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ID1109114700

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    Plenarprotokoll 11/91 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 91. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung) : a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung) : Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Roth SPD 6209 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 6214 C Sellin GRÜNE 6217D Dr. Graf Lambsdorff FDP 6219C Frau Dr. Martiny-Glotz SPD 6224 B Rossmanith CDU/CSU 6227 A Schäfer (Offenburg) SPD 6229 A Schmidbauer CDU/CSU 6232 D Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . 6235 C Baum FDP 6238 B Lennartz SPD 6241 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 6243 C Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 6245 C Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI . 6254 C Dr. Penner SPD 6256 C Frau Seiler-Albring FDP 6262 C Frau Olms GRÜNE 6263 D Dr. Laufs CDU/CSU 6265 D Dr. Hirsch FDP 6268 D Wüppesahl fraktionslos 6270 D Gerster (Mainz) CDU/CSU 6273 A Engelhard, Bundesminister BMJ 6276 A Dreßler SPD 6276 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 6280 B Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 6282 A Frau Hasselfeldt CDU/CSU 6284 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 6287 D Heyenn SPD 6293 A Tagesordnungspunkt 2: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Mariental-Horst bei Helmstedt (Drucksachen 11/2301, 11/2561) Roth (Gießen) CDU/CSU 6250 C Müntefering SPD 6251 B Zywietz FDP 6252 B Brauer GRÜNE 6252 D Dr. Voss, Parl. Staatssekretär BMF . . . 6253 C Nächste Sitzung 6295 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 6296* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 6209 91. Sitzung Bonn, den 8. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Gallus 8. 9. Gattermann 9. 9. Dr. Glotz 9. 9. Dr. Götz 9. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger* * 9. 9. Dr.-Ing. Kansy* * 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Frau Kelly 8. 9. Kiechle 9. 9. Klose 9. 9. Dr. Kreile 9. 9. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kroll-Schlüter 9. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)* * 9. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Poß 8. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Reuschenbach 9. 9. Schäfer (Mainz) 9. 9. Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 9. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. Wissmann 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Gerda Hasselfeldt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Nein.
    Es geht auf jeden Fall aufwärts. Wir haben seit 1983 die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten um fast eine Million erhöht.

    (Rixe [SPD]: Das wird ja jeden Tag schlimmer hier im Hause!)

    Dies bedeutet nicht nur mehr Beiträge in der Sozialversicherung, sondern es bedeutet auch mehr Hoffnung für eine Million Menschen und ihre Familien.

    (Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Dies haben wir durch eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie beispielsweise die Qualifizierungsoffensive erreicht. Wir werden diese fortsetzen, auf hohem Niveau, aber wir müssen auch darauf achten — ich sage das ganz bewußt — , daß die Mittel auf die Zielgruppen des Arbeitsmarktes konzentriert werden

    (Andres [SPD]: Ihnen geht es gut, das merkt man!)




    Frau Hasselfeldt
    und daß alle Bildungsmaßnahmen auch so angelegt sind, daß anschließend eine echte Vermittlungsaussicht besteht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Klar ist auch: Berufliche Bildung darf nicht primär Angelegenheit der Beitragszahler und der Bundesanstalt für Arbeit sein. Die Verantwortung für gut ausgebildetes Personal liegt vorrangig bei den Arbeitgebern, bei denen, die dieses Personal beschäftigen.

    (Zuruf von der SPD: Da haben Sie recht!)

    Die Bundesanstalt darf nicht zum Auszahlautomaten degradiert werden.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Lassen Sie mich aber auch ein Wort, meine Damen und Herren, an das von Ihnen angesprochene Problem der Schwarzarbeit, der illegalen Beschäftigung verlieren. Ich stimme Ihnen zu, daß dies ein großes Problem in unserer Gesellschaft, auf unserem Arbeitsmarkt ist. Ich denke, daß wir uns auch darüber einig sind, wo einer der Gründe liegt, nämlich in den zu hohen Lohnnebenkosten.

    (Reimann [SPD]: Nein, da sind wir uns gar nicht einig!)

    Wenn wir uns hier nicht einig sind, macht mir das gar nichts; meine Meinung bleibt trotzdem.
    Hauptgrund oder einer der wesentlichen Gründe sind zu hohe Lohnnebenkosten. Daran arbeiten wir,

    (Andres [SPD]: Das kann man merken, ja!)

    nicht nur kurzfristig. Als ein Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung sehen wir in der Tat den Sozialversicherungsausweis.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Er ist kein Allheilmittel, das wissen wir. Aber er ist ein Schritt auf dem richtigen Weg.
    Meine Damen und Herren, wenn wir von mehr Humanität in der Gesellschaft reden, dann müssen wir auch an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf denken; dabei spielen die Teilzeitarbeit sowie der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben nach den Erziehungsjahren eine wesentliche Rolle. Wir können für uns in Anspruch nehmen, daß wir die Förderungsvoraussetzungen beim Wiedereinstieg nach der Erziehungstätigkeit verbessert haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Wir werden auch in unseren Bemühungen um noch mehr Teilzeitarbeitsplätze nicht lockerlassen. Aber es wäre zu erwarten, daß hier auch die Gewerkschaften endlich aus ihrer Ecke herausgehen und mit ihren abqualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Teilzeitbeschäftigung endlich aufhören und ihre starre Haltung hier aufgeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bohl [CDU/CSU]: So auch Lafontaine! — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Die SPD auch!)

    — Bei der SPD habe ich schon langsam Schwierigkeiten, Herr Kollege, ein gemeinsames, für alle Kollegen
    geltendes Konzept in der Sozialpolitik, im besonderen im Arbeitsmarkt zu erkennen.

    (Bohl [CDU/CSU]: Das stimmt! — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sie hat keins!)

    Ich möchte nur das Stichwort — ich könnte auch andere Kollegen mit nennen — Lafontaine anführen.

    (Reimann [SPD]: Lambsdorff!)

    Der Parteitag hat wieder deutlich gemacht, daß hier wirklich kein Konzept vorliegt, sondern ein großer Dissens.
    Die Situation unseres Arbeitsmarktes erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise. Wir haben einen Mangel an Facharbeitern, an qualifizierten Angestellten, wir haben einen hohen Anteil an unqualifizierten und zum Teil nicht qualifizierbaren oder nicht so, wie der Arbeitsmarkt es erfordert, qualifizierbaren Arbeitslosen. Wir haben eine zunehmende Immobilität der Arbeitslosen, überhaupt der Arbeitnehmer, aus welchen Gründen auch immer, und wir haben auch einen zunehmenden Anteil an gesundheitlich Eingeschränkten. Das alles sind Probleme, denen wir uns zu stellen haben, Fakten, die wir sehen müssen. Deshalb gibt es hier auch kein Patentrezept, und deshalb sind auch die von der Opposition geforderten Beschäftigungsprogramme genauso sinnlos wie all jene Programme, die Sie schon während Ihrer Regierungszeit in dieser Richtung mit aufgelegt haben. Das, was wir am Arbeitsmarkt brauchen, sind differenzierte Maßnahmen. Das, was wir brauchen, ist ein Klima zur Schaffung von mehr Arbeit, meine Damen und Herren.

    (Reimann [SPD]: Zu diesem Klima tragen Sie bei!)

    Wir haben ja bewiesen, daß wir dieses Klima geschaffen haben, sonst könnten wir diese zusätzlich Beschäftigten gar nicht verzeichnen. Während Ihrer Regierungszeit haben Sie keine zunehmende Erwerbspersonenzahl gehabt, sondern im Gegenteil eine abnehmende Zahl.

    (Bohl [CDU/CSU]: SPD-Talfahrt!)

    Nun, eines der wichtigsten und schwierigsten sozialpolitischen Reformvorhaben in dieser Periode ist die Reform des Gesundheitswesens. Dabei steht eines fest: Diese Reform ist längst überfällig und hätte schon während der sozialliberalen Koalition in Angriff genommen werden müssen. Aber wie war es damals? Sie haben nur geredet, Sie haben nicht gehandelt.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Heute ist es so: Wenn wir nicht handeln, werden die Beitragssätze weiter steigen. Wenn wir nicht handeln, lassen wir zu, daß die Erfolge in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik durch ungezügeltes Ausgabenwachstum in der Krankenversicherung beeinträchtigt werden. Wenn wir nicht handeln, bricht das System unserer im Ansatz guten Krankenversicherung zusammen. Meine Damen und Herren, deshalb handeln wir!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir ermöglichen Beitragssatzsenkungen, die den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gleichermaßen



    Frau Hasselfeldt
    zugute kommen und zur Begrenzung der viel zu hohen Lohnnebenkosten beitragen. Wir setzen auf mehr Vorsorge und Eigenverantwortung. Wir entlasten die Solidargemeinschaft von nicht notwendigen Leistungen, und wir sorgen für mehr Wettbewerb.
    Meine Damen und Herren, wir handeln auch in der Pflege, in einem Bereich, der von der SPD zerredet, aber nicht angepackt worden ist.

    (Lachen des Abg. Dreßler [SPD])

    — Sind Ihnen eigentlich, wenn Sie da so lachen, Herr Kollege, die Familien ganz egal, die nicht in Urlaub fahren können, z. B. deshalb, weil es gilt, einen pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen?

    (Dreßler [SPD]: Nun werden Sie nicht unverschämt!)

    Uns sind sie nicht egal! Wir wissen um die starke Belastung, die ein schwerer Pflegefall für die Familien, ihre Hilfsbereitschaft und ihren Opferwillen mit sich bringt. Hier wirken Menschen im stillen, ohne großes öffentliches Aufsehen. Nur haben sie eben einen Fehler: Sie haben keine Lobby. Aber es darf doch in unserem Staat nicht länger so sein, daß immer nur die Lauten, die, die schreien können, gehört werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit dieser neuen, dringend notwendigen Pflegefallregelung vollziehen wir einen gesellschaftspolitischen und sozialpolitischen Durchbruch ersten Ranges, vergleichbar mit der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Auch das war ein gesellschafts- und sozialpolitischer Durchbruch. Wir schließen damit das einzige in der sozialen Sicherung noch vorhandene Loch.

    (Andres [SPD]: Sie müssen von Lobby reden! Sie haben es nötig!)

    Nun sagen einige Leute, die es gut mit uns meinen — auch die gibt es — : Eine einzige große Reform in der Legislaturperiode reicht. Unsere Antwort darauf ist: Wir müssen tun, was die Verantwortung für diese Bevölkerung, für die soziale Sicherheit dieser Bevölkerung, uns gebietet, und eine der größten Herausforderungen ist heute die Auswirkung der demographischen Entwicklung auf unser Rentensystem. Unsere Gesellschaft wird älter. Die Beitragszahler werden weniger, die Leistungsbezieher mehr. Wir wissen, daß es sich bei denjenigen, die heute in Rente gehen, um eine Generation handelt, die diesen Staat aufgebaut hat, die den Weg für unseren Wohlstand bereitet hat, und wir werden deshalb dafür sorgen, daß die zusätzlichen Lasten ausgewogen auf alle Beteiligten, nämlich auf die Beitragszahler, die Leistungsbezieher und den Staat, verteilt werden.
    Dabei haben sich die bisherigen Prinzipien der Rentenversicherung bewährt. Diese gilt es zu stärken. Nicht aus dem Auge verloren werden darf der Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung. Das ist ein wesentliches Prinzip gerade der Rentenversicherung. Die Höhe der Beiträge muß die Höhe der späteren Rente auch bestimmen. Ich hoffe, daß wir in dieser Frage einen Konsens aller demokratischen Parteien erreichen können; ich hoffe, daß in dieser für uns alle so wichtigen Frage keine parteipolitischen Unterschiede vorhanden sind.
    Frau Beck-Oberdorf, ein Wort zur Frauenarmut, die Sie angesprochen haben: Sicher ist das Einkommen der Frauen, gerade der Rentnerinnen, geringer als das ihrer männlichen Kollegen. Das hängt auch damit zusammen, daß das System eben auf Beiträge ausgerichtet ist. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit schon einmal deutlich darauf hinweisen, daß wir es waren, die die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt haben, eine Regelung, von der die Frauen, gerade die älteren Frauen, profitieren, daß wir es waren, die diese Regelung für die Frauen, gerade für die älteren Frauen, für die Frauen, die Jahre ihres Lebens der Erziehung von Kindern gewidmet haben, durchgesetzt haben und daß wir es sind, die in dieser Richtung auch weiterdenken werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe der Abg. Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE])

    Lassen Sie mich auch ein Wort zur Kriegsopferversorgung sagen. Wir haben nicht nur zum 1. Juli 1988 die Renten der Kriegsopfer um 3 % angehoben, sondern auch strukturelle Verbesserungen zum 1. Januar 1989 in Höhe von jährlich 26 Millionen DM beschlossen. Dies ist angesichts der Belastungen, denen der Bundeshaushalt ausgesetzt ist, wirklich keine unbedeutende Summe.
    Ich möchte nun aber noch einige grundsätzliche Positionen anfügen. Im Mittelpunkt, meine Damen und Herren, unserer Sozialpolitik

    (Jaunich [SPD]: Steht der Mensch!)

    steht das Streben nach sozialem Frieden, nach sozialer Gerechtigkeit und nach sozialer Sicherheit. Diese Ziele sind nicht mit billigen Neidparolen, mit abschreckenden Horrorgemälden, mit Schwarzmalerei oder auch Klassenkampf zu erreichen. Wir brauchen dazu eine leistungsfähige Wirtschaft. Wir brauchen die Eigenverantwortung aller Bürger sowie ein realistisches Denken bei der Verteilung von Lasten und von Wohltaten.
    Maßstab unserer Sozialpolitik ist nicht die Höhe des ausgegebenen Geldes, wenngleich wir in diesem Haushalt auf 66,9 Milliarden DM verweisen können. Maßstab ist die Situation der Bürger in diesem Land. Mit dieser Situation können wir heute zufrieden sein. Diese Situation auf dem erreichten Niveau zu halten und dort, wo möglich und wo nötig, zu verbessern, das ist unsere Verpflichtung.
    Meine Damen und Herren, es ist auch ein Irrtum, anzunehmen, daß bei der Sozialpolitik nur an Geld zu denken ist. Solidarität und Eigenverantwortung, finanzielle Hilfe und die helfende Hand — all das muß zusammengefaßt und zusammengeführt werden zu dem, was wir uns alle miteinander wünschen, nämlich zu einer Gesellschaft mit einem menschlichen Gesicht.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich



    Bundesminister Dr. Blüm
    will der Versuchung widerstehen, auf die hundertste Wiederholung der gleichen Vorwürfe zum hunderterstenmal zu antworten.
    Ich möchte die Gelegenheit dieser Haushaltsdebatte nutzen, unsere Sozialpolitik im Zusammenhang darzustellen. „Wandel" , „Wende", „Reformen", das sind ja Lieblingsworte unserer Zeit. Aber was sie bezeichnen, ist nicht neu. Immer gab es Veränderungen, und mit manchen Veränderungen begann eine neue Epoche.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das stimmt!)

    Einschneidende Veränderungen waren immer Antworten auf große Herausforderungen. Das Bewußtsein, oft noch diffus, daß sich unsere Welt wieder einmal verändert, daß sie sich häutet, ist weit verbreitet.
    Schon beginnt der Streit über die Bezeichnung des neuen Abschnitts. Mit Worten und über Worte läßt sich ja bekanntlich trefflich streiten. Der Erfindungsreichtum der Terminologen hinkt allerdings der Bereitschaft zur realen Veränderung hinterher. Es ist leichter, Worte auszuwechseln, als Besitzstände aufzugeben, und seien es nur Gewohnheiten.
    Meine Damen und Herren, wir leiden nicht an einem Mangel an Reformvorschlägen. Wie im Feuerwerk tauchen täglich neue Ideen auf, die schon wenig später im Dunkel des Vergessens verschwinden. Wir haben es mit einem vagabundierenden Einfallsreichtum zu tun, dem die Unfähigkeit anhaftet, an einem Konzept festzumachen.
    Die Opposition kann sich den Luxus leisten, Politik mit der Summe von Einwänden zu verwechseln. Regierungen müssen entscheiden. Wir können nicht nur sagen, wogegen wir sind; wir müssen sagen, wofür wir sind; wir müssen handeln.
    Die Notwendigkeit der Gesundheitsreform beispielsweise wird von niemandem bestritten; ich kenne niemanden. Ich kenne aber tausend Einwände gegen unsere Vorschläge. Nur, ich sehe keine einzige geschlossene Alternative zu unserer Gesundheitsreform. Die zunehmende Diskussionswut ist nur eine andere Form von feiger Entscheidungsflucht.

    (Günther [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Der verdanken wir, daß diese Reform eher zu spät als zu früh kommt.
    Die Umstellung, die uns abverlangt wird, folgt der Einsicht. Sie folgt nicht der unmittelbaren elementaren Not. Entscheidungen unter vitaler Existenznot sind möglicherweise leichter. Umstellungen sind in Wohlstandsgesellschaften offenbar schwerer zu bewerkstelligen als in Armutsgesellschaften. Wir stellen nicht unter vitaler Existenznot um wie in früheren Zeiten, sondern unter der Last der Verantwortung für die Zukunft.
    Die Antworten auf die großen Katastrophen der Vergangenheit standen unter dem Zwang der augenblicklichen Rettung: Jetzt handeln. Dieses Gefühl der augenblicklichen Rettung ist in unserer Gesellschaft nicht verbreitet. Leidet — so frage ich — darunter unsere Fähigkeit zur Umstellung? Aber wir können uns ja keine Katastrophe wünschen, um wieder veränderungsfähig zu werden. Also muß die Vernunft ersetzen, was der Überlebenswille in der Vergangenheit, beispielsweise in der Nachkriegszeit, besorgte.
    Aber die Vernunft ist ein Waisenkind im Interessengerangel. Hier besteht die Gefahr, daß Lautstärke mit dem Gewicht der Argumentation verwechselt wird. Das Spektakel der Proteste und Demonstrationen ist unterhaltsam, aber es trägt die Züge einer Traumreise, die von der Härte der Realität nicht erfaßt ist. Wir haben es mit einer skandalierenden Emotionalität zu tun, die sich an wechselnden Aufregungen des Tages berauscht und den Blick für die großen Linien verliert. Wir werden von einer hektischen Flatterhaftigkeit geplagt, auch wir in der Politik, ohne den großen Atem fur Perspektive, Ausdauer und Durchblick zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb will ich versuchen, die großen Linien unserer Sozialpolitik kurz darzustellen.
    In der Kranken- und Rentenversicherungsreform kreuzen sich zwei Linien unseres Sozialstaates. Deshalb folgen beide Reformen ganz unterschiedlichen Richtungen.
    Während es in der Krankenversicherung darum geht, einen Grundstandard solidarisch abgesicherter Versorgung zu schaffen und so unsere Krankenversicherung vor kollektiver Überforderung und Verschwendung zu bewahren, geht es in der Rentenversicherung nicht um Grundstandard, Grundsicherung, sondern um ein Alterseinkommen, das dem Lohn entspricht, den sich der Versicherte ein Leben lang erarbeitet hat. Das sind ganz unterschiedliche Ansätze von Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsreform.
    Die soziale Krankenversicherung sichert die fundamentalen Gesundheitsrisiken ab. Sie ist nicht für jedweden denkbaren Gesundheitswunsch zuständig. Die Rentenversicherung folgt dem Lebenslohn. Während die Krankenversicherung das Notwendige garantiert, soll die Rentenversicherung den erarbeiteten Lebensstandard absichern.
    Die Krankenversicherung arbeitet vornehmlich nach dem Sachleistungsprinzip, die Rentenversicherung nach dem Geldleistungsprinzip. Das sind zwei ganz unterschiedliche Methoden.
    Die Reformen im Gesundheitswesen und in der Rentenversicherung sind unterschiedlicher Bauart. Ich nenne sie nochmals: solidarische Absicherung des Notwendigen in der Krankenversicherung, Leistungsgerechtigkeit für die Rentner in der Rentenversicherung.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Was ist das für ein Gerechtigkeitsprinzip?)

    — Die Leistungsgerechtigkeit ist eine geradezu emanzipative Gerechtigkeit, weil ein Anspruch auf eigener Leistung beruht und nicht von Dritten gewährt wird.
    Beide Reformen haben mit dem demographischen Wandel, dem veränderten Bevölkerungsaufbau, zu tun. Deshalb unsere Anstrengung, die Generationenbalance mit der Reform der Rentenversicherung zu



    Bundesminister Dr. Blüm
    wahren. Deshalb unser Bemühen, mit der Gesundheitsreform Antworten auf die Pflegeproblematik zu finden.
    Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind die beiden großen tragenden Sozialprinzipien. Sie dürfen sich nicht wechselseitig verdrängen, sondern müssen sich ergänzen. Dort, wo die Leistungsgerechtigkeit ein soziales Problem lösen kann — sie kann nicht alle sozialen Probleme lösen —, sollte sie nicht von der Barmherzigkeit verdrängt werden.
    Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt hat, dem sichert die Rentenversicherung einen entsprechenden Lebensstandard im Alter. Sie folgt dem Äquivalenzprinzip: Leistung für Gegenleistung.
    Die Krankenversicherung dagegen kann nicht diesem Leistungsprinzip folgen. Der hilfsbedürftige Kranke hat Anspruch auf unsere Hilfe ohne Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit. Die großen Gesundheitsrisiken, die über die Kraft des einzelnen gehen, müssen solidarisch gemeistert werden. Das Notwendige muß ohne jede Zuzahlung geleistet werden.
    Wir dürfen die Systeme und Prinzipien nicht durcheinanderwirbeln, so daß zu guter Letzt niemand mehr weiß, wem er wessen Anspruch verdankt und von wem was bezahlt wird. Die große Konfusion ist das Feld der Manipulateure. Deshalb muß die Durchschaubarkeit der Systeme verbessert werden.
    Die Sparzwänge — ich gebe es zu — helfen uns auf die Sprünge. Aber unsere Reformen sind nicht lediglich Antworten auf Geldfragen.
    Wollen wir — so frage ich — ein Gesundheitssystem — das hat mit Geld noch nichts zu tun —, das sich anmaßt, dem Menschen alle Probleme abzunehmen, eine wohltemperierte Gesellschaft, die alle Schwierigkeiten therapeutisiert,

    (Zuruf von der SPD: Ein Softi!)

    um uns in einer künstlichen Gleichgewichtslage zu wiegen? Abends gelbe Tabletten zur Beruhigung und morgens blaue Tabletten zur Vitalisierung?

    (Schreiner [SPD]: Und mittags den Blüm anhören!)

    Die Sparzwänge können eine hilfreiche Rückbesinnung dazu einleiten, daß nicht für jedes Problem ein anderer zuständig ist. Die Mitverantwortung beginnt mit der Selbstverantwortung, und die Selbstverantwortung schützt die Solidarität vor Überlastung.
    Arbeit verliert in der nachindustriellen Gesellschaft ihre alles, über Jahrhunderte beherrschende Dominanz. Aber sie ist deshalb nicht weniger lebenswichtig. Das Schlaraffenland gibt es auch in der postindustriellen Gesellschaft nicht. Das Schlaraffenland gehört der Märchenwelt an, die sich auch in Zukunft von der Realität unterscheidet. Es gibt auch in Zukunft keine menschenwürdige Gesellschaft ohne Arbeit und Anstrengung. Wir wollen sie auch nicht, weil sie eine glücklose Gesellschaft wäre, weil Glück auch die Erfahrung ist, mit Problemen fertig zu werden, sie überwunden zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, die in früheren Zeiten auf eine Handvoll Privilegierter beschränkt war, wird zur Massengefahr. So erscheint die Ausbeutung am Horizont der Zukunft anders als im 19. Jahrhundert: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr „Reiche" beuten „Arme" aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleißigen aus. Auch das ist Ausbeutung.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das war wirklich schwach!)

    — Wissen Sie, die Malocher, die, die sich 40 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, die bezahlen den Sozialstaat. Daß sie ihn bezahlen für die Hilfsbedürftigen, für die, die nicht arbeiten können, gehört zur Solidarität. Aber ich frage mich, ob alle, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, nicht können oder ob das nicht in einer nachindustriellen Gesellschaft eine schicke Art und Weise ist, die Dummen, die Fleißigen auszubeuten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Es ist unglaublich, was Sie sagen! — Bohl [CDU/ CSU]: Weiter so!)

    Gegen diese neue Schickeria, in welchem Gewand sie auch auftritt, müssen wir vorgehen. Deshalb muß unser Sozialsystem Widerstände gegen diese Ausbeutungsgefahr einbauen.
    Die Idee der Grundrente hat eine eingebaute Versuchung, Gott einen guten Mann und die Arbeitenden die Dummen sein zu lassen. 800 DM Grundrente — Sie haben sie ja heute auf 1 200 DM gesteigert —: dafür muß ein Durchschnittsverdiener 22 Jahre Beiträge zahlen, um durch Arbeit und Lohn diese Rente zu erwerben. Warum sollte er sich 22 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, wenn er 800 DM auch ohne Arbeit bekommen kann? Und will er gar für seine Frau in der Hinterbliebenenversorgung 800 DM erreichen, muß er 35 Jahre lang arbeiten. Ich frage mich, warum soll jemand überhaupt noch arbeiten, wenn er auch ohne Arbeit das gleiche erreichen kann?
    Ich berufe mich in der Verteidigung unserer leistungsbezogenen Rente auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zu Beginn unserer Legislaturperiode; ich zitiere:
    Die Bürger können darauf vertrauen, daß sie im Alter als Gegenleistung für die während ihres Arbeitslebens gezahlten Beiträge eine angemessene Rente erhalten.
    Das Wort ist gegeben. Wir wollen und werden dieses Wort halten.
    Das Rentenniveau darf auch nicht in die Nähe des Sozialhilfesatzes kommen, weil sich Arbeit sonst nicht mehr lohnt. Soziale Hilfen, aus welchen Gründen auch immer, wie auch Lohnersatz müssen immer etwas niedriger sein als der Lohn, weil sonst die Versuchung groß ist, mit Lohnersatz das Leben zu gestalten. Dann sind wir gezwungen, geradezu polizeistaatlich zu überwachen, ob jemand arbeiten kann oder nicht. Wir wollen diese schreckliche Version eines Überwa-



    Bundesminister Dr. Blüm
    chungsstaates nicht. Deshalb dürfen in das Sozialsystem keine Einladungen eingebaut sein, sich auf Kosten anderer zu bedienen.
    Es wäre auch eine besondere Pointe des historischen Augenblicks: Während Gorbatschow und die Seinen in ihr Sozialsystem verstärkt Leistungsregulatoren einbauen, würden wir im gleichen Augenblick, in dem unser System weltweit an Attraktion gewinnt, auf den Versorgungsstaat zumarschieren. Grundrente wäre sozusagen die Gegenrichtung zu einer leistungsbezogenen, auch in der Sowjetunion zunehmend an Attraktivität gewinnenden Organisation unserer Gesellschaft.
    Die Leistungsgerechtigkeit bleibt die Leitlinie der Rentenversicherung. Aber wir beschränken sie nicht eng auf die Erwerbsleistung.
    Kindererziehung ist für die Rentenversicherung eine Überlebensleistung; denn ohne Kinder heute gibt es keine Beitragszahler morgen. Deshalb haben wir Kindererziehungszeiten in das Rentenrecht eingeführt. — Herr Kollege, waren das auch Kürzungen? Sie haben doch gesagt, ich hätte nur gekürzt. — Heute beziehen 1,8 Millionen Mütter eine Rente, in der Kindererziehungszeiten enthalten sind. Besonders wichtig ist: 200 000 beziehen eine Rente, die nur auf Kindererziehungszeiten beruht.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Und leben davon? Wieviel ist das denn?)

    In wenigen Wochen, am 1. Oktober, werden etwa eine Million Mütter, die den Geburtsjahrgängen 1907 bis 1911 angehören, ihre Kindererziehungsleistungen von 28 DM monatlich für jedes Kind erhalten. Im Durchschnitt werden diese Mütter etwa 70 DM monatlich bekommen. Bis 1990 werden die noch fehlenden Jahrgänge in den Bezug der Kindererziehungszeiten kommen. Dann werden sechs Millionen Mütter nach hundert Jahren Rentenversicherung ihre Erziehungsleistungen, ihre Erziehungsarbeit zum erstenmal in der Rentenversicherung anerkannt erhalten haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Gesundheits- und Rentenreform finden in einem gegensätzlich politischen Umfeld statt. Während in der Gesundheitsreform — darüber ist gesprochen worden — der Konflikt vorherrscht, sind in der Rentenreform die Chancen — ich sage Chancen, nicht mehr — für einen Konsens gut. So könnten beide Reformen auch den Anschauungsunterricht für eine politische Kultur abgeben, in der Konflikt und Konsens zu Hause sind und wir zu beidem fähig sind. Es würde unsere Konflikte entdramatisieren, wenn wir mit der gleichen Opposition, mit der wir in Sachen Gesundheitsreform in harten Auseinandersetzungen stehen, in der Rentenversicherung Konsens schaffen würden. Denn auf beides ist die Demokratie angewiesen: auf die Fähigkeit zur harten Konfrontation, zum Konflikt, wie auf die Fähigkeit zur Kooperation. Es muß die Sache entscheiden, welcher Weg genommen wird, und nicht die parteipolitische Scheuklappe unsere Richtung bestimmen. Wenn die Teilnehmer des demokratischen Spiels zwischen Konsens und Konflikt wechseln können, schützen Sie den Konsens vor der Verwechslung mit der Kumpanei und den Konflikt vor der Verwechslung mit der bornierten Aggression. Sind wir konfliktfähig, oder kuschen wir vor den Lobbyisten? Das ist die Testfrage der Widerstandsfähigkeit des Gemeinwohls, auf das wir verpflichtet sind. Die Diskussion um die Gesundheitsreform zeigt, daß es Verbandsfunktionäre gibt, denen keine Verdrehung zu schade und die Wahrheit nichts wert ist, wenn es um ihre Kasse geht.
    Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten jedweden Arzneimittelpreis zu zahlen. Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten Umsatzgarantien für alle Anbieter zu geben. Auch hier muß der Wettbewerb entscheiden. Bezahlt wird die Krankenversicherung nämlich von den Beitragen derjenigen, die arbeiten, und wir sparen nicht zum Selbstzweck. Wir sparen, um Freiräume für neue Notwendigkeiten zu schaffen.

    (Haack [Extertal] [SPD]: Stichwort: Pflege!)

    Die Hälfte dessen, was wir sparen, wollen wir der Pflege zugute kommen lassen. Wir haben ein Sozialsystem, wie es kaum ein zweites in der Welt gibt. Und wir werden alle Hände voll zu tun haben, es zu erhalten.
    Aber es gibt in diesem Sozialsystem noch weiße Flecken auf der Landkarte. Und einer ist die Lage der Pflegebedürftigen. Während wir jährlich 3 Milliarden DM für Medikamente ausgeben, die im Mülleimer verschwinden, während medizinische Apparate laufen, weil sie sich bezahlt machen müssen, während Taxis Versicherte zum Arzt fahren, obwohl die Straßenbahn nebenan fährt, werden Mütter mit schwerbehinderten Kindern alleingelassen. Hier wollen wir helfen. Wir sparen auf der einen Seite, um auf der anderen Seite helfen zu können. Das ist eine Sozialpolitik, die neue Prioritäten setzt. Und nichts ist wichtiger als der Mut zur Priorität. Man kann es nicht allen recht machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und die Testfrage, ob wir fähig sind, Besitzstände abzubauen, ist auch die Testfrage, der sich jeder Abgeordnete stellen muß. Es geht — meine Damen und Herren, wozu die ganze Aufregung? — um bescheidene 14 Milliarden DM aus dem großen, fast 130 Milliarden DM umfassenden Kuchen der Krankenversicherung. Diese 14 Milliarden DM, die wir jetzt unter großer Anstrengung gegen alle Widerstände sparen, sind so viel wie das Steigerungsvolumen von vier Jahren. Das ist nichts anderes, als was durch Beitragserhöhungen seit vier Jahren mehr eingenommen wurde. Hätten wir vor vier Jahren mit der Beitragssteigerung Schluß gemacht, brauchten wir jetzt diese 14 Milliarden DM nicht zu sparen. Wir nehmen also nur das Steigerungsvolumen von vier Jahren zurück — und welch ein Geschrei!
    2 Milliarden DM wollen wir im Arzneimittelbereich einsparen — 2 Milliarden, nicht mehr —, in dem großen Bereich der Arzneimittel, deren Hersteller ja schließlich nicht nur von der Krankenversicherung leben, sondern auch vom Export und von Arzneimitteln, die mit der Krankenversicherung gar nicht verrechnet werden. Die Arzneimittelpreise auf der Herstellerebene sind seit 1982, meine Damen und Herren,



    Bundesminister Dr. Blüm
    um 14,5 % gestiegen. Hätten sich die Hersteller der Arzneimittel seit 1982 auch nur auf dem Preisniveau der übrigen Industrie bewegt, nur die Preissteigerungen der übrigen Industrie gehabt, brauchten wir heute für Arzneimittel 1,8 Milliarden DM weniger auszugeben.
    Ich will mit diesem Beispiel nur die Proportionen zurechtrücken und die Rückfrage stellen, ob die Kampagne, die hier entfacht wird, als ginge es um den Zusammenbruch einer Industrie, den Anlaß rechtfertigt. Wir sparen nicht mehr, als durch einen Gleichklang in der Preisentwicklung zwischen Arzneimittelherstellern und den industriellen Herstellern erreicht worden wäre — und welch ein Geschrei!
    Wie nachgiebig das jetzige System unserer Krankenversicherung gegenüber Konsumwünschen ist — und Konsumwünsche sind nicht immer identisch mit Gesundheitsbedarf —, zeigt das, was unter dem Namen „Blüm-Bauch" in die Sozialgeschichte eingeht: die horrenden Ausgabensteigerungen aus dem ersten Halbjahr dieses Jahres. Wenn es in manchen Sektoren zu massiven Ausgabensteigerungen kam — Zahnersatz: +16,8 %, Hörhilfen: +22 % —, und zwar in einem halben Jahr, dann ist das doch der Beweis, daß das nicht einem gestiegenen Gesundheitsbedarf entspricht,

    (Bohl [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    sondern daß man offenbar nur abholen muß, daß das System überhaupt keine Widerstände hat. Denn hätte es Widerstände, dann müßte es sich doch gegen eine solche Springflut der Ausgaben wehren können. Es wird doch wohl niemand sagen, die Ausgaben für Hörhilfen seien um 22 % gestiegen, weil die Hörfähigkeit der Bevölkerung in einem halben Jahr um 22 abgenommen hat. Oder will das jemand behaupten? Das gleiche gilt für die Sehhilfen.

    (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ja, das muß man beim Namen nennen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Das zeigt, daß dieses System geradezu hilflos ist, daß es ausgebeutet werden kann.
    Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns von der schäumenden Agitation nicht beeindrucken lassen. Denn es gibt mehr Bürger mit Einsicht, als in den Festungen des Lobbyismus bekannt ist. Vor wenigen Tagen schrieb mir ein Hals-, Nasen-, Ohrenarzt aus Essen — ich erwähne das als Beispiel für viele andere Briefe —:
    Die 30 Essener Hals-, Nasen-, und Ohrenärzte haben es in ihrer Frühjahrssitzung abgelehnt, gegen den Plan, die Patienten an den Hörgerätekosten zu beteiligen, zu opponieren und Plakate auszuhängen. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß eine Beteiligung an den Hörgerätekosten, wenn sie 800 oder 900 DM überschreiten, richtig ist. Bekanntlich werden die Hörgeräte zur Zeit nach fünf Jahren schlagartig unbrauchbar (ab fünf Jahren genehmigen Krankenkassen ein neues), während Privatpatienten durchaus noch nach zehn Jahren mit ihrem Hörgerät zufrieden sind. In diesem Jahr wird der Hörgeräteverkauf sich verdoppeln.
    Auch das ist eine Stimme eines Arztes. Das ist die Stimme der vielzitierten Basis vor Ort und nicht der Hochmut der Funktionäre, der auf dem Marktplatz zu hören ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deshalb lassen Sie sich nicht irritieren! Ich glaube, die Einsicht in die Notwendigkeit, auch an Besitzstände mächtiger Gruppen zu gehen, ist in der Bevölkerung weiter verbreitet, als den Lobbyisten lieb ist.
    Ich rufe die großen Sozialverbände um Unterstützung für unsere Reformbestrebungen auf. Ich fordere die Arbeitgeberverbände auf, uns zu unterstützen. Denn es sind nicht die Blüm'schen Lohnnebenkosten, die wir reduzieren wollen, sondern die Lohnnebenkosten, unter denen viele Unternehmen, besonders kleine und mittlere Betriebe, leiden. Ich fordere die Gewerkschaften auf, uns zu unterstützen. Denn je höher die Beiträge steigen, um so geringer werden die Spielräume der Löhne, von denen die Arbeitnehmer leben. Der Höchstbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung bei durchschnittlichen Beitragssätzen betrug 1970 98 DM. 1970! Das ist kein Jahrhundert her! Heute beträgt er 585 DM. Und das in 17 Jahren! Wenn wir nicht bremsen, fressen die Beiträge die Löhne auf. Und was die Gewerkschaften durch Lohnerhöhungen herausholen, sackt die Krankenversicherung wieder ein.
    Ich fordere die großen Behindertenverbände auf, sich zur Einführung der Pflege zu äußern. Ich bitte den VdK, der in der nächsten Woche in Bonn eine große Demonstration zur Gesundheitsreform durchführen will, sich zu äußern, ob er den Durchbruch zur Pflege verhindern oder mit schaffen will.
    Die Ärzte und Zahnärzte müssen sich entscheiden, ob das freiheitliche System die Zukunft ihrer Berufe weiterhin begleiten soll, oder ob sie sehenden Auges in den Konkurs dieses freiheitlichen Systems steuern wollen.
    Und das sage ich mit allem Selbstbewußtsein: Wenn diese Reform scheitert, dann gibt es keinen Umbau durch Reform, sondern nur noch Abriß nach Ruin. Dann wird das System erst nach einem Ruin umgestellt, und ich fürchte, ein staatliches Gesundheitssystem wird der Erbe sein.
    Wir sind keineswegs am Ziel aller Reformen. Der Krankenhausbereich, die Frage der Krankenkassenorganisation und die Entwicklung der Arztzahlen verlangen nach weitergehenden Antworten als denen, die in dieser Reform enthalten sind.
    Doch wenn wir diese bescheidene Umstellung — ich nenne sie bescheiden —, in der es um nicht mehr als 14 Milliarden DM geht, nicht schaffen, dann wird es keinen Arbeitsminister geben, der nach mir die Krankenversicherung noch reformieren wird. So selbstbewußt bin ich. Wenn wir 14 Milliarden nicht schaffen: Nach mir wird es keinen geben, der diese Reform zustande bringen wird. Jetzt oder nie! Jetzt oder Ruin! Jetzt oder Gesundheitssystem! Das sind die wirklichen Alternativen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben doch 13 Jahre Zeit gehabt — und nichts ist geschehen.



    Bundesminister Dr. Blüm
    Die Arbeit ist der Fundus, aus dem alle soziale Sicherheit bezahlt wird. Verteilungsexperten übersehen den elementaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum, Arbeit und sozialer Sicherheit.
    Ich plädiere nicht für ein hirnloses expansives Wachstum, sondern für ein geradezu organisches Wachstum, in dem Bedürfnisse nicht staatlich festgeschrieben und hochgerechnet werden, sondern sich ständig ändern. Und ein Wald, der wächst, verbindet mit seinem Wachstum keineswegs nur Ausdehnung, sondern auch Veränderung. Deshalb sind wir auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf Strukturwandel angewiesen, allerdings auf einen sozial gebändigten. Hier haben wir — ich sehe Gerhard Stoltenberg — zusammen mit ihm mehr Geld für Kohle und Stahl und deren soziale Bewältigung ausgegeben als je zuvor. Ich will das einmal angesichts der Vorwürfe sagen, die Blüm als großen Kürzer und Stoltenberg als Haushaltspolitiker hinstellen. Wir haben zusammen für Kohle und Stahl, für die Kumpels an Rhein und Ruhr, für die Stahlkocher, für die Werftarbeiter mehr ausgegeben als je zuvor, nicht, um den Strukturwandel zu behindern, sondern um ihn sozial zu bändigen. Deshalb ist es eine Unverschämtheit, Herr Dreßler, so zu tun, als hätten wir die Kumpels an Rhein und Ruhr im Stich gelassen, eine Unverschämtheit!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das große Thema heißt Qualifikation. Lebenslanges Lernen darf nicht Privileg der sogenannten höheren Bildung bleiben, sondern muß fester Bestandteil in den Betrieben werden. Wir haben für die Qualifizierungsoffensive mehr Geld ausgegeben als alle Regierungen vorher zusammen einschließlich der SPD-Regierungen. Wir haben die Ausgaben für den Arbeitsmarkt verdoppelt, und die Zahl der Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die Qualifizierung war erfolgreich. Zwei Drittel der Teilnehmer haben spätestens ein Vierteljahr nach Abschluß der Bildungsmaßnahmen wieder Arbeit gefunden. Wir haben eine Rekordhöhe erreicht, die um der Solidität willen nicht weiter gesteigert werden sollte. Denn es zeigt sich, meine Damen und Herren — das ist eine wichtige Erkenntnis —, daß der Anteil der Arbeitslosen, für die die Qualifizierung die Qualifizierung der Bundesanstalt, in erster Linie gedacht ist, sinkt. 1986 lag dieser Anteil bei 66 %. Bis Mitte dieses Jahres waren es nur 58 %. Es werden zunehmend Personen gefördert, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Läßt sich da nicht der Verdacht formulieren, daß die Unternehmer den bequemen Ausweg suchen, bei der Bundesanstalt qualifizieren zu lassen — was eigentlich ihre Aufgabe im Betrieb wäre? Die Aufgabe der Arbeitgeber erschöpft sich nämlich nicht darin, neue Maschinen anzuschaffen, sondern sie müssen auch ihre Arbeitnehmer qualifizieren. Die Bundesanstalt darf nicht die Pflichten der Betriebe übernehmen.
    Die Ausweitung der sogenannten freien Maßnahme auf dem Markt der Förderung der beruflichen Bildung hat wahrscheinlich dieses Ausweichmanöver befördert. Die entsprechenden Träger haben das verständliche Bestreben, ihre Kapazitäten zu füllen. Dafür werben sie in der Öffentlichkeit und nehmen, wen sie finden können, also auch diejenigen, die eigentlich in ihren Betrieben weitergebildet werden sollten.
    Im ersten Halbjahr 1987 waren 47 % der Neueintritte in Maßnahmen zur beruflichen Bildung auf freie Bildungsangebote verteilt. Im ersten Halbjahr dieses Jahres war ihr Anteil bereits auf 60 % geklettert. Dabei lag der Anteil der Arbeitslosen nur bei 31 % der Teilnehmer bei diesen Trägermaßnahmen. Bei den gezielten Auftragsmaßnahmen der Arbeitsämter betrug der Anteil der Arbeitslosen dagegen 92 %.
    Hier wollen wir in der 9. Novelle die Proportionen wieder geraderücken. Ich denke, in den Betrieben wird auch deshalb besser weitergebildet, weil der ältere Arbeitnehmer seine Weiterbildung am vertrauten Ort betreiben kann. Wir haben aus der Lehrlingsausbildung die Erfahrung, daß der Ernstfall des Lebens der beste Schulort für den Beruf ist. Diese Erfahrung aus der Jugendbildung kann auch für die berufliche Erwachsenenbildung genutzt werden.
    Das zweite große Thema heißt Entkrampfung unserer Arbeitszeit. Hier liegt die Hauptverantwortung bei den Tarifpartnern. Die starren Arbeitszeitgewohnheiten sind eine der härtesten Fremdbestimmungen der Arbeitnehmer. Maßarbeit muß auch bedeuten, daß Arbeitszeiten nach dem Maß des Menschen angeboten werden. Die Arbeitszeitbedürfnisse eines 60jährigen sind sicher anders als die Arbeitszeitbedürfnisse eines 20jährigen.
    Mehr Teilzeitarbeitsplätze ist eine der Antworten. Ich meine das keineswegs nur in der einfachen Form der Tagesteilung, sondern ich denke auch an Wochenteilung, Monatsteilung, Jahresteilung. Im August 1988 suchten 241 000 Arbeitslose eine Teilzeitbeschäftigung. Nur 21 000 offene Stellen waren registriert. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, sagte neulich in einem „Zeit"-Gespräch:
    Wir könnten, glaube ich, aus dem Stand weit über 1 Million Teilzeitarbeitsplätze zusätzlich schaffen.
    Gut. Mein Appell: Ans Werk. Dann fangt mal an!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Mutter oder der Vater, die kleine Kinder erziehen, verlangen nach anderen Arbeitszeitmaßnahmen als alleinstehende Männer und Frauen. Die große Kolonnenorganisation, die wir seit 150 Jahren mit uns schleppen, hat ausgewirtschaftet. Die moderne Technologie bietet neue Chancen der Individualisierung. Die Technik bietet neue Chancen der Selbstbestimmung auch der Arbeitszeit und Möglichkeiten, der alten Idee gerecht zu werden, Leben und Arbeit miteinander zu versöhnen, auch in einem Arbeitsrhythmus, der dem Lebensrhythmus entspricht. Menschen haben einen anderen Rhythmus als Maschinen, die angeknipst werden und wieder abgestellt werden. Deshalb können die Erwerbsphasen nicht so schroff voneinander abgeschottet werden, sondern hier muß mehr Freiheit ins Spiel gebracht werden.

    (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Es läuft doch genau anders herum, Herr Blüm! Und das wissen Sie doch auch!)




    Bundesminister Dr. Blüm
    Vielleicht brauchen wir auch Jahresarbeitszeiten, mehr Entscheidungsspielräume vor Ort und für den einzelnen.
    Aus dieser neuen Arbeitszeitmischung sollte allerdings mit aller Kraft und — soweit es geht — der Sonntag herausgehalten werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es ist eine uralte Lebensweisheit, daß der Zeitverlauf feste Punkte braucht. So wie das Jahr durch Festtage gegliedert wird, so muß die Gesellschaft auch Wochentage haben, an denen sie durchatmet, einen Tag anders als die anderen. Der Sieben-Tage-Rhythmus ist keine Erfindung der Neuzeit, er ist eine uralte Kulturerfahrung. Ihn einzuebnen hieße die Gesellschaft plattwalzen und den Menschen in einem Zeitbrei der Orientierung verlustig gehen zu lassen. Es muß halt einen Tag in der Woche geben, der anders ist als die sechs anderen.
    Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik und unsere Zeit haben große Aufgaben. Wir leben in einer spannenden Zeit, in einer Zeit der Veränderung. Die Politik braucht Mut, Klugheit, Gerechtigkeit und Maß.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)