele Unternehmen, besonders kleine und mittlere Betriebe, leiden. Ich fordere die Gewerkschaften auf, uns zu unterstützen. Denn je höher die Beiträge steigen, um so geringer werden die Spielräume der Löhne, von denen die Arbeitnehmer leben. Der Höchstbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung bei durchschnittlichen Beitragssätzen betrug 1970 98 DM. 1970! Das ist kein Jahrhundert her! Heute beträgt er 585 DM. Und das in 17 Jahren! Wenn wir nicht bremsen, fressen die Beiträge die Löhne auf. Und was die Gewerkschaften durch Lohnerhöhungen herausholen, sackt die Krankenversicherung wieder ein.
    Ich fordere die großen Behindertenverbände auf, sich zur Einführung der Pflege zu äußern. Ich bitte den VdK, der in der nächsten Woche in Bonn eine große Demonstration zur Gesundheitsreform durchführen will, sich zu äußern, ob er den Durchbruch zur Pflege verhindern oder mit schaffen will.
    Die Ärzte und Zahnärzte müssen sich entscheiden, ob das freiheitliche System die Zukunft ihrer Berufe weiterhin begleiten soll, oder ob sie sehenden Auges in den Konkurs dieses freiheitlichen Systems steuern wollen.
    Und das sage ich mit allem Selbstbewußtsein: Wenn diese Reform scheitert, dann gibt es keinen Umbau durch Reform, sondern nur noch Abriß nach Ruin. Dann wird das System erst nach einem Ruin umgestellt, und ich fürchte, ein staatliches Gesundheitssystem wird der Erbe sein.
    Wir sind keineswegs am Ziel aller Reformen. Der Krankenhausbereich, die Frage der Krankenkassenorganisation und die Entwicklung der Arztzahlen verlangen nach weitergehenden Antworten als denen, die in dieser Reform enthalten sind.
    Doch wenn wir diese bescheidene Umstellung — ich nenne sie bescheiden —, in der es um nicht mehr als 14 Milliarden DM geht, nicht schaffen, dann wird es keinen Arbeitsminister geben, der nach mir die Krankenversicherung noch reformieren wird. So selbstbewußt bin ich. Wenn wir 14 Milliarden nicht schaffen: Nach mir wird es keinen geben, der diese Reform zustande bringen wird. Jetzt oder nie! Jetzt oder Ruin! Jetzt oder Gesundheitssystem! Das sind die wirklichen Alternativen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben doch 13 Jahre Zeit gehabt — und nichts ist geschehen.



    Bundesminister Dr. Blüm
    Die Arbeit ist der Fundus, aus dem alle soziale Sicherheit bezahlt wird. Verteilungsexperten übersehen den elementaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum, Arbeit und sozialer Sicherheit.
    Ich plädiere nicht für ein hirnloses expansives Wachstum, sondern für ein geradezu organisches Wachstum, in dem Bedürfnisse nicht staatlich festgeschrieben und hochgerechnet werden, sondern sich ständig ändern. Und ein Wald, der wächst, verbindet mit seinem Wachstum keineswegs nur Ausdehnung, sondern auch Veränderung. Deshalb sind wir auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf Strukturwandel angewiesen, allerdings auf einen sozial gebändigten. Hier haben wir — ich sehe Gerhard Stoltenberg — zusammen mit ihm mehr Geld für Kohle und Stahl und deren soziale Bewältigung ausgegeben als je zuvor. Ich will das einmal angesichts der Vorwürfe sagen, die Blüm als großen Kürzer und Stoltenberg als Haushaltspolitiker hinstellen. Wir haben zusammen für Kohle und Stahl, für die Kumpels an Rhein und Ruhr, für die Stahlkocher, für die Werftarbeiter mehr ausgegeben als je zuvor, nicht, um den Strukturwandel zu behindern, sondern um ihn sozial zu bändigen. Deshalb ist es eine Unverschämtheit, Herr Dreßler, so zu tun, als hätten wir die Kumpels an Rhein und Ruhr im Stich gelassen, eine Unverschämtheit!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das große Thema heißt Qualifikation. Lebenslanges Lernen darf nicht Privileg der sogenannten höheren Bildung bleiben, sondern muß fester Bestandteil in den Betrieben werden. Wir haben für die Qualifizierungsoffensive mehr Geld ausgegeben als alle Regierungen vorher zusammen einschließlich der SPD-Regierungen. Wir haben die Ausgaben für den Arbeitsmarkt verdoppelt, und die Zahl der Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die Qualifizierung war erfolgreich. Zwei Drittel der Teilnehmer haben spätestens ein Vierteljahr nach Abschluß der Bildungsmaßnahmen wieder Arbeit gefunden. Wir haben eine Rekordhöhe erreicht, die um der Solidität willen nicht weiter gesteigert werden sollte. Denn es zeigt sich, meine Damen und Herren — das ist eine wichtige Erkenntnis —, daß der Anteil der Arbeitslosen, für die die Qualifizierung die Qualifizierung der Bundesanstalt, in erster Linie gedacht ist, sinkt. 1986 lag dieser Anteil bei 66 %. Bis Mitte dieses Jahres waren es nur 58 %. Es werden zunehmend Personen gefördert, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Läßt sich da nicht der Verdacht formulieren, daß die Unternehmer den bequemen Ausweg suchen, bei der Bundesanstalt qualifizieren zu lassen — was eigentlich ihre Aufgabe im Betrieb wäre? Die Aufgabe der Arbeitgeber erschöpft sich nämlich nicht darin, neue Maschinen anzuschaffen, sondern sie müssen auch ihre Arbeitnehmer qualifizieren. Die Bundesanstalt darf nicht die Pflichten der Betriebe übernehmen.
    Die Ausweitung der sogenannten freien Maßnahme auf dem Markt der Förderung der beruflichen Bildung hat wahrscheinlich dieses Ausweichmanöver befördert. Die entsprechenden Träger haben das verständliche Bestreben, ihre Kapazitäten zu füllen. Dafür werben sie in der Öffentlichkeit und nehmen, wen sie finden können, also auch diejenigen, die eigentlich in ihren Betrieben weitergebildet werden sollten.
    Im ersten Halbjahr 1987 waren 47 % der Neueintritte in Maßnahmen zur beruflichen Bildung auf freie Bildungsangebote verteilt. Im ersten Halbjahr dieses Jahres war ihr Anteil bereits auf 60 % geklettert. Dabei lag der Anteil der Arbeitslosen nur bei 31 % der Teilnehmer bei diesen Trägermaßnahmen. Bei den gezielten Auftragsmaßnahmen der Arbeitsämter betrug der Anteil der Arbeitslosen dagegen 92 %.
    Hier wollen wir in der 9. Novelle die Proportionen wieder geraderücken. Ich denke, in den Betrieben wird auch deshalb besser weitergebildet, weil der ältere Arbeitnehmer seine Weiterbildung am vertrauten Ort betreiben kann. Wir haben aus der Lehrlingsausbildung die Erfahrung, daß der Ernstfall des Lebens der beste Schulort für den Beruf ist. Diese Erfahrung aus der Jugendbildung kann auch für die berufliche Erwachsenenbildung genutzt werden.
    Das zweite große Thema heißt Entkrampfung unserer Arbeitszeit. Hier liegt die Hauptverantwortung bei den Tarifpartnern. Die starren Arbeitszeitgewohnheiten sind eine der härtesten Fremdbestimmungen der Arbeitnehmer. Maßarbeit muß auch bedeuten, daß Arbeitszeiten nach dem Maß des Menschen angeboten werden. Die Arbeitszeitbedürfnisse eines 60jährigen sind sicher anders als die Arbeitszeitbedürfnisse eines 20jährigen.
    Mehr Teilzeitarbeitsplätze ist eine der Antworten. Ich meine das keineswegs nur in der einfachen Form der Tagesteilung, sondern ich denke auch an Wochenteilung, Monatsteilung, Jahresteilung. Im August 1988 suchten 241 000 Arbeitslose eine Teilzeitbeschäftigung. Nur 21 000 offene Stellen waren registriert. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, sagte neulich in einem „Zeit"-Gespräch:
    Wir könnten, glaube ich, aus dem Stand weit über 1 Million Teilzeitarbeitsplätze zusätzlich schaffen.
    Gut. Mein Appell: Ans Werk. Dann fangt mal an!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Mutter oder der Vater, die kleine Kinder erziehen, verlangen nach anderen Arbeitszeitmaßnahmen als alleinstehende Männer und Frauen. Die große Kolonnenorganisation, die wir seit 150 Jahren mit uns schleppen, hat ausgewirtschaftet. Die moderne Technologie bietet neue Chancen der Individualisierung. Die Technik bietet neue Chancen der Selbstbestimmung auch der Arbeitszeit und Möglichkeiten, der alten Idee gerecht zu werden, Leben und Arbeit miteinander zu versöhnen, auch in einem Arbeitsrhythmus, der dem Lebensrhythmus entspricht. Menschen haben einen anderen Rhythmus als Maschinen, die angeknipst werden und wieder abgestellt werden. Deshalb können die Erwerbsphasen nicht so schroff voneinander abgeschottet werden, sondern hier muß mehr Freiheit ins Spiel gebracht werden.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Es läuft doch genau anders herum, Herr Blüm! Und das wissen Sie doch auch!)




    Bundesminister Dr. Blüm
    Vielleicht brauchen wir auch Jahresarbeitszeiten, mehr Entscheidungsspielräume vor Ort und für den einzelnen.
    Aus dieser neuen Arbeitszeitmischung sollte allerdings mit aller Kraft und — soweit es geht — der Sonntag herausgehalten werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es ist eine uralte Lebensweisheit, daß der Zeitverlauf feste Punkte braucht. So wie das Jahr durch Festtage gegliedert wird, so muß die Gesellschaft auch Wochentage haben, an denen sie durchatmet, einen Tag anders als die anderen. Der Sieben-Tage-Rhythmus ist keine Erfindung der Neuzeit, er ist eine uralte Kulturerfahrung. Ihn einzuebnen hieße die Gesellschaft plattwalzen und den Menschen in einem Zeitbrei der Orientierung verlustig gehen zu lassen. Es muß halt einen Tag in der Woche geben, der anders ist als die sechs anderen.
    Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik und unsere Zeit haben große Aufgaben. Wir leben in einer spannenden Zeit, in einer Zeit der Veränderung. Die Politik braucht Mut, Klugheit, Gerechtigkeit und Maß.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Günther Heyenn


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ein Beispiel dafür, wie man einen Vortrag für die Bonner Volkshochschule zum Thema „Die philosophischen Unterschiede zwischen Kranken- und Rentenversicherung " ausweiten kann auf ein Stammtischniveau,

    (Zuruf von der CDU/CSU: So etwas bringen Sie doch gar nicht fertig! Dazu fehlt Ihnen der Geist!)

    zu Neid, Mißgunst und mißbräuchlicher Inanspruchnahme, um dann überraschend zu Gorbatschow zu kommen und einige Unwahrheiten zu verkünden, z. B., daß die Bundesregierung die Kindererziehungszeiten finanziere, obwohl das in Wahrheit diejenigen tun, die treu und brav ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichten,

    (Andres [SPD]: So ist es!)

    bis hin zu den Unwahrheiten über den tatsächlich vorhandenen Blüm-Bauch; denn der Blüm-Bauch bedeutet ja nicht, daß jedermann Zugriff auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hat. Der Zugriff wird den Versicherten durch Verordnungen der Ärzte verschafft.

    (Dreßler [SPD]: Sehr richtig!)

    Und dieser Zugriff wird jetzt angestrebt, weil die Versicherten Angst haben vor den unsozialen Selbstbeteiligungen und Leistungskürzungen, die die Regierung für das nächste Jahr angekündigt hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Lieber Herr Blüm, ich glaube, das war eine Viertelstunde Redezeit zuviel.

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, die Alterssicherung in der Bundesrepublik muß einer Strukturreform unterzogen werden. Rudolf Dreßler hat eindeutig darauf hingewiesen. Eine einvernehmliche Regelung ist gefragt. Wir sind dazu bereit, auch weil wir nach der Steuerreform und nach der Gesundheitsreform einen dritten Trümmerhaufen in dieser Legislaturperiode verhindern wollen.

    (Beifall bei der SPD)

    Im Interesse der Rentner und im Interesse der Versicherten ist es geboten, nicht ein Reparaturgesetz für die nächsten Jahre, sondern eine Strukturreform für die nächsten Jahrzehnte zu verabschieden. Unabdingbar sind dabei unsere Forderungen nach einer Anhebung des Bundeszuschusses auf 20 % der Rentenausgaben und nach einem gemeinsamen Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD.
    Unsere weiteren Vorschläge zur Rentenreform sind seit langem bekannt: Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit; Ausbau der Rente nach Mindestsicherung; soziale Grundsicherung; Wertschöpfung; Teilkorrektur bei den Zugangsvoraussetzungen für den Renten wegen Erwerbsunfähigkeit und die Aufhebung der Geringfügigkeitsgrenze. Wenn es zu gemeinsamen Lösungen kommen soll, meine Damen und Herren, dann muß sich natürlich auch ein wahrnehmbarer sozialdemokratischer Anteil in diesem Reformwerk erkennen lassen.
    Vor allem ist folgendes wichtig: Wenn Gemeinsamkeit einen Sinn haben soll, dann muß sie dazu führen, daß auch heikle Themen, daß auch schwierige Probleme angefaßt werden. Wenn schon eine Reform mit 90 % der Mitglieder des Deutschen Bundestages verabschiedet wird, dann muß mehr dabei herauskommen als Klientelpolitik. Dann muß dieses Parlament auch den Mut haben, sich gegenüber gut organisierten Interessengruppen durchzusetzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Dabei denke ich vor allem an die Harmonisierung der Altersicherungssysteme. Jetzt ist die Gelegenheit zu einer wirklichen Reform, bei der die unvermeidbaren demographischen Belastungen nicht nur bei den Rentnern der gesetzlichen Rentenversicherung und den beitragszahlenden Arbeitern und Angestellten abgeladen werden.
    Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, eine Lektüre unserer Parteitagsbeschlüsse aus Münster. Sie werden dabei feststellen, daß wir die Eigenständigeit der beamtenrechtlichen Versorgung nicht antasten wollen, wie manche aus Ihren Reihen unsinnigerweise unterstellen. Uns kommt es darauf an, daß sich auch in der Beamtenversorgung die Belastungen aus der demographischen Entwicklung widerspiegeln. Das wird im Grunde auch von niemandem mehr bestritten, nicht einmal von Herrn Zimmermann oder auch nicht einmal vom Beamtenbund. Wir legen besonderen Wert darauf, daß die strukturellen Anpassungen in diesem Gebiet zusammen mit der Rentenreform vorgenommen werden. Wir wollen dabei, daß die sozialen Be-



    Heyenn
    lange der Beamten der unteren und mittleren Besoldungsgruppen besonders berücksichtigt werden.
    Nun ein Wechsel vom Konsensthema zu einem Konfliktthema, meine Damen und Herren. Lothar Späth wird immer lustloser, je länger die Diskussion um das Gesetz dauert. So sagt er, und er meint das sogenannte Gesundheitsreformgesetz. Fürs Fernsehen sagt der Bundesarbeitsminister: Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung leisten; die Reform darf nicht mit einseitigen Belastungen verbunden werden. In Wirklichkeit — das ist eben wieder betont worden — werden 14 Milliarden DM bei den Versicherten abkassiert. die in der Tat krank sind.
    Wir hatten Ihnen, Herr Blüm, hier Gemeinsamkeit angeboten. Eine Enquete-Kommission des Bundestags, hochkarätige Wissenschaftler und fachkundige Abgeordnete sollten dafür eine Grundlage erarbeiten. Aber Sie lehnen ab. Es geht Ihnen im Zweifel nicht mehr um die Schwachen, sondern es geht Ihnen um das Geld der Schwachen. So ist Ihr Gesetzentwurf aufgebaut.
    Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat in einem mehr als 40stündigen Anhörungsmarathon nahezu 200 Sachverständige zum Blüm-Entwurf befragt. Das Ergebnis bestätigt unsere Forderung: Dieser Gesetzentwurf muß zurückgezogen werden. Lesen Sie, Herr Blüm, unsere Beschlüsse im Sozialpolitischen Programm von Münster, lesen Sie einmal nach, wie Strukturen verändert werden können und wie ein ständiger Abkassierungsvorgang, den Sie einführen wollen, verhindert werden kann.
    Die „Welt" schrieb am 31. August zu Blüms angeblichem Kampf gegen die Interessenverbände:
    Er werde nicht vor den Interessengruppen in die Knie gehen, hat Blüm gesagt. Es scheint, als habe er es unterlassen, wieder aufzustehen. Denn um die anfänglichen allseitigen Widerstandsdrohungen ist es still geworden. Niemand protestiert mehr. Experten bestätigen, daß Blüms ursprüngliches Konzept erledigt sei.
    Nach einem Hinweis auf ihre Überforderung heißt es dann:
    Dennoch sollte lieber nichts geschehen, als daß etwas Falsches geschieht, nur damit überhaupt etwas geschieht.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn? Sagen Sie, was Sie wollen!)

    — Dazu komme ich, Herr Blüm.
    Selbst Konservative sagen also: So nicht, Norbert Blüm! Offenbar geht es Ihnen nur noch ums Durchhalten und darum, das Gesicht nicht zu verlieren,

    (Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn! Nun sagen Sie mal, was Sie wollen! Das wollen wir mal hören!)

    denn die Zweifel in Ihren eigenen Reihen mehren
    sich, ob dieser Entwurf sozial noch vertretbar ist. Der
    Wind der öffentlichen Meinung bläst Ihnen ins Gesicht.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal, was Sie wollen!)

    — Ein wenig Geduld, Herr Blüm, ich komme dazu. 60 % der Bürger sagen, diese Reform belastet ausschließlich die Versicherten.

    (Bohl [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn?)

    — Ist es Ihnen peinlich, was ich sage?)
    Mehr Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln, mehr Selbstbeteiligung bei Heil- und Hilfsmitteln

    (Dreßler [SPD]: Leider wahr!)

    — den Bürger mit der typischen Kassenbrille werden wir alle bald wieder auf der Straße erkennen können —, mehr Selbstbeteiligung beim Zahnersatz, Selbstzahlen der Fahrt zum Arzt, höhere Selbstbeteiligung bei Fahrten ins Krankenhaus, Kürzungen der Zuschüsse beim Kururlaub, Streichen des Sterbegeldes für die Jüngeren, damit werden die Kranken und die Hinterbliebenen bestraft.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Und was machen wir mit dem Geld?)

    — Sie zahlen mit ihren Opfern spätere Leistungen im Pflegebereich. Das machen Sie mit dem Geld.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Kranken zahlen Pflegeleistungen aus der zusätzlichen Selbstbeteiligung, und Sie stehlen sich aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die Sie für den Pflegebereich haben.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr Konzept?)

    — Das Ganze, Herr Blüm, nennen Sie „Solidarität neu bestimmen". Ich kann dazu nur sagen: Mit dem Begriff „Solidarität neu bestimmen" verhöhnen Sie die Opfer Ihrer Politik.

    (Beifall bei der SPD)

    Vom Solidaritätsbeitrag, meine Damen und Herren, der Pharmaindustrie in Höhe von 1,7 Milliarden DM
    — ohne den wollten Sie den Gesetzentwurf hier gar nicht vorlegen —

    (Bohl [CDU/CSU]: Wo ist Ihre Alternative?)

    ist keine Rede mehr. Kaum etwas passiert im Krankenhausbereich, dem kostenträchtigsten Teil der Krankenversicherung. Hier fehlte der Mut. Auch zur Organisationsstruktur hat der Gesetzentwurf die zentralen Probleme ausgeklammert.
    1 000 DM, 1 400 DM im Jahr mehr an Beitrag für den Arbeitnehmer, in Norddeutschland gegenüber einem Arbeitnehmer in Süddeutschland,

    (Bohl [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, wie Sie es machen wollen!)

    der gleiche Betrag mehr an Arbeitgeberanteil für einen Arbeitgeber, der seinen Versicherten bei der AOK in Norddeutschland versichert hat, gegenüber einem in Süddeutschland bei einer Allgemeinen Ortskrankenkasse Versicherten! Sind das nicht unerträgliche Beitragsunterschiede?! Aber Sie, Herr Blüm, ha-



    Heyenn
    ben nicht den Mut, institutionelle Erbhöfe anzutasten.

    (Beifall bei der SPD)

    Insgesamt die Note „mangelhaft" für diesen Gesetzentwurf! Für mich bedeutet das Festhalten an diesem Machwerk schon das Aufzeigen irrationaler Züge.

    (Bohl [CDU/CSU]: Wie ist die Alternative? Das wollen wir jetzt hören!)

    — Gesellschaftliche Prävention, das ist die Alternative. Inhaltliche Orientierung für das Gesundheitswesen, das ist die Alternative.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Heiße Luft!)

    Feststellen im regionalen Bereich, welcher Bedarf vorhanden ist, wo Überversorgung besteht, wo Unterversorgung besteht.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wer stellt das fest? Der Gesundheitskommissar?)

    — Die Beteiligten, die Krankenkassen als Vertreter der Versicherten, die Leistungsanbieter, die kommunal gewählten Vertreter stellen das fest.
    Modernisierung der Krankenversicherung, neue Rechte für die Selbstverwaltung, eine vernünftige Zahl an Medikamenten zu vernünftigen Preisen, das sind Inhalte aus unserem Programm, die sich der Bundesarbeitsminister nicht anhören mag, denn unser Programm stellt den Menschen und nicht die Abkassierung des Versicherten in den Mittelpunkt.

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Heyenn, meine Güte, ich dachte, es käme noch was!)

    — Haben Sie eben zugehört?

    (Bohl [CDU/CSU]: Von was haben Sie eigentlich gesprochen?)

    Ich will, weil Norbert Blüm unsere Vorschläge ansonsten mit dem Hinweis auf den Gesundheitssowjet diffamiert, kurz auf das unheimliche Verwirrspiel eingehen, das er mit den Patienten treibt, auf die gigantische Bürokratie, die er schafft. Norbert Blüm hat eben gesagt, die Durchschaubarkeit der Systeme müsse verbessert werden. Ich will auf die Arzneimittelversorgung kurz eingehen, immerhin die häufigste Leistung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier wird der Patient in einen Nebel getaucht, damit man ihm das Geld besser aus der Tasche ziehen kann.
    Nehmen wir an, ein Patient geht in die Apotheke. Vier rezeptpflichtige Arzneimittel will er kaufen, alle vom Arzt verordnet. Das Abführmittel muß er als Bagatellarzneimittel voll bezahlen. Für ein anderes Mittel, das ihm vom Arzt, abweichend von den Festbetragspräparaten, empfohlen worden ist, zahlt er die Preisdifferenz zum Festbetrag. Für ein drittes Mittel, wo es noch keinen Festbetrag gibt, zahlt er eine Rezeptblattgebühr von 3 DM, und schließlich das Monopräparat mit Festbetrag, das bekommt er kostenlos. Hier ist doch die Verwirrung vollkommen. Medizinisches Versorgungssystem und Krankenversicherung scheinen nur noch bedingt etwas miteinander zu tun zu haben.
    Ein anderes Beispiel: Zahnersatz, wo jetzt systemwidrig die Kostenerstattung eingeführt wird. Der Versicherte muß das vorher auslegen, und er weiß nicht, wann er es von der Kasse zurückbekommt. Sie unterscheiden, es gibt differenziert Zuschüsse. Für zahntechnisch aufwendige Versorgungsformen gibt es einen Zuschuß von 40 %, für mittlere Versorgungsformen einen Zuschuß von 50 % und für einfache Versorgungsformen einen Zuschuß von 60 %. Die Krankenkasse muß nun aber noch in die Reihe bekommen, daß die Gesamtaufwendungen für Zahnersatz 50 % nicht überschreiten dürfen. Je nachdem, wie aufwendig der notwendige Zahnersatz nun ist, erhält der Versicherte unterschiedliche Zuschüsse. Wie kann er das wissen? Wie kann er seine mittelfristige Finanzplanung einrichten, es sei denn, der Schwerpunkt der zahnärztlichen Behandlung wird auf die ausführliche Erläuterung der Gebührenordnung verlegt?
    Damit aber nicht genug, wenn der Patient regelmäßig jedes Kalenderjahr zur Untersuchung beim Zahnarzt war, kann sich der Zuschuß um 10 % erhöhen. Wenn er in den letzten 10 Jahren halbjährlich beim Zahnarzt war, kann er sich um 15 % erhöhen. 40, 50, 60 Prozent plus 10 Prozent plus 15 Prozent:

    (Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch gut! Was haben Sie dagegen?)

    Abgesehen davon, daß dies ein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für Zahnärzte ist, müssen also Versicherte und Krankenkassen lebenslänglich die Zahnarztbesuche kontrollieren. Wer weiß von uns noch, ob er im Oktober 1980 beim Zahnarzt war?
    Ich muß Ihnen zugestehen, Herr Blüm, dieses GRG hat auch eine bildungspolitische Komponente, denn der Patient muß nicht nur gesund werden wollen, er muß aufschreiben, notieren, er muß lesen, er muß rechnen, er muß sein Tagebuch führen, um mit Ihren 40, 50, 60 Prozent, mit Ihren 10 und 15 Prozent zurechtzukommen. Bürokratie im Übermaß! Auch dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Unsinnigkeit dieses Gesetzes.
    Noch einmal fordere ich die Koalition und den Bundesarbeitsminister auf: Haben Sie Mut und trennen Sie sich von diesem Abkassierungsmodell, öffnen Sie sich einem wirklichen Konzept zur Reform, öffnen Sie sich einem Konzept, das die Strukturprobleme löst und das den Menschen und seine Gesundheit in den Mittelpunkt stellt.
    Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD)