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ID1109003600

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    Plenarprotokoll 11/90 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 90. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Dr. Vogel SPD 6113 B Dr. Waigel CDU/CSU 6124 C Frau Vennegerts GRÜNE 6133 B Dr. Bangemann FDP 6136B Dr. Kohl, Bundeskanzler 6141 B Dr. Ehmke (Bonn) SPD 6152 B Rühe CDU/CSU 6160A Genscher, Bundesminister AA 6165 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 6168 C Wimmer (Neuss) CDU/CSU 6170D Kühbacher SPD 6174 A Frau Seiler-Albring FDP 6179A Frau Beer GRÜNE 6181 C Dr. Scholz, Bundesminister BMVg 6183 D Gerster (Worms) SPD 6188 C Dr. Friedmann CDU/CSU 6190 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 6193 D Dr. Hauchler SPD 6197 B Hoppe FDP 6201 A Volmer GRÜNE 6202 B Nächste Sitzung 6205 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 6207* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 6113 90. Sitzung Bonn, den 7. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Andres 7. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Brandt 7. 9. Büchner (Speyer) 7. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Clemens 7. 9. Frau Dr. Däubler-Gmelin 7. 9. Gallus 8. 9. Dr. Glotz 7. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger** 9. 9. Dr.-Ing. Kansy** 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Kelly 8. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)** 9. 9. Lutz 7. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Frau Pack* 7. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Dr. Riedl (München) 7. 9. Seidenthal 7. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Frau Terborg 7. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
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    Ich verstehe ja, daß Sie nun immer wieder sagen, wie Sie das INF-Abkommen gemacht haben. Aber, Herr Bundeskanzler, daß wir — trotz aller Fehler, die wir gemacht haben; wir auch, ich sage das jetzt gar nicht parteipolitisch — am Ende beim INF-Abkommen gelandet sind, das ist zu 90 die Folge der Tatsache, daß mit Herrn Gorbatschow ein Wechsel in der sowjetischen Führung und in der sowjetischen Politik eingetreten ist.

    (Rühe [CDU/CSU]: Das ist eben ein großer Irrtum!)

    Wenn Sie das nun wirklich für sich in Anspruch nehmen wollen, dann müßten Sie dem Hohen Hause darlegen, wie Sie Herrn Gorbatschow in Ihrer historischen Allmacht zum Generalsekretär der KPdSU befördert haben. Aber ich weiß — ich sage das noch einmal —, auch wir haben Fehler gemacht.

    (Rühe [CDU/CSU]: Können Sie den Fehler einmal genauer bezeichnen?)

    Das habe ich hier von dieser Stelle aus schon gesagt. Aber nun so zu tun, das sei da alles glatt gelaufen — ohne Gorbatschow wäre gar nichts gelaufen.
    Ich möchte noch einmal wiederholen, was ich in der letzten Plenardebatte vor den Ferien hier gesagt habe: Eine Auf- oder Nachrüstung im Bereich nuklearer Raketen oder Flugkörper nach dem INF-Vertrag ist mit der SPD nicht zu machen.

    (Beifall bei der SPD)

    Eine solche Modernisierung, wie Herr Scholz sie nicht nur empfiehlt, sondern wie sie von der Hardthöhe auch vorbereitet wird, würde einen breit angelegten Rüstungswettlauf im Bereich der Raketen, übrigens aber auch im Bereich der Anti-Raketen-Raketen auslösen. Damit wäre die zweite Phase der Entspannungspolitik insgesamt gefährdet — ich glaube, der Außenminister teilt da unsere Meinung, wenn ich seine Potsdamer Rede richtig verstehe — , weil die mit dem Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß untrennbar verbunden ist. Dafür, Herr Bundeskanzler, darf die Regierung die Verantwortung nicht übernehmen, auch nicht durch Nichtstun.
    Es ist an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Ihr Versäumnis käme den deutschen Interessen, käme uns allen teuer zu stehen. Die Linie des Weiterlaufenlassens, des Taktierens — erst einmal amerikanische Wahlen abwarten, am liebsten dann noch die Bundestagswahl 1990 aussitzen — kann nur zu politischem Schiffbruch führen. Darum sage ich noch einmal, Herr Bundeskanzler: Sie sollten diese Unklarheiten ausräumen. Es ist nicht gut für uns, wenn die stehenbleiben. Es ist auch nicht gut für unser Verhältnis zu den Alliierten,
    die, wie wir alle wissen, in diesen Fragen zum Teil anderer Meinung sind.
    Noch eines, Herr Bundeskanzler. Ich finde, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich in irgendeiner Form vor den Bundesaußenminister gestellt hätten, als dieser in einem ausländischen Zeitungsartikel, dessen Inspiratoren unschwer zu erraten sind, ich kann nur sagen: im Stil der McCarthy-Zeit angegriffen worden ist.

    (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

    Wir finden das peinlich und sind Frau Dönhoff dankbar, daß sie in ihrer Zeitung das richtige Wort zu diesem Angriff gefunden hat.

    (Beifall der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP])

    Wir sagen Ihnen noch eines. Wir sind nicht darauf aus, einen Raketen-Wahlkampf zu führen. Wir haben im Bereich der Finanz- und der Gesellschaftspolitik usw. genug zu streiten. Aber wenn in der Frage der Modernisierung keine Klarheit geschaffen wird, werden wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen. Sie können sicher sein: Wir werden dabei in dieser Republik nicht allein sein.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Nach unserer Meinung — ich wiederhole das, gerade weil der Bundeskanzler heute in einem eher werbenden Ton gesprochen hat — wäre es sehr vernünftig, gerade in dieser schwierigen Situation in der eigenen Allianz die deutschen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Unsere Vorschläge dazu sind auf dem Tisch:
    Zunächst: Baldiger Beginn von Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. Ziel muß die Schaffung konventioneller Stabilität vom Atlantik bis zum Ural bei Herstellung beiderseitiger Angriffsunfähigkeit sein. Ich glaube, das ist konsensfähig.

    (Rühe [CDU/CSU]: Klar!)

    Dann: Baldige Aufnahme von Verhandlungen über den Abbau auch der nuklearen Kurzstreckenwaffen bis hinunter zu den nuklearen Gefechtsfeldwaffen. Diese Verhandlungen können parallel zu den KRK-Verhandlungen laufen, in denen die doppelverwendungsfähigen Trägersysteme mit verhandelt werden müssen. Sie haben heute unter Bezugnahme, glaube ich, auf das NATO-Kommuniqué von Reykjavik gesagt: Es ist verabredet worden, daß die einbezogen werden. Der Bundesaußenminister sagt das seit langem. Kollege Rühe dagegen sagt — nun muß ich ihn strafend ansehen — in seinem Interview von gestern oder vorgestern: Na ja, das hat Zeit; wir wollen erst einmal ein Ergebnis im konventionellen Bereich haben, dann würden wir auch darüber reden. Nein, Herr Rühe, Sie haben uns ja vor vier Monaten noch erzählt, wie furchtbar es sei, daß die Sowjets 1 400 Kurzstrekkenraketen haben und wir nur 88. Was ist denn in diesen vier Monaten passiert, das Sie zu der Einschätzung kommen läßt, man könne das ganze Zeug ja ruhig noch jahrelang stehen lassen, bis man ein erstes Ergebnis im konventionellen Bereich erzielt hat?

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Wir wollen sowjetische Abrüstung! — Rühe [CDU/CSU]: Wer hindert die denn, das einseitig wegzunehmen?)




    Dr. Ehmke (Bonn)

    — Augenblick! Wenn Sie sagen, Sie wollen anfangen, das Zeug einseitig wegzunehmen, haben Sie unseren Zuspruch. Aber bis jetzt ist die Position der Bundesregierung, daß zwar der Kanzler heute sagt, er wird verhandeln, daß aber keinerlei Vorschläge oder Schritte unternommen worden sind, auf das Verhandlungsangebot der Sowjets eine konkrete Antwort zu geben. Bitte bringen Sie das in Ordnung! So kann man doch nicht Politik machen! Sie glauben doch nicht, daß Sie die Alliierten umstimmen, indem Sie verschweigen, was eigentlich unsere Interessen sind, die Sie ja doch beim Thema „Fire-break" eher mit etwas jugendlicher Übertreibung dargestellt haben.

    (Rühe [CDU/CSU]: Sehr präzise!)

    Wenn das sehr präzise war, dann verstehe ich um so weniger, Herr Kollege Rühe, daß Sie sich jetzt jahrelang Zeit lassen wollen.

    (Koschnick [SPD]: Sehr wahr!)

    Schließlich: Weltweite Ächtung und Abschaffung chemischer Waffen. Darin sind wir uns wieder einig.
    Eines möchte ich hier klarmachen, Herr Kollege Rühe, auch in Ihrem Interesse, weil unser Beschluß vom Parteitag in Münster zum Beispiel von der FAZ teilweise dahin mißverstanden worden ist, als ob wir, weil wir genauso wie Herr Rühe einen einseitigen Anfang für möglich halten, generell eine einseitige Abrüstung wollten. Das ist nicht der Fall. Wir wollen eine insgesamt gleichgewichtige und keine einseitige Abrüstung. Aber in diesem Rahmen kann es durchaus — ich freue mich, daß ich da mit dem Kollegen Rühe übereinstimme — einseitige Schritte geben, z. B. in Fortsetzung von Montebello im Bereich der taktischen Gefechtsfeldwaffen.
    Ich glaube, das ist ein praktikables Programm. Herr Bundeskanzler, ich glaube, daß nur ein solcher Fortschritt im Abrüstungs- und Rüstungskontrollbereich den Weg für die Fortsetzung des politischen Prozesses von Entspannung und vertiefter Zusammenarbeit zwischen Ost und West öffnen kann. Und darum geht es im Kern.
    Lassen Sie uns den Primat der Politik vor der militärischen Rüstung wieder herstellen! Wie nie zuvor brauchen wir im Ost-West-Bereich eine Politik, die über den Tellerrand verzerrter Bedrohungswahrnehmungen die großen Gemeinschaftsaufgaben der Zukunft sieht und gemeinsam in Angriff zu nehmen versucht.
    In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, würden wir gern auch Ihren Moskau-Besuch sehen. An verschiedensten Andeutungen und Vorwegbelobigungen hat es ja nicht gefehlt. Von einer neuen Seite in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ist da die Rede, von einem historischen Markstein. Niemand würde das mehr begrüßen als die deutschen Sozialdemokraten, die mit dem Moskauer Vertrag von 1970 ja die Grundlage des neuen Verhältnisses zwischen Bundesrepublik und Sowjetunion geschaffen und durchgesetzt haben, gegen Ihren Widerstand. Aber noch ist der Verdacht nicht ausgeräumt, daß hier einmal mehr,
    Herr Außenminister, wie gegenüber Polen ein verbaler Rauchvorhang gelegt wird, hinter dem man dann die Dinge mehr oder minder sich selbst überläßt.
    Selbst ein Sympathien für das sowjetische System so unverdächtiger Zeuge wie Präsident Reagan hat neulich festgestellt, daß wir am Beginn einer neuen Ära der Geschichte, einer Zeit anhaltenden Wandels in der Sowjetunion stehen. Ich sage Ihnen: Wenn wir Westeuropäer und, Herr Bundeskanzler, wenn wir Deutschen die Chancen zu Entspannung und Abrüstung, zu Stabilität und einer neuen Qualität des Friedens, die der Reformkurs Gorbatschows bietet, nicht entschlossen für unsere politischen Belange nutzen, dann werden wir uns eines schweren historischen Versäumnisses schuldig machen.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie uns also Gorbatschows Abrüstungsangebote und nicht neue Raketen testen. Lassen Sie uns neue Wege der Ost-West-Zusammenarbeit beschreiten und nicht Hindernisse von der Art immer raffinierterer COCOM-Regelungen errichten.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Ich sehe heute im „Bonner Behördenspiegel" eine Anzeige, Herr Bundeskanzler: „Neue COCOM-Liste — Alles was nicht exportiert werden darf, zumindest nicht in bestimmte Länder" usw. — soundso viele Seiten —, „31,30 DM + MWSt und Porto". — Sie können sich vorstellen, wie dick das ist. Das darf nicht dicker werden. Es ist Unsinn, zu meinen, daß der Westen etwas gewinnt, wenn wir den Osten in diesem Bereich möglichst drosseln. Das war falsch. Darum waren auch Ihre SDI-Abkommen falsch. Wir müssen vielmehr auf eine Sowjetunion setzen, die, unter dem Druck ihrer eigenen Nöte und gezogen von der Möglichkeit der friedlichen Zusammenarbeit mit uns, ihre Aggressivität, ihre Geheimnistuerei, ihren Totalitarismus ablegt und so ein viel berechenbarerer Partner für eine Friedenspolitik in Europa wird.
    Lassen Sie uns auf eine solche Friedensordnung in Europa hinarbeiten, in der die sinnlosen Waffenberge abgebaut werden, in der Menschenrechte gewährleistet sind und in der gemeinsame Aufgaben gemeinsam in Angriff genommen werden! Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme in Ost und West müssen in einem friedlichen Wettbewerb ihre positiven statt — wie im Kalten Krieg — ihre negativen Möglichkeiten entwickeln. Das sind die Maßstäbe, Herr Bundeskanzler, an denen wir auch Vorbereitung und Verlauf Ihrer Moskaureise messen werden.
    Ich füge eines hinzu — ich sage das heute mit größerer Dringlichkeit als vorher; ich wundere mich etwas über den Stand der Dinge, weil ich weiß, Herr Bundeskanzler, daß Sie persönlich an der polnischen Problematik besonders interessiert sind — : Über diesen Besuch in Moskau darf der Gesamtzusammenhang unserer Ost-West-Politik, dürfen vor allen Dingen unsere Beziehungen zu Polen nicht vergessen werden, sie dürfen nicht ins Hintertreffen geraten. Was sich jetzt abzeichnet — daß Sie nach Moskau fahren, noch bevor der Termin für Ihren Besuch in Polen feststeht — , ist ungefähr das Schlimmste, was sich



    Dr. Ehmke (Bonn)

    deutsche Außenpolitik in falscher Psychologie leisten kann.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU)

    — Dann fragen Sie einmal Ihre Kollegen, die dankenswerterweise jetzt immer häufiger nach Polen fahren. Die werden Ihnen meine Einschätzung bestätigen.
    Daß uns die Vergangenheit für die Pflege und den Ausbau des Verhältnisses zu Polen besondere Verantwortung auferlegt, ist gemeinsame Überzeugung in diesem Haus. Gerade deshalb, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, sind wir besorgt über den gegenwärtigen Stillstand der Beziehungen. Die Erwartungen, die der Außenminister mit seinem Besuch in Warschau zu Anfang dieses Jahres geweckt hat, sind in keiner Weise erfüllt worden. Die Arbeit der Anfang des Jahres eingesetzten drei Kommissionen stockt, und wie ich jetzt höre, wird nun auch noch mangels Masse der Besuch des polnischen Außenministers weiter hinausgeschoben.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Wenn das nicht so ist, dann sagen Sie das hier. Wir würden dann auch gerne wissen, wann der Kanzler und wann der Bundespräsident der Einladung nach Polen folgen werden.
    Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung, vielleicht mehr der Finanzminister als der Außenminister, es an Ideen und Initiativen fehlen läßt, um den Versuch zu machen, im Rahmen des uns Möglichen Polen aus seinen ernsten Schwierigkeiten zu helfen. Indessen geht das Land in diesen Tagen durch eine weitere schwere innere Belastungsprobe.
    Wir Sozialdemokraten machen keinen Hehl aus unserer Auffassung und haben keinen Hehl daraus gemacht, daß diese Krise nur bewältigt werden kann, wenn die Reformkräfte in Regierung und Gesellschaft auf breiter Basis zusammenwirken. Es scheint, daß dieser Kurs nun eingeschlagen wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Für unser Verhältnis zu Polen, ein Kernstück sozialdemokratischer Ostpolitik in den 70er Jahren, gilt in besonderer Weise der Satz, daß verbale Beteuerungen nur so viel wert sind wie die sie begleitenden konkreten wirtschaftlichen und politischen Taten. Ich befürchte, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung einmal mehr eine Chance ausläßt, indem sie sich gegenüber Polen und seinen Schwierigkeiten auf eine Haltung des Abwartens zurückzieht.
    Wenn ich jetzt die verehrten Herren des Kabinetts für einen Augenblick um besondere Aufmerksamkeit bitten darf: Ich höre, daß es eine Initiative geben soll, Polen, das demnächst sein Verhältnis zur EG regeln wird, aus den Überschüssen der EG zu helfen. Die Regierung würde unsere Unterstützung haben, wenn sie sich einer solchen EG-Initiative anschlösse. Das wäre schon einmal ein erster Schritt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich kriege viele Leserbriefe oder Zuschriften in die- I sen Tagen

    (Zuruf des Abg. Erler [SPD])

    — ja, ja, Leserbriefe an Zeitungen und Zuschriften an mich selbst; das ist schon so gemeint, Gernot — , in denen ich gefragt werde: Wie können Sie dafür eintreten, daß Polen noch Schulden erlassen werden und es Geld kriegen soll, nach all dem, was ihm zu Giereks Zeiten schon gegeben worden ist und was nicht geklappt hat usw.? Ich nehme diese Einwände ernst. Aber ich möchte den Menschen, die das fragen, in Erinnerung rufen, was Willy Brandt im November 1985 anläßlich des 15. Jahrestages des Warschauer Vertrages im Warschauer Königsschloß gesagt hat:
    Ohne Stabilität Polens kann es keine Stabilität Europas geben.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Bei allem was wir mit der Sowjetunion und mit der DDR machen, sollten wir die Wahrheit dieses Satzes nicht vergessen. Das heißt auch: Ohne Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage wird Polen es nicht schaffen, die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Reformen in Angriff zu nehmen und mit Erfolg durchzuführen. Hier hat die Bundesregierung ihre Pflicht noch nicht erfüllt.
    Ich füge etwas pointiert hinzu: Es liegt nicht an den deutschen Banken, daß es z. B. bisher nicht gelungen ist, für Polens drängendes Schuldenproblem konstruktive Lösungen zu finden.
    Ich sage allen: Man braucht sich ja nur das, was in Polen vorgeht, und die Hunderttausende von Menschen, die aus Polen zu uns gekommen sind, anzusehen, um sich zu fragen: Welches Polen und welches Osteuropa wollen wir? Eines, das wirtschaftlich stabil im gesamteuropäischen Rahmen mit uns zusammenarbeiten kann, oder ein Polen und ein Osteuropa, das ein Armenhaus in Europa wird und uns dann viel mehr Probleme schaffen wird, als wenn wir jetzt versuchen, Polen wieder auf die Beine zu helfen?

    (Beifall bei der SPD)

    Damit komme ich noch einmal auf die Finanzpolitik zurück. Herr Bundeskanzler, Ihre Regierung scheint für alles Geld zu haben: für neue Waffen, für die Förderung eines Rüstungskonzerns, der mit der Wettbewerbsordnung in unaufhebbarem Widerspruch steht, für die weitere Auffüllung des Milliardengrabs Schneller Brüter, obwohl das Projekt energie- wie sicherheitspolitisch nicht mehr zu verantworten ist,

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Haben Sie angefangen!)

    für ständig steigende Subventionen einer nicht nur verfehlten, sondern geradezu absurden Agrarpolitik. Für alles das haben Sie Geld. Aber für die Förderung des Zusammenwachsens Europas — und das könnte einer der großen deutschen Beiträge in Richtung Gesamteuropa sein — haben Sie so wenig Geld wie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich muß sagen: Hier verbindet sich finanzpolitisches Versagen mit



    Dr. Ehmke (Bonn)

    außenpolitischen Versäumnissen zu einem Strickmuster beängstigender politischer Inkompetenz.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur deutsch-französischen Zusammenarbeit sagen. Mit diesem Thema wird sich, sobald Sie Ihre Streitigkeiten mit der Bundesbank ausgeräumt haben, das Haus noch ausführlich zu befassen haben, wenn die im Januar unterzeichneten Zusatzprotokolle zum ElyséeVertrag hier zur Ratifizierung vorgelegt werden. Ratifizierung ist ja vereinbart worden. In diesem Zusammenhang werden wir dann im breiteren Rahmen über unsere politische Zusammenarbeit mit dem französischen Partner zu sprechen haben, von dem die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik und Abrüstungspolitik nur ein Teil ist.

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    Wir Sozialdemokraten haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit auch in der Friedens-, Sicherheits- und Abrüstungspolitik hohe Priorität hat. Nicht zufällig ist die Vertiefung gerade der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Frankreich noch unter Helmut Schmidt eingeleitet worden.
    Wenn nun aber — ich danke Ihnen für Ihren Brief, Herr Außenminister, auf meine Fragen in bezug auf die Protokolle — im Protokoll über die Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats vom 22. Januar 1988 festgelegt werden soll, daß sich die beiderseitige Abschreckungs- und Verteidigungs-Strategie „weiterhin auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte" stützen müsse, so wird hier unseres Erachtens ein falscher Weg beschritten. Eine solche Festschreibung der Strategie der nuklearen Abschreckung kommt für uns nicht in Betracht,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    zumal wir die Festschreibung einer Strategie in einem Vertrag generell für politisch unklug halten. Das hat es auch noch nicht gegeben. Überlegen Sie sich das bitte noch einmal.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wir haben nicht vor — um das ganz klar zu sagen —, die bisherige Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen nuklearen Vernichtung nun statt mit Amerika mit Frankreich fortzusetzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wollen sie durch eine Politik und Strategie der gemeinsamen Sicherheit ablösen.

    (Lamers [CDU/CSU]: Mit Ihnen gibt es keine deutsch-französische Zusammenarbeit!)

    Politisch entscheidend ist nach unserer Auffassung etwas ganz anderes als diese Protokolle. Wir müssen endlich ernst machen mit der Kernbestimmung des Elysée-Vertrages von 1963, die zur Abstimmung der außen- und sicherheitspolitischen Konzepte aufruft. Das heißt, wir müssen mit Frankreich gemeinsam die zweite Phase der Entspannungspolitik einschließlich der dazugehörigen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik konstruktiv gestalten. Hier stellt sich
    dann vor allen Dingen die Frage der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich im konventionellen Bereich, um hier auf dem Kontinent eine ausreichende konventionelle Verteidigungs- und Abhaltungskraft bei beiderseitiger Angriffsunfähigkeit zu schaffen. Das ist das zentrale militärische Problem, das wir mit Frankreich zu erörtern haben.
    Herr Lamers, Sie haben korrekt gesagt, die Franzosen sehen das etwas anders. Ich muß hinzufügen: Manche meiner französischen Genossen sehen es in besonderem Maße anders.

    (Lamers [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)

    Aber bevor wir in den Diskussionsprozeß gehen — es ist ein Prozeß, der auch schon Fortschritte gebracht hat —, ist es sehr gut, die eigene Position zu umreißen, statt ohne dies mit Leuten, die eine Position haben, ein Gespräch zu beginnen, sich langziehen zu lassen und dann bei etwas zu landen, was hinterher keiner gewollt hat. Wir haben unsere Position klargemacht — machen Sie das bitte auch —, bevor wir dort weiter verhandeln.

    (Beifall bei der SPD)

    Wie unklar Ihre Positionen bisher sind, habe ich gerade dargelegt, Herr Lamers.
    In dem Ziel, durch ein Optimum an deutsch-französischer Zusammenarbeit die politische Handlungsfähigkeit Westeuropas dauerhaft zu stärken, sind wir uns einig, jedenfalls im großen und ganzen. Was diese Bundesregierung jedoch an praktischen Schritten unternimmt, Herr Bundeskanzler und Herr Verteidigungsminister, hat eher symbolischen als praktischen Charakter. Ich fürchte, gerade dieser symbolische Charakter, so gut er gemeint ist — ich unterstelle keine schlechten Motive — , wird auf die Dauer eine engere Zusammenarbeit erschweren. Das gilt auch für die geplante deutsch-französische Brigade, für die ich überhaupt keine Zukunft auf höherer Truppenebene sehe.
    Aber auch angesichts dieser Unterschiede wäre es gut, wenn wir uns im deutsch-französischen Verhältnis über drei Dinge klar und einig sein würden. Nämlich erstens daß wir keine Großmachtrolle Westeuropas anstreben. Zweitens daß wir keine andere Westeuropäer ausschließende Militärachse Bonn/Paris anstreben, weil das zu einer Schwächung Westeuropas führen würde. Und drittens daß eine solche Schwächung Westeuropas die Erfüllung der Ost und West gleichermaßen gestellten Aufgabe erschweren würde, in Kooperation wie in Wettbewerb miteinander eine stabile Friedensordnung für ganz Europa zu schaffen.
    Eine gemeinsame Politik, um diese drei Ziele — nicht irgendeinen waffentechnischen Kleinkram der Verteidigungsministerien — zu erreichen, das ist die große Aufgabe, auf die wir uns in unserem Verhältnis zu Frankreich gemeinsam konzentrieren sollten.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP)






Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.

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    Rede von Volker Rühe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben schon gestern nach der Rede unseres Finanzministers den Eindruck gehabt, daß die Debatte für die Koalition gut läuft. Ich muß Ihnen sagen, heute morgen ist dieser Eindruck verstärkt worden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Ehmke, einige Bemerkungen, die Sie heute nachmittag am Anfang gemacht haben, zeigen nur, wie sehr die Opposition in die Defensive geraten ist, und einer Opposition kann nichts Schlimmeres passieren, als daß sie in einer so wichtigen Haushaltsdebatte in die Defensive gerät, Herr Kollege Vogel.
    Herr Kollege Ehmke, es waren, wie ich finde, auch einige Entgleisungen dabei, auf die man eingehen muß. Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er sei realitätsblind

    (Volmer [GRÜNE]: Ein schwacher Vorwurf!)

    und mache eine Politik für die oberen Zehntausend.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ich habe das festgestellt!)

    Ich kann nur sagen: Überlassen wir es den Zuhörern, zu beurteilen, wer von den Rednern heute die Realität in der Bundesrepublik Deutschland am genauesten geschildert hat. Die sollen das draußen entscheiden, und da haben wir, so glaube ich, hervorragende Karten, was unsere Einschätzung der Realität in der Bundesrepublik Deutschland angeht.

    (Koschnick [SPD]: Lauter Joker!)

    Ganz anders steht es um Sie, Herr Kollege Ehmke. Zwar haben Sie sich hinter Augustinus versteckt, aber Sie haben gesagt, dies sei ein Staat ohne Gerechtigkeit und deswegen eine Räuberbande. Ich finde, das ist eine schlimme Entgleisung.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Von Augustinus?)

    Ich muß Ihnen sagen: Ich bin stolz darauf, wieviel Gerechtigkeit wir durch unsere Politik verwirklicht haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wer die Bundesrepublik Deutschland mit einer Räuberbande vergleicht, begeht, wie ich finde, eine schlimme Fehleinschätzung. Noch niemals in der deutschen Geschichte hat es so viel Gerechtigkeit gegeben, und eine Opposition, die nicht in der Lage ist, das zu sehen, ist blind gegenüber den Realitäten dieses Landes.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sagen Sie das einmal den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern!)

    Sie machen den zweiten Fehler, sich nicht entscheiden zu können. Jetzt haben Sie Herrn Stoltenberg als Lottokönig bezeichnet. Weil die Daten so überzeugend sind, hat er angeblich im Lotto gespielt und gewonnen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Nein, weil die Bundesbankgewinne so wachsen!)

    Aber so können Sie doch nicht argumentieren.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Doch!)

    Wenn es im Lande gut geht, hat er im Lotto gespielt, und wenn es schlecht geht, sind die Weichen falsch gestellt worden. Sie müssen sich einmal entscheiden, ob die Regierung ein Lottospieler oder ein Weichensteller ist. Ich sage Ihnen: Diese Regierung hat in den letzten fünf sechs Jahren die Weichen in eine richtige Richtung umgestellt, in der wir in diesem Lande auch wieder Erfolg haben können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Von unten nach oben!)

    Es ist nicht im Lotto gewonnen worden, sondern die Weichen sind richtig gestellt worden, und erst wenn Sie die Weichen richtig stellen, können Sie manchmal auch noch das Glück haben, daß der Zug vielleicht noch ein bißchen schneller in die richtige Richtung fährt. Aber, Herr Kollege Ehmke, Sie als Opposition haben kein Pech im Lotto, sondern die falsche Politik. Der Bundesparteitag der SPD hat ja auch gezeigt, daß Sie in den entscheidenden Zukunftsfragen unseres Volkes zerstritten sind und keine klare Politik formuliert haben. Daran sollten Sie weiter arbeiten.

    (Dr. Vogel [SPD]: Zerstritten? Das müßt ihr sagen!)

    Das gilt nun auch für die Außenpolitik. Sie haben zu mehr Gemeinsamkeit aufgerufen, zu der man immer bereit sein sollte. Die Chancen dafür sind um so besser, je klarer die Analyse der Politik der Vergangenheit ist.
    Sie haben gesagt, Sie hätten Fehler gemacht, aber obwohl ich nachgefragt habe, haben Sie diese nebulose Bemerkung nicht präzisiert.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die haben Sie hier von mir schon oft gehört! Nachgucken!)

    Wenn Sie behaupten, daß der Mittelstreckenvertrag sozusagen ein Geschenk von Herrn Gorbatschow sei, daß wir ihn also Herrn Gorbatschow zu verdanken hätten und daß wir ihn auch erreicht hätten,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ohne ihn hätten wir ihn nie bekommen!)

    wenn wir 1983 unter dem Druck der Sowjetunion auf die Nachrüstung verzichtet hätten, wenn Sie das behaupten, dann verzerren Sie die Vergangenheit, dann sind Sie nicht imstande, für die Zukunft die richtige Politik zu betreiben, und dann gibt es auch keine Chance für größere Gemeinsamkeiten, Herr Kollege Ehmke. Denn es gibt überhaupt keinen Ansatzpunkt dafür, daß wir dieses Ergebnis hätten erreichen können, Herr Kollege Ehmke, wenn es auf der westlichen Seite weiterhin bei Null geblieben wäre. Dieser Vertrag ist kein Geschenk von Herrn Gorbatschow, sondern er ist im Westen schwer erarbeitet worden, übrigens auch gegen Ihren Widerstand. Das ist eine



    Rühe
    Grundlage für die Entscheidungen auch in der Zukunft.
    Ich habe gesagt, wir wollten jetzt zunächst Verhandlungen im konventionellen Bereich. Das bedeutet aber nicht, daß die Ungleichgewichte im nuklearen Bereich nicht in der Zwischenzeit beseitigt werden können. Ich vermisse Ihren Appell an die Sowjetunion, die erheblichen Ungleichgewichte bei den Kurzstreckenraketen unter 500 km einseitig herunterzubringen, so wie das auch die NATO in der Vergangenheit gemacht hat.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die haben es schriftlich! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Warum sind sie denn gegen Verhandlungen?)

    Ich habe ja selber vorgeschlagen, daß auch die NATO bei den Systemen, bei denen wir das geringste Interesse haben und die im übrigen auch schwer zu verifizieren sind, wie etwa die nukleare Artillerie, zu weiteren einseitigen Schritten bereit sein sollte. Es braucht also in diesem Bereich keinen Stillstand zu geben. Zunächst einmal haben allerdings die Verhandlungen im konventionellen Bereich Vorrang. Dazu will ich gleich noch etwas sagen.
    Aber zunächst noch einmal zur Einschätzung der Politik Gorbatschows, weil das auch in der Debatte eine Rolle gespielt hat und weil es vor der Reise des Bundeskanzlers sicherlich wichtig ist, daß ich hierzu aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch einmal etwas Grundsätzliches feststelle. Ich meine, wir sollten den Reformkurs Gorbatschows nicht als ein gigantisches Täuschungsmanöver ansehen. Wer so denkt, der wird wahrscheinlich ständig von seinen eigenen Fehlurteilen und Fehlprognosen eingeholt werden und hinter der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinken. Wir sollten, um das andere Extrem anzusprechen, aber auch nicht die Ergebnisse sowjetischer Reformen vorwegnehmen und dementsprechend unsere Politik vorauseilend verändern, solange dafür nicht die Grundlagen in der Substanz gegeben sind. Denn eine solche Politik, die Worte und Absichten, so ernsthaft und glaubwürdig sie auch sein mögen, schon für bare Münze nimmt, würde dazu führen, daß die Wahrung unserer eigenen Interessen nicht mehr möglich ist und damit auch unsere Sicherheit untergraben wird.
    Wir sollten also auch nicht euphorisch fragen, wie wir Gorbatschow helfen können; denn ich meine, in dieser Frage liegt auch eine Überschätzung unserer tatsächlichen Möglichkeiten. Denn unsere Bereitschaft, zu neuen Wegen der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu kommen, kann doch immer nur an das anknüpfen, was es an tatsächlichen neuen Entwicklungen in der Sowjetunion gibt.
    Was wir brauchen, ist, wie ich meine, ein absoluter Realismus. Ich finde, wir sollten nüchtern und aufgeschlossen auf die Sowjetunion zugehen und ihr bei den Reformanstrengungen Mut machen. Wir sollten übertriebenes Mißtrauen zurückstellen, aber auch immer wieder deutlich machen, daß für uns nicht die Worte, sondern die Taten entscheidend sein werden.
    Absoluter Realismus im Umgang mit der Sowjetunion bedeutet, daß wir die Veränderungen und Verbesserungen nicht übersehen und daß wir sie auch nicht herunterspielen, sondern daß wir z. B. sagen, daß Glasnost eine Realität ist — übrigens im Unterschied zu Perestroika, gerade im wirtschaftlichen und politischen Bereich — , daß es eine neue Einstellung der Sowjetunion zur Frage der Inspektionen vor Ort gibt und daß die Sowjetunion im Rahmen des Mittelstreckenabkommens zu asymmetrischer Abrüstung bereit gewesen ist. Es wäre eine unrealistische Politik, diese Veränderungen und Verbesserungen nicht zur Kenntnis zu nehmen.
    Absoluter Realismus bedeutet allerdings auch, daß wir das, was es nach wie vor an Bedrohung und an Unterdrückung gibt, weiterhin deutlich beim Namen nennen. Das gilt z. B. für die Tatsache, daß sich die neuen Formulierungen über die defensive Militärdoktrin noch kaum in der Praxis niedergeschlagen haben. Es wäre also auch eine unrealistische Politik, wenn wir das, was es an äußerer Bedrohung und an innerer Unterdrückung immer noch gibt, übersehen oder verschweigen würden.
    Größere Offenheit, politische Liberalisierung und Demokratisierung, Verbesserung der Lage der Menschenrechte in der Sowjetunion — all das liegt in unserem Interesse, weil langfristig damit eine neue Dimension des Ost-West-Verhältnisses mit weniger Antagonismus und mit reduzierter militärischer und politischer Konfrontation erreicht werden kann. Wir sollten deshalb unser konstruktives Verhalten gegenüber den sowjetischen Reformbemühungen mit Geduld und mit der für die Wahrung unserer eigenen Interessen und Werte notwendigen Festigkeit verbinden.
    Hierzu, zu unseren eigenen Interessen, möchte ich gern folgendes feststellen:
    Erstens. Unsere Grundwerte und unser freiheitliches Gesellschaftssystem stehen in diesem Prozeß nicht zur Disposition.
    Zweitens. Die transatlantische Sicherheitszusammenarbeit steht ebensowenig zur Verhandlungsdisposition wie die Notwendigkeit einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit einschließlich einer glaubwürdigen Minimalabschreckung. Abschreckung hat eben Clausewitz ad absurdum geführt. Das heißt, die Vorstellung, daß Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein könnte, hat ausgespielt, und sie darf niemals wieder Gegenstand der europäischen Realität werden, niemals wieder auch nur die geringste Chance erhalten.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Einverstanden!) — Gut.

    Drittens. Auch weiterhin wird die NATO ihre Verteidigungsplanung auf der Grundlage der sicherheitspolitischen Erfordernisse erstellen. Den Sowjets muß klar sein, daß ihr eigenes militärisches Verhalten das sicherheitspolitische Verhalten der NATO bestimmen wird. Militärische Zurückhaltung wird bei uns entsprechende Antworten finden.
    Viertens. Vor allem sollte klar sein, daß nach unserer Auffassung eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen nicht nur, nicht einmal in erster Linie durch



    Rühe
    Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zu erreichen sein kann, sondern vielmehr durch größere Offenheit, Freizügigkeit und die Verbesserung, was die Menschenrechte angeht. Politische Entspannung und militärische Entspannung müssen Hand in Hand gehen. Offenheit, Freizügigkeit und Menschenrechte haben eben sehr viel mit der Sicherheit in Europa zu tun, denn es gilt der Satz: Je offener Europa ist, desto sicherer ist es auch.
    Fünftens. Wir sind zu neuen Wegen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit. Entscheidende Voraussetzung dafür ist aber, wieweit die wirtschaftspolitischen Strukturen, auch die politischen Strukturen Möglichkeiten für eine solche engere Zusammenarbeit bieten. Es kann beispielsweise nicht darum gehen, mit der Schaffung des Binnenmarktes in Westeuropa die Teilung zwischen Ost und West zu vertiefen. Auf der anderen Seite können wir auch nicht die positive und dynamische Entwicklung in Westeuropa verwässern. Ich bin davon überzeugt, daß die Dynamik des EG-Binnenmarktes nicht vor den Grenzen zu Osteuropa haltmachen wird und daß sich, vorausgesetzt, daß sich der Reformprozeß in der Sowjetunion und in Osteuropa fortsetzt, hier gute Anknüpfungspunkte für neue Formen der Zusammenarbeit ergeben werden.
    Sechstens. Schließlich sollte klar sein, daß wir mit unserer Politik auf die Schaffung einer europäischen Friedensordnung zielen, in der die Teilung Europas und damit insbesondere auch die Teilung unseres Landes überwunden wird und auch unser Volk die Möglichkeit zu freier Selbstbestimmung und die Chance der Wiedererlangung der Einheit erreicht.
    Ich habe vorhin schon gesagt, wie wichtig die Verhandlungen im Bereich der Herstellung der konventionellen Stabilität sein werden. Es ist ja leider richtig, daß wir uns im westlichen Bündnis in den letzten zwei Jahren im wesentlichen damit beschäftigt haben, mit uns selbst zu verhandeln, zwar einige Grundsätze, aber noch nicht einen für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren überzeugenden Verhandlungsvorschlag entwickelt haben. Ich meine, daß es dazu hohe Zeit wird. Ich darf vielleicht einmal etwas ironisch anmerken, daß es doch gelegentlich so ist, daß westliche Politiker morgens um 7.30 Uhr, wenn einschlägige Rundfunkmagazine beendet sind und sie den jeweils neuesten Gorbatschow-Vorschlag der Woche kommentiert haben, glauben, daß es mit der konzeptionellen Arbeit des Tages im wesentlichen getan ist, und dann machen die Beamten die Verhandlungen in entsprechenden NATO-Gremien. Ich kann nur davor warnen. Wir sind völlig unnötig in die Defensive geraten,

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    und ich meine, daß es hohe Zeit wird, hier einen Vorschlag zu entwickeln, der klar ist, der einfach ist, der für unsere öffentliche Meinung nachvollziehbar ist

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Und der sogar noch sinnvoll ist!)

    und der von der Sache her einen Verhandlungsfortschritt erlaubt. Deswegen ist es entscheidend, daß
    auch Opfer und Einschnitte auf unserer eigenen Seite deutlich gemacht werden.
    Das ändert überhaupt nichts daran, daß natürlich derjenige, der mehr hat, auch mehr abrüsten muß, denn wir werden keine zusätzlichen Panzer produzieren, nur damit wir genausoviel wie der Herr Gorbatschow abrüsten können. Die Hauptlast bleibt bei der Sowjetunion, aber der westliche Vorschlag wird an Durchschlagskraft zunehmen, wenn wir deutlich machen, daß auch wir zu einschneidenden Opfern auf unserer Seite bereit sind. Verständlich, glaubwürdig und überzeugend sollte dieser Vorschlag sein, und ich meine, wir sollten uns zunächst auf die gefährlichsten Systeme konzentrieren, Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, die eine besondere Bedeutung für die Invasionsfähigkeit haben. Das bedeutet nicht, daß Flugzeuge aus diesem Verhandlungsprozeß ausgeschlossen sein werden, aber es gibt überzeugende Gründe, die in der Sache liegen, denn Flugzeuge — das dürfte auch der Opposition bekannt sein — sind nun mal mobiler als Panzer.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Rüstet sie doch ab!)

    Wenn Sie sie hinter den Ural verlegen, dann hat das eine sehr geringe Bedeutung, während es eine sehr viel größere Bedeutung hat, wenn Sie das mit Panzern machen. Wir scheuen Verhandlungen überhaupt nicht,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Macht doch mal einen Vorschlag!)

    denn auch bei den Flugzeugen gibt es im Gegensatz zu manchen Behauptungen eine sowjetische Überlegenheit. Aber wenn wir in einer absehbaren Zeit den Erfolg wollen, dann müssen wir uns jetzt zunächst auf die Systeme konzentrieren, von denen ich gesprochen habe.
    Wenn wir im übrigen die Zähne bei den Landstreitkräften ziehen, die für die Invasion entscheidend sind, dann reduziert das auch die Bedeutung der Flugzeuge. Mit Flugzeugen können Sie ein Land zerstören, aber nicht besetzen. Selbst wenn der Westen die Zahl seiner Flugzeuge verdoppeln würde, hätte er dennoch nicht die Fähigkeit zur Invasion, und zwar wegen der Zahlen im Bereich der Panzer und der Artillerie bei uns. Deswegen liegt hier der Schlüsselbereich.
    Ich habe einen Diskussionsvorschlag gemacht, den ich hier in seinen wesentlichen Elementen noch einmal kurz ansprechen möchte, und ich hoffe, daß er die Diskussion in der NATO in dem Sinne beeinflußt, wie ich das vorhin angesprochen habe. Für die Zentralregion sollten wir bei dem kampfentscheidenden Großgerät gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau unterhalb dessen, was die NATO heute hat, vereinbaren

    (Kühbacher [SPD]: Sehr gut!)

    und dann durch asymmetrische Abrüstung dieses erreichen. Das bedeutet immer noch, daß die Sowjetunion in diesem Bereich ein Vielfaches tun muß.
    Wenn dies geschehen ist, sollten wir zugleich zu einer Halbierung innerhalb dieser Obergrenzen des in der aktiven Truppe stehenden kampfentscheiden-



    Rühe
    den Großgerätes bereit sein und die Überführung des aus der aktiven Truppe herausgelösten Materials in Depots veranlassen, die dann unter gegenseitige Kontrolle gestellt werden. Die Verhandlungsformel könnte also lauten: gleiche Obergrenzen auf niedrigerem Niveau minus 50 %.

    (Kühbacher [SPD]: Sehr gut! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Fast wortgleich mit unserem Parteitagsbeschluß!)

    Dann kommt als drittes Element hinzu, daß das Verhältnis zwischen den Stationierungsstreitkräften und den einheimischen Streitkräften nicht stimmt. Das gilt in erster Linie für den Warschauer Pakt. Ich meine, in der Zentralregion des Warschauer Pakts sollte die Sowjetunion als Stationierungsmacht keineswegs mehr Panzer haben als alle die Staaten, wo sowjetische Panzer stationiert sind, zusammen.

    (Zustimmung der Abg. Frau Traupe [SPD])

    Das heißt, sie sollte höchstens 50 % haben. Wenn dies verwirklicht wird, dann würde das das Gesicht Europas verändern.
    Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es sollte möglich sein, sich in der Zentralregion auf jeweils 15 000 Kampfpanzer zu einigen. Die Hälfte davon könnte jeweils in Depots gelagert werden. Das würde bedeuten, daß nur 7 500 Kampfpanzer verbleiben. Wenn dann auch die dritte Regel gilt, daß kein Land als Stationierungsland mehr haben sollte, als die einheimischen Truppen ausmachen, dann würde das z. B. bedeuten, daß die Sowjetunion nach diesem Vorschlag nur noch 3 750 Kampfpanzer in den aktiven Einheiten außerhalb ihres eigenen Territoriums haben dürfte.

    (Frau Traupe [SPD]: Das ist auch mehr als genug!)

    Ich glaube, daß jedermann erkennen kann, daß dies ein tiefgreifender Schritt wäre, der sicherheitspolitisch und auch politisch das Gesicht Europas entscheidend verändern könnte.
    Ich meine, das ist ein Vorschlag, der sicherheitspolitisch verantwortbar ist und den wir deswegen mutig angehen sollten. Wir sollten diese Diskussion so führen, daß wir die Verhandlungen mit unserer Öffentlichkeit nicht Herrn Gorbatschow überlassen. Vielmehr sollten wir diese Diskussion selbst aktiv führen, so wie das auch Franz Josef Strauß gesagt hat: Wir müssen einen Vorschlag machen, den man nicht einfach vom Tisch wischen kann, sondern den man in diesen Verhandlungen ernst nehmen muß.

    (Sehr gut! bei der SPD)

    — Ich freue mich immer über Unterstützung.

    (Zuruf von der SPD: Unsere Beschlüsse in Münster!)

    Nur, ich muß Ihnen sagen, daß Sie etwas ganz anderes vorgeschlagen haben, Herr Vogel.

    (Dr. Vogel [SPD]: Nein, genau das!)

    Im Augenblick ist es so, daß die Sowjetunion in diesem Bereich 20 000 Panzer mehr hat als der Westen.
    Sie haben vorgeschlagen, daß jede Seite um 50 % reduziert,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Nein! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Den Parteitagsbeschluß richtig zitieren!)

    d. h. bei Ihnen bleiben die Ungleichgewichte, die wir jetzt haben, während wir hier in einem ersten Schritt Gleichheit herstellen und dann zu weiterer gleichgewichtiger Abrüstung kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich freue mich also über Ihren Beifall, aber überprüfen Sie noch einmal Ihre Politik, die hier weiterhin sehr stark auf einseitige Abrüstung setzt.