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    Plenarprotokoll 11/91 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 91. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung) : a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung) : Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Roth SPD 6209 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 6214 C Sellin GRÜNE 6217D Dr. Graf Lambsdorff FDP 6219C Frau Dr. Martiny-Glotz SPD 6224 B Rossmanith CDU/CSU 6227 A Schäfer (Offenburg) SPD 6229 A Schmidbauer CDU/CSU 6232 D Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . 6235 C Baum FDP 6238 B Lennartz SPD 6241 A Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 6243 C Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 6245 C Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI . 6254 C Dr. Penner SPD 6256 C Frau Seiler-Albring FDP 6262 C Frau Olms GRÜNE 6263 D Dr. Laufs CDU/CSU 6265 D Dr. Hirsch FDP 6268 D Wüppesahl fraktionslos 6270 D Gerster (Mainz) CDU/CSU 6273 A Engelhard, Bundesminister BMJ 6276 A Dreßler SPD 6276 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 6280 B Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 6282 A Frau Hasselfeldt CDU/CSU 6284 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 6287 D Heyenn SPD 6293 A Tagesordnungspunkt 2: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Mariental-Horst bei Helmstedt (Drucksachen 11/2301, 11/2561) Roth (Gießen) CDU/CSU 6250 C Müntefering SPD 6251 B Zywietz FDP 6252 B Brauer GRÜNE 6252 D Dr. Voss, Parl. Staatssekretär BMF . . . 6253 C Nächste Sitzung 6295 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 6296* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. September 1988 6209 91. Sitzung Bonn, den 8. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Gallus 8. 9. Gattermann 9. 9. Dr. Glotz 9. 9. Dr. Götz 9. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger* * 9. 9. Dr.-Ing. Kansy* * 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Frau Kelly 8. 9. Kiechle 9. 9. Klose 9. 9. Dr. Kreile 9. 9. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kroll-Schlüter 9. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)* * 9. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Poß 8. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Reuschenbach 9. 9. Schäfer (Mainz) 9. 9. Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 9. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. Wissmann 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
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    Rede von Dieter-Julius Cronenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bedanke ich mich bei der Kollegin Frau Hasselfeldt, daß sie mir die Möglichkeit verschafft hat, jetzt schon zu sprechen, da ich wegen der Krankheit des Kollegen Westphal gleich noch in anderer Funktion tätig sein soll.
    Der Sozialunternehmer Staat steht vor neuen Herausforderungen in der Alterssicherung, in der Gesundheitspolitik und in anderen Bereichen der sozialen Sicherheit. Es geht darum, die Grenzen dafür neu zu bestimmen, was staatliche und gesellschaftliche Aufgaben sind, was der einzelne zu leisten hat, was der einzelne leisten kann. Wer dem Staat oder den Sozialversicherungsträgern immer mehr Aufgaben aufbürdet,

    (Schreiner [SPD]: Die FDP zum Beispiel!)

    darf sich nicht wundern, wenn Steuern und Sozialabgaben steigen. Der Bundeshaushalt ist ebensowenig eine unversiegbare Melkkuh wie die Sozialversicherung. Steuern und Beiträge sind schwer erarbeitete Groschen der Bürger. Die Konsolidierung der Sozialversicherungssysteme ist unausweichlich notwendig, um der Sicherheit der Sozialsysteme selbst willen, aber auch, um Überbelastungen durch Steuern und Beiträge zu vermeiden. Vergessen wir nicht: Von der breiten Akzeptanz, z. B. im Falle der Rentenversicherung — der Kollege Dreßler hat eben darauf hingewiesen —, hängt es ab, ob dieses System funktioniert.
    Deswegen unternehme ich den redlichen Versuch, in dieser Frage Konsens auch mit den Sozialdemokraten herbeizuführen.
    Wenn die Sozialdemokraten unser beitrags- und leistungsbezogenes Alterssicherungssystem erhalten wollen, dann sollten sie mit ebensoviel gutem Willen in diese Diskussion mit uns eintreten, wie ich bereit bin, es zu tun.

    (Heyenn [SPD]: Aber das tun wir doch! Oder?)

    — Bis jetzt habe ich den Eindruck. Ich bestreite das ja gar nicht. Im Gegenteil, ich fordere dazu auf, Herr Kollege Heyenn, und möchte eigentlich eher eine versöhnliche Note hereinbringen. Das bedeutet aber auch, Herr Kollege Heyenn, daß in Wahlkämpfen auf Rentnerverunsicherung verzichtet wird, wie es die jeweilige Opposition, egal, wer gerade Opposition war, immer getan hat.

    (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wir nie!)

    Die Rentenversicherung ist für die Mehrheit unserer Bevölkerung die bewährte Basis ihrer Alterssicherung. Wer hier zu knauserig, zu kleinkariert fiskalisch an die Dinge herangeht, zerstört das notwendige Vertrauen. Deswegen ist es meines Erachtens notwendig und richtig, daß nicht nur der Beitragszahler, sondern auch der Steuerzahler einen angemessenen Anteil zur Stabilisierung dieses Sicherungssystems leistet. Im Prinzip, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, besteht über die Anhebung des Bundeszuschusses ein breiter Konsens: vom Finanzminister bis zur SPD. Strittig allerdings sind Höhe und Zeitpunkt. Deshalb möchte ich auf folgendes hinweisen.
    Zu Beginn der 90er Jahre stehen kurzfristig nur die Parameter Anhebung des Bundeszuschusses, nettoähnliche Rentenanpassung sowie Steigerung der Bei-



    Cronenberg (Arnsberg)

    tragssätze zur Verfügung. Notwendige strukturelle Veränderungen, z. B. die Neuordnung beitragsloser Zeiten, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, auch Senkung des Rentenniveaus, können erst langfristig greifen. Ich plädiere daher dafür, beim Bundeszuschuß nicht zu kleckern.

    (Heyenn [SPD]: Sehr gut!)

    So halte ich es persönlich für wichtig, den Beitragssatz möglichst lange, wie es im Gesetz steht, bei 18,5 % zu belassen. Dafür sprechen meines Erachtens zwei gewichtige Gründe.
    Erstens. Gerade im Interesse von mehr Beschäftigung müssen wir, soweit möglich, Erhöhungen der Beitragssätze und damit Lohnnebenkosten vermeiden.

    (Beifall bei der FDP)

    Zweitens. Da die eigentlichen demographischen Probleme erst nach dem Jahre 2000 auftreten, ist es meines Erachtens falsch, zu früh den ohnehin begrenzten Spielraum für Beitragssatzerhöhungen auszunutzen. Einer solchen Überlegung, so hoffe ich, werden sich auch längerfristig denkende Finanzpolitiker nicht entziehen können.

    (Dreßler [SPD]: Eine gute Rede an die eigene Koalition! Ich habe schon gesehen, wohin Sie geguckt haben, Herr Kollege! — Heyenn [SPD]: Auch an die eigene Fraktion!)

    Gestatten Sie mir im Zusammenhang mit den Lohnnebenkosten einen kurzen Exkurs betreffend den Arbeitsmarkt. Intensive Bemühungen um Beitragssatzstabilisierung sind zugleich ein wichtiger Beitrag zu einer aktiven Beschäftigungspolitik. Nach wie vor bin ich der Auffassung, daß wir die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen können, wenn wir weniger arbeiten. Glaubt denn jemand ernsthaft, daß wir dann, wenn Dreher, Werkzeugmacher oder Ingenieure deutlich weniger arbeiten als ihre japanischen Kollegen, unsere Position auf dem Weltmarkt halten können?

    (Heyenn [SPD]: Wenn dann mehr Dreher da sind, ja!)

    Verehrte Kolleginnen und Kollegen, machen Sie sich einmal bewußt: Ein japanischer Entwicklungsingenieur arbeitet 500 Stunden im Jahr länger als ein deutscher. Das heißt, bis zum Jahre 2000 sind das 3 1/2 Arbeitsjahre, und das unter Zugrundelegung der 38,5Stunden-Woche. Was bei der angestrebten 30-Stunden-Woche dabei herauskommt, verehrte Kollegen von der SPD, rechnen Sie sich bitte einmal selber aus.

    (Zurufe von der SPD)

    Natürlich habe ich mich gefreut, daß anscheinend auch einige Sozialdemokraten bereit sind, die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern. Aber kleine und mittlere Unternehmen können nicht existieren, wenn die Arbeitnehmer, wie es offensichtlich gewollt ist, künftig nur noch 30 Stunden in der Woche arbeiten können.
    Zurück zur Rentenversicherung. Für die Motive und Vorschläge des Kollegen Schwarz-Schilling habe ich viel Verständnis. Die Vorschläge selbst halte ich für nicht akzeptabel. Der Aufbau eines Kapitalstocks mit erheblichen Kosten bei tendenziell zurückgehender
    Zahl von Beitragszahlern führt zu einer nicht erträglichen Doppelbelastung und zu einem auch konjunkturell außerordentlich problematischen Ansparprozeß.

    (Heyenn [SPD]: Es sei denn, wir machen das aus den Überschüssen der Post!)

    — Richtig, Herr Kollege Heyenn. — Eine Beitragsstaffelung nach Kindern wird die schwierige Finanzierung der Renten um keinen Deut besser gestalten und widerspricht im Prinzip auch der beitrags- und leistungsbezogenen Rente. Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die für Kinder nichts übrig hat. Allerdings ist die Rentenversicherung nicht das geeignetste Instrument, um einen Familienlastenausgleich vorzunehmen.

    (Hoss [GRÜNE]: Sie wollen japanische Verhältnisse!)

    Notwendige Einsparungen in der Rentenversicherung auf Grund der demographischen Entwicklungen müssen auch ihre Entsprechung in anderen Alterssicherungssystemen finden, die ganz oder in erheblichem Umfang aus Steuermitteln finanziert werden. Insofern besteht nach meiner festen Überzeugung Handlungsbedarf auch bei der Beamtenversorgung. Aber nicht nur dort, auch im gesamten öffentlichen Dienst ist Handlungsbedarf. Hier kann ich nur meiner Hoffnung in die Bereitschaft der Tarifpartner Ausdruck verleihen, dieses zu berücksichtigen.
    Meine Damen und Herren, ich möchte in dem Zusammenhang auch nicht verhehlen, daß ich die nicht mehr sachgerechten Regelungen in der Knappschaft auf dem Prüfstand sehen möchte.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, einige Stichworte zur Gesundheitspolitik: Bei allem Geplänkel, bei allem Geschrei einzelner Gruppen möchte ich festhalten, daß sich die Mehrzahl der Beteiligten verantwortungsbewußt verhält und sich die Diskussion insbesondere nach der Anhörung versachlicht hat. Die Bereitschaft der Verbände, mit Verantwortung zu tragen, ist für mich z. B. ein positives Ergebnis der Anhörung.

    (Dreßler [SPD]: Trotzdem waren sie alle dagegen!)

    Auf Grund dieser Anhörung werden wir Korrekturen, z. B. beim Datenschutz oder hinsichtlich der Kostenübernahme bei Noteinsätzen durch den Rettungsdienst, vornehmen.

    (Dreßler [SPD]: Ihr müßt das Gesetz zurückziehen! Die Kritik war vernichtend!)

    Wir nehmen auch die Bedenken der Kassen zur Finanzierbarkeit der Pflegeleistungen durchaus ernst.
    Das höchst sensible Solidarsystem gesetztliche Krankenversicherung wird auf Dauer nur funktionieren, wenn auch ein angemessener Anteil an Eigenverantwortung und Eigenvorsorge eingebracht wird. Bei der erfreulich verbesserten Einkommen- und Vermögenssituation müssen sich die Leistungen der Pflichtversicherung auf die wirklichen Risiken beschränken. Dies ist um so notwendiger, als in den nächsten Jahren durch erfreulich längere Lebenserwartung und er-



    Cronenberg (Arnsberg)

    freulichen medizinischen Fortschritt die Kosten insgesamt zwangsläufig steigen werden.
    Wer die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens erhalten und festigen will, muß hei aller Kritik im Detail unseren Reformvorschlag unterstützen. Einen anderen durchsetzbaren Weg sehe ich nicht.
    Im Mittelpunkt aller Bemühungen steht das freiheitliche Gesundheitssystem mit angemessener Versorgung der Patienten, freier Arztwahl, Therapiefreiheit und einer Vielzahl freiberuflicher Leistungserbringer. Wenn wir jetzt nicht reformieren, meine Damen und Herren, werden sich die Probleme potenzieren, und letztlich ist der Weg in eine gigantische Planwirtschaft vorgezeichnet. Vorschläge in dieser Richtung gibt es bedauerlicherweise mehr als genug. Wer ein freiheitliches Gesundheitssystem im Interesse aller, insbesondere der Patienten, erhalten will, der muß sich zur Verantwortung für das Ganze und zum Mitwirken an dieser Reform bekennen. Alle sind zu einer verantwortungsbewußten Mitarbeit aufgerufen, auch jetzt noch die Opposition.
    Herzlichen Dank.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Marieluise Beck-Oberdorf


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist jetzt hier der Usus eingetreten, daß sich die Minister erst nach der Debatte äußern. Ich fand es umgekehrt besser, weil man dann auf sie antworten konnte.

    (Dreßler [SPD]: Das ist die blanke Angst, Frau Kollegin! — Bohl [CDU/CSU]: Was soll das denn? Sie müssen sich an die Vereinbarungen in den Fraktionen halten! Immer dagegen!)

    Jedenfalls ist vorherzusehen, was er uns erzählen wird. Er wird uns erzählen, daß der Etat Arbeit und Sozialordnung um 8,3 % erhöht worden ist, d. h. 66,9 Milliarden DM. Nimmt man Erziehungsgeld, Kindergeld und Wohngeld hinzu, so sind es 95 Milliarden DM, so daß fast ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts für soziale Aufgaben aufgewandt wird.
    Trotzdem — das ist es, womit wir uns auseinandersetzen müssen — gibt es in diesem Land Millionen von Menschen, die am Rand stehen, die von sozialer Normalität und Teilhabe ausgeschlossen sind: die Alten, für die Alter mit bitterer Armut verbunden ist; die Behinderten und Erwerbsunfähigen, die ausgegrenzt und isoliert werden; die Erwerbslosen, denen kein Weg zurück ins Arbeitsleben eröffnet wird; die Kranken und Pflegebedürftigen, die in unseren Kliniken und Heimen oft mehr schlecht als recht versorgt werden und die bei oft schmalem Geldbeutel von Zuzahlung bedroht sind, weil es keine vernünftige finanzielle Regelung für die Pflege gibt.
    Angesichts dieser Tatsachen langweilt der schon sattsam bekannte Schlagabtausch zwischen der SPD und der Regierungsbank; denn wir wissen doch alle, daß Verschiebebahnhöfe, Finanzierungstricks und
    Sparmaßnahmen im sozialen Bereich auch die SPD in ihrer Regierungszeit schon eingeleitet hat.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Es ist keine Frage: Was diese Regierung als epochale soziale Reformen anpreist, was sie als notwendigen Umbau des Sozialstaats verkauft, ist eine schamlose Umverteilung von unten nach oben, die von der SPD mit dieser Unverfrorenheit nicht durchgezogen worden wäre;

    (Beifall des Abg. Buschfort [SPD])

    denn Sie gestalten nicht Sozialpolitik, sondern Sie betreiben die Konsolidierung der Finanzen mit der Folge zunehmender Ausgrenzung, Entrechtung und sozialer Kontrolle.
    Die Debatte um soziale Politik erstarrt jedoch zu einem langweiligen Ritual, wenn hier nicht begriffen wird, daß die Höhe der Sozialausgaben nicht gleichzusetzen ist mit Wohlfahrt, daß wir den Kosten immer nur hinterherlaufen werden, wenn nicht endlich den wohlstandszerstörenden Aktivitäten dieser Gesellschaft zu Leibe gerückt wird.
    Das, was diese Regierung als Wachstum feiert — ich behaupte, daß Sie sich als Sozialdemokraten von diesen Denkmustern auch nicht gelöst haben

    (Heyenn [SPD]: Dann beweisen Sie es mal!)

    — dazu kommen wir gleich — , beinhaltet neben wohlstandsschaffender Produktion in zunehmendem Maße wohlstandszerstörende Aktivitäten, und die nachsorgenden und reparierenden Kosten explodieren.
    Dieser Sachverhalt erklärt die Armut, die sich hinter den relativ hohen Ausgaben des Sozialministeriums trotzdem verbirgt.

    (V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg)

    Wenn wir uns nicht endlich von der Ebene der Symptomkuriererei wegbewegen, wenn nicht endlich die Ursachen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut im Mittelpunkt der Diskussion stehen, werden wir die kommenden Jahrzehnte über die explodierenden Kosten im Sozialsektor weiter verhandeln, ohne wirklich soziale Politik gestalten zu können.
    Lassen Sie mich diese These an einigen Bereichen belegen, die die sozialpolitische Debatte zur Zeit bestimmen. Ich nenne zunächst das Gesundheitswesen. Ich lasse hier die sattsam bekannte Tatsache beiseite, daß sich viele an Krankheit gesundstoßen: die Pharmaindustrie, die hohen Ärzteeinkommen, die Kurmittelindustrie usw., und daß Sie mit Ihrem sogenannten Reformgesetz die chronisch Kranken, die Rentnerinnen, die schwachen Einkommensschichten zur Kasse bitten; denn diese Debatte ist an anderer Stelle geführt worden und wird in diesem Hause noch geführt werden.
    Ich möchte heute einen anderen fundamentalen Gedanken ansprechen. Statt über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu lamentieren, müssen wir über die Ursachen von Krankheit reden.
    Da haben wir z. B. die Kosmetikindustrie, einen blühenden Industriezweig. Jahrelang wurde dort Formal-



    Frau Beck-Oberdorf
    dehyd als Konservierungsmittel eingesetzt, ein krebserregender Stoff, wie Sie alle wissen. Was geschieht nach dessen Verbot? Hinter dem Rücken der Konsumentinnen, auch hinter dem Rücken der Ärzte und Ärztinnen setzt die Kosmetikindustrie nun Kathon zu, einen in höchstem Maße allergieerregenden Stoff. Das Katz-und-Maus-Spiel nimmt seinen Lauf: Menschen erkanken an Allergien, die Medizinmaschine läuft an, Ärzte machen sich auf die Suche nach den allergieauslösenden Substanzen, und schon steht wieder die Chemieindustrie mit ihrem Angebot an nun heilenden Medikamenten auf der Matte. Das ist die wahnwitzige Logik unserer Industriegesellschaft — ein widersinniger Kreislauf.
    Wenn heute vermeldet wird, daß das Bruttosozialprodukt um 3,9 % gewachsen ist, der Anteil der Chemieindustrie an diesem Wachstum mit 5,7 % sogar noch überproportional hoch ist, verbirgt sich hinter diesem Wachstum ein Gutteil destruktiver Kraft, die bei Ihnen, Herr Blüm, als Kostenexplosion im Gesundheitswesen wieder auftaucht.
    Da ist mein Vorwurf an die Sozialdemokratie, daß sie sich mit solchen Sachen nicht auseinandersetzt. Herr Rappe ist meines Wissens Mitglied Ihrer Partei und forciert genau diese Politik des Wachstums der Chemieindustrie.
    Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern. So müßte der Hormonskandal bei der Kälbermast und die dahinter stehende Erzeugung mit chemischen Substanzen versetzter Nahrung eigentlich die Gesundheits- und Sozialpolitiker interessieren, denn unsere an der Profitmaximierung ausgerichtete Agrarpolitik, die nichts mehr mit Nahrungsmittelerzeugung zu tun hat, verursacht Kosten im Gesundheitswesen. Wachstum und Profit heißen aber auch: Verdichtung von Arbeitsprozessen, Leistungsdruck, Streß am Arbeitsplatz, Lärm, Umgang mit giftigen Stoffen, Nachtarbeit, Schichtarbeit, die Sie mit Ihrer Politik gerade ausweiten. Das alles steigert das Bruttosozialprodukt, und das alles fordert seinen Tribut sowohl von der Natur als auch vom Menschen.
    Die sogenannten Volkskrankheiten, wie Allergien, Krebs, Neurodermitis, Rheuma, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, das alles taucht als Teil des Bruttosozialprodukts auf, als Teil des vermeintlich gewachsenen Wohlstandes, aber in Wirklichkeit schlägt es auf der Kostenseite zu Buche, sowohl menschlich als auch fiskalisch. Daß die Reparaturkosten immer höher werden, interessiert zumindest die Unternehmen nicht, denn sie können die Kosten ja externalisieren. Sie als Politiker übernehmen die Aufgabe, die Kosten von krank machendem Leben und Arbeiten auf die davon betroffenen Menschen auch noch zu verteilen.

    (Hoss [GRÜNE]: Genauso ist es!)

    Jede Regierung, egal, ob schwarz oder rot, wird stets im Kampf um die explodierenden Kosten des Gesundheitswesens verharren, wenn wir die von mir benannten Zusammenhänge nicht endlich zum Gegenstand der Debatte und politischen Gestaltens machen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Nicht anders sieht es bei der mit viel Getöse eingeleiteten Rentenreform aus. Auch dieses gesellschaftspolitisch so wichtige Vorhaben bleibt auf der Ebene fragwürdiger finanztechnischer Korrekturen stehen. Jede von uns weiß, was herauskommen wird: eine Absenkung des Rentenniveaus bei gleichzeitig höherer Belastung der Erwerbstätigen und die Heraufsetzung der Altersgrenze. Bevor wir aber in die Debatte um Bundeszuschüsse, Beitragssätze und ähnliches einsteigen, stellen wir GRÜNE unmißverständlich fest: Die erste Aufgabe jeder Reform wäre es, allen Menschen im Alter eine Grundversorgung zukommen zu lassen, die ein Altern in Würde und ohne Not überhaupt gestattet. Von Ihnen, Herr Blüm, stammt der Satz, daß Rente Alterslohn für Lebensarbeit ist. Bedeutet das also, daß die 13 % der älteren Menschen, die angeben, gar kein eigenes Einkommen zu haben — das sind fast nur Frauen —, daß die 28 % mit einem Einkommen von unter 1 000 DM im Monat in Ihren Augen nicht gearbeitet haben? Die 1 Million Frauen, die weniger als 600 DM Rente beziehen, die 1,7 Millionen Frauen, die zwischen 600 und 1 000 DM zur Verfügung haben, sind das alles Menschen, die nicht oder nur wenig gearbeitet haben? Diese Zahlen entstammen übrigens einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung.

    (Bohl [CDU/CSU]: Das ist eine gute Stiftung!)

    Das werden Sie wohl kaum zu behaupten wagen. Dennoch gibt es aus Ihrem Hause keine Überlegungen, wie zunächst allen Menschen im Alter ein Sockel, eine Grundrente für ein würdevolles Alter eingerichtet werden kann.
    Es ist ein Hohn, daß Frauen, selbst wenn sie neben der Kindererziehung und Hausarbeit noch erwerbstätig gewesen sind und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, dennoch mit ihren Rentenansprüchen oft unter den Sozialhilfesätzen liegen, weil Frauenlöhne immer noch so schamlos niedrig sind. Altersarmut ist vor allem Frauenarmut. Die Chance der späten Freiheit, von Altersforschern gerade den Frauen, deren Leben oft in Aufopferung für andere bestanden hat, in Aussicht gestellt, scheitert an ihrer Armut, denn Armut und Freiheit schließen sich aus. Auch da sind diese Lieblingswörter des Kanzlers wirklich nur Wortgetöse. Armut und Alter bedeuten bei uns Isolation, Einsamkeit, Ausgeschlossensein von Kultur und Öffentlichkeit und damit von der Gesellschaft.
    Wir werden uns nicht an einer Debatte beteiligen, die von der Alterslast redet und damit vor allem schon einmal die Stimmung verbreitet, eigentlich seien die Alten kaum finanzierbar, sondern wir fordern die Verständigung auf den Grundkonsens, daß keiner und keine in dieser Gesellschaft Angst vor Armut im Alter haben dürften.
    Ihr Kollege Fink ist da ein bißchen weiter als Sie. Er formuliert zumindest die Aufgabe, daß alte Menschen von unwürdiger Sozialhilfeabhängigkeit befreit werden müßten, daß alte Menschen nicht mehr auf ihre Kinder verwiesen werden dürften. Nur bewegen sich seine Vorschläge auf einem viel zu niedrigen Niveau. Dieser Gedanke spielt jedoch in der bevorstehenden Rentendebatte offensichtlich keine Rolle.



    Frau Beck-Oberdorf
    Ich wiederhole, Sie werden keine Rentenreform, sondern nur eine schlechte Rentenreparatur vornehmen. Solange nicht jeder alte Mensch in dieser so reichen Gesellschaft mit wenigstens einem Minimum von 1 200 DM ausgestattet wird, kann von Sozialstaat nicht die Rede sein.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das alles ist finanzierbar. Allerdings würde das ein anderes Verteilungsmuster verlangen; es würde bedeuten, an Privilegien zu rütteln, an denen der Beamten z. B., auch an denen der Selbständigen, und es verträgt sich vor allem nicht mit einer Gesellschaftspolitik, die sich, wie z. B. die Steuerreform zeigt, den Wohlhabenden verschrieben hat.
    Ganz und gar zynisch ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag der FDP, wenn sie von privater Altersvorsorge spricht. Der Herr Graf ist leider nicht da, aber ich möchte ihn trotzdem fragen, wie er denn den Frauen mit einem Einkommen von 440 DM die private Altersvorsorge empfehlen kann?

    (Widerspruch bei der FDP)

    Mit besonderer Spannung aber werden wir beobachten, auf welche Seite sich die SPD schlagen wird. Wie nicht selten sehen wir hier ein doppeltes Spiel. Der Parteitag hat soeben die Idee einer Grundsicherung festgeschrieben,

    (Andres [SPD]: Das macht euch schwer zu schaffen!)

    und die Damen und Herren der Fraktion buhlen bereits um die Aufnahme in den großen Kompromiß der Reformer, die jede Form einer Grundversorgung ablehnen: ein typischer SPD-Spagat.

    (Heyenn [SPD]: Wo haben Sie das gelesen? Partielles Wahrnehmungsvermögen! — Dreßler [SPD]: O Gott, o Gott! — Weitere Zurufe von der SPD)

    Glauben Sie tatsächlich, meine Damen und Herren von der SPD, Ihre zukünftige Regierungsfähigkeit dadurch unter Beweis stellen zu können, daß Sie in einer derart existenziellen Frage klein beigeben? Wir werden uns noch sprechen.

    (Zurufe von der SPD: Ja! — Bohl [CDU/CSU]: Das sind leere Versprechungen!)

    Wir werden sehen, wie das bei Ihnen weitergeht.
    Am Rand stehen in diesem Lande vor allem auch die, die landläufig als arbeitslos bezeichnet werden, die aber nur ohne Erwerb sind. Auch hier hilft Ihre satte Zufriedenheit über das wirtschaftliche Wachstum nicht. Fast 4 % Wachstum, und die Zahl der Erwerbslosen nimmt nicht ab! Wollen Sie die Männer und Frauen, die Jugendlichen, die angeblich nicht gebraucht werden, auf 10%iges Wachstum vertrösten? Es gibt keine Ansätze von Ihnen, das Selbstverständlichste der Welt anzusteuern, nämlich allen Menschen Erwerbsmöglichkeiten zu bieten, und das, obwohl die notwendigen Aufgaben überall sichtbar sind, die Betreuung der Alten und Kinder, die Beseitigung von Luft- und Müllnotstand, die Sanierung der Kläranlagen und und und. Statt dessen liegt Arbeitskraft brach, während andere durch Überstunden und Mehrarbeit fast erdrückt werden.
    Diese Regierung bleibt tatenlos, was die Umverteilung von Arbeit angeht, nein, sie hat sie sogar bekämpft. Sie haben mit Ihrer Reform der Arbeitszeitgesetzgebung die historische Chance zur Umverteilung von Arbeit auf alle vertan. Ebenso hat Herr Zimmermann in der letzten Tarifrunde für den öffentlichen Dienst die Möglichkeit dieser Umverteilung von Arbeit und Einkommen blockiert. Statt dessen treiben Sie die erwerbslosen Menschen in Verzweiflung. Offensichtlich halten Sie das für politisch gefahrlos, solange es Ihnen weiterhin gelingt, die Erwerbslosen zu marginalisieren.
    Es kommt sogar noch schlimmer. Im Hause Blüm wird bereits die nächste schamlose Umverteilungsorgie eingeläutet, die da heißt: 9. AFG-Novelle, mit der Sie ein weiteres Mal beweisen, daß Ihre Phantasie keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, die steigenden Kosten der Erwerbslosigkeit die Erwerbslosen selbst tragen zu lassen.

    (Andres [SPD]: So ist das!)

    Welche Kürzungen hier anstehen, geht bereits durch die Presse, obwohl wir als Parlamentarier die Vorlage skandalöserweise noch nicht einmal haben.
    Die CDU in Bremen startet gerade eine Kampagne gegen das zunehmende Betteln auf der Straße. Der Anblick bettelnder Menschen paßt wohl nicht in das Bild der so aufgeräumten Bundesrepublik. Armut soll unsichtbar bleiben. Der erste Schritt gegen ihre Politik muß in der Sichtbarmachung von Armut und Ungerechtigkeit bestehen. Im zweiten werden die Menschen sich hoffentlich zur Wehr setzen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)