Rede:
ID1109002500

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 20
    1. Meine: 1
    2. Damen: 1
    3. und: 1
    4. Herren,: 1
    5. wir: 1
    6. treten: 1
    7. in: 1
    8. die: 1
    9. Mittagspause: 1
    10. ein.: 1
    11. Die: 1
    12. Aussprache: 1
    13. wird: 1
    14. um: 1
    15. 14: 1
    16. Uhr: 1
    17. fortgesetzt.Die: 1
    18. Sitzung: 1
    19. ist: 1
    20. unterbrochen.\n: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/90 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 90. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989: (Haushaltsgesetz 1989) (Drucksache 11/2700) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992 (Drucksache 11/2701) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988: (Nachtragshaushaltsgesetz 1988) (Drucksache 11/2650) Dr. Vogel SPD 6113 B Dr. Waigel CDU/CSU 6124 C Frau Vennegerts GRÜNE 6133 B Dr. Bangemann FDP 6136B Dr. Kohl, Bundeskanzler 6141 B Dr. Ehmke (Bonn) SPD 6152 B Rühe CDU/CSU 6160A Genscher, Bundesminister AA 6165 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 6168 C Wimmer (Neuss) CDU/CSU 6170D Kühbacher SPD 6174 A Frau Seiler-Albring FDP 6179A Frau Beer GRÜNE 6181 C Dr. Scholz, Bundesminister BMVg 6183 D Gerster (Worms) SPD 6188 C Dr. Friedmann CDU/CSU 6190 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 6193 D Dr. Hauchler SPD 6197 B Hoppe FDP 6201 A Volmer GRÜNE 6202 B Nächste Sitzung 6205 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 6207* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. September 1988 6113 90. Sitzung Bonn, den 7. September 1988 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 9. Andres 7. 9. Dr. Becker (Frankfurt) 9. 9. Böhm (Melsungen)* 9. 9. Brandt 7. 9. Büchner (Speyer) 7. 9. Dr. von Bülow 8. 9. Clemens 7. 9. Frau Dr. Däubler-Gmelin 7. 9. Gallus 8. 9. Dr. Glotz 7. 9. Dr. Hauff 9. 9. Hiller (Lübeck) 9. 9. Höpfinger 9. 9. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 9. Ibrügger** 9. 9. Dr.-Ing. Kansy** 9. 9. Frau Karwatzki 9. 9. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Kelly 8. 9. Kuhlwein 9. 9. Dr. Kunz (Weiden)** 9. 9. Lutz 7. 9. Dr. Meyer zu Bentrup 8. 9. Niegel* 9. 9. Oostergetelo 9. 9. Frau Pack* 7. 9. Dr. Probst 9. 9. Rappe (Hildesheim) 9. 9. Dr. Riedl (München) 7. 9. Seidenthal 7. 9. Frau Steinhauer 9. 9. Frau Terborg 7. 9. Tietjen 9. 9. Toetemeyer 8. 9. Frau Weiler 9. 9. Westphal 9. 9. Frau Wilms-Kegel 9. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entspricht der Tradition des Hauses und ist der Sinn der Generaldebatte über den Haushalt des Bundeskanzlers, daß alle
    Fragen der Politik, alle Probleme, die uns bewegen, angesprochen werden und über sie diskutiert wird. Für die Regierung ist es eine Chance, ein Stück Rechenschaft zu geben, für die Opposition und die, die gegen die Regierung und ihre Politik stehen, Kritik zu üben. Das entspricht demokratischer Tradition und demokratischem Brauch. Natürlich werden wir uns hier in der Sache immer unterscheiden.
    Ich will zu dem, was Herr Vogel gesagt hat, in ein paar Punkten zu den einzelnen Kapiteln Anmerkungen machen. Zum Allgemeinen will ich nur sagen, Herr Abgeordneter Vogel: Es war das übliche Katastrophenszenario, das Sie von der Bundesrepublik malen, das mit der Wirklichkeit des Landes nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Ihm fällt nichts anders ein!)

    Es war das Beschwören der alten sozialistischen Neidkomplexe gegen die, die angeblich mehr haben, obwohl Sie sehr genau wissen, daß alles, was Sie über eine Umverteilung behaupten, überhaupt nicht stimmt.
    Wenn Sie einmal die Durchschnittseinkommen derer betrachten — der Kollege Bangemann sprach ja freundlicherweise von diesem gemeinsamen Erlebnis am Sonntag — , die von den Delegierten des Kongresses der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik vertreten werden, dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie weit Sie mit Ihren Behauptungen von der Wirklichkeit entfernt sind.
    Ich will als Parteivorsitzender nur eine Bemerkung zu einem Punkt Ihrer Ausführungen machen, weil mich das wirklich, zumindest erstaunt hat. Sie mögen ja über die Christlich Demokratische und die Christlich Soziale Union denken, was immer Sie wollen. Aber Sie sollten sich doch wenigstens in etwa an die geschichtlichen Tatsachen erinnern. Wenn Sie im Rahmen Ihrer Schlußbeschwörung sagen, daß der Kitt des Antikommunismus die Union zusammengehalten habe und dieser Kitt heute wegfalle, dann muß ich Ihnen sagen: Sie haben wirklich überhaupt keine Ahnung vom Wesen, von der Identität und von der Programmatik dieser Partei.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wegen des selbstverständlichen Respekts, Herr Abgeordneter Vogel, den jeder von uns, der Ihrer Partei nicht angehört, der großen Tradition der deutschen Sozialdemokraten schuldet, sollte es für Sie, finde ich, umgekehrt selbstverständlich sein, solche Thesen nicht vor der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten.
    Sie wissen so gut wie ich: Die 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland — im nächsten Jahr werden wir den Geburtstag feiern — wären ohne den Beitrag auch von Christlichen Demokraten und Christlich-Sozialen undenkbar.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Unstreitig!)

    — Wenn das unstreitig ist, dann tun Sie uns den Gefallen und verkünden Sie hier nicht derartige abwegige Thesen.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Meine Damen und Herren, ich will zunächst eine Bemerkung machen zum Standort der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Außen-, der Sicherheits- und der Europapolitik. Jeder, der das Land von draußen betrachtet, wer rausfährt — Martin Bangemann hat Ihnen ja gute Ratschläge gegeben — , wird feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland heute zu den angesehensten Ländern der internationalen Staatengemeinschaft gehört. Meine Damen und Herren, ich gehöre nicht zu denen, die die Zeitrechnung der Bundesrepublik ab 1982 datieren. Ich gehöre allerdings auch nicht zu denen, die, wie Sie es fortdauernd hier tun, die Zeitrechnung der Bundesrepublik mit dem Jahr 1969 beginnen. An dem Ansehen unserer Bundesrepublik Deutschland haben viele in allen demokratischen Lagern und Parteien mitgewirkt. Wenn wir heute ein gesuchter Partner in West und Ost sind, wenn wir hohes Vertrauen genießen, ist es eine gemeinsame Leistung. Aber, meine Damen und Herren, den Grund dafür, daß sich dieses Vertrauen verstärkt hat, daß das Ansehen gewachsen ist, können diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien durchaus für sich in Anspruch nehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben nach den Turbulenzen, die durch die Sozialdemokraten im Jahre 1981/1982 in die deutsche Politik hineingetragen wurden, und nachdem Sie meinen Amtsvorgänger Helmut Schmidt gestürzt haben, dazu beigetragen, daß sich die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland wieder durch Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit auszeichnet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das ist so, weil wir klaren Grundsätzen folgen, weil wir die Realitäten nicht aus den Augen verlieren und weil wir versuchen, in einem vernünftigen Dialog zu einem fairen Interessenausgleich mit anderen zu kommen. Es ist wahr, es kann nicht bezweifelt werden, daß das Wort unserer Bundesrepublik Deutschland heute international zählt, weil wir ganz einfach halten, was wir zusagen, weil wir dort helfen, wo wir helfen können. Deswegen — das will ich hier von dieser Stelle wiederholen — haben die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland allen Grund, mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft zu blicken.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist unübersehbar, daß das Atlantische Bündnis, das in Jahrzehnten den Frieden und die Freiheit unseres Landes gewährleistet hat, heute geschlossener und gefestigter als in früheren Jahren ist. Der NATO-Gipfel im März dieses Jahres in Brüssel hat dies erneut bestätigt. Die Freundschaft mit unseren Partnern in den Vereinigten Staaten hat sich in zahlreichen und engen Konsultationen bewährt. Faire Partnerschaft, gegenseitiges Vertrauen, das ist das Signum unserer Beziehungen. Es ist uns gelungen, mit unseren Nachbarn und Partnern in Europa, nicht zuletzt in der Europäischen Gemeinschaft, die Beziehungen zu intensivieren.
    Präsident Delors, den Sie gerne mit Recht zitieren, Herr Abgeordneter Vogel, hat den europäischen Gipfel im Juni in Hannover zutreffend als „Symbol für den wiedergefundenen Weg zum vereinten Europa" bezeichnet. Er hat der deutschen Präsidentschaft bescheinigt, daß in ihr „qualitativ und quantitativ mehr Entscheidungen getroffen worden (sind) als in den zehn Jahren davor". Ich brauche diesem Lob nichts hinzuzufügen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Idee eines geeinten und freien Europa lebt; sie hat neue Dynamik erhalten. Dort, meine Damen und Herren — das sage ich auch im Blick auf manche Diskussionen innerhalb der Bundesrepublik — , liegt die Zukunft unseres Landes, liegt die Zukunft in Frieden, in Freiheit, in Wohlstand und in sozialer Gerechtigkeit.
    Die „Frankfurter Rundschau" schrieb damals, wir hätten einen „großen Sprung nach vorn" erreicht. Das gelang vor allem durch das enge, durch das vertrauensvolle Zusammenwirken mit unseren französischen Freunden. Das ist keine Achse Bonn—Paris, wie gelegentlich gemutmaßt wird. Das ist ein Werk der Vernunft, Ausdruck unseres Sinns für Realitäten und Ertrag daraus, daß wir aus der Geschichte gelernt haben. Unsere beiden Länder sind sich ein großes Stück nähergekommen, und wir sind beide, in Paris wie in Bonn, entschlossen, auf diesem Weg weiter gemeinsam voranzugehen. Dies ist eine Garantie, daß sich Europa einen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im West-Ost-Verhältnis ist durch die auf Ausgleich und Prinzipientreue zugleich bedachte Politik von Präsident Ronald Reagan und durch die Verständnisbereitschaft — und Offenheit zu Gesprächen — der sowjetischen Führung unter Generalsekretär Gorbatschow eine Chance zu mehr Zusammenarbeit, eine Chance zu mehr Interessenausgleich entstanden.
    Vier Gipfeltreffen, meine Damen und Herren, in drei Jahren belegen eine Intensität des politischen Dialogs, der ohne Vorbild in der Nachkriegszeit ist. Zum erstenmal — viel zu wenige auch hierzulande sehen dies in seiner ganzen Bedeutung — in der Geschichte der Abrüstung wird weltweit eine ganze Kategorie von Waffen vernichtet, sind Kontrollen vor Ort in Ost und West möglich, wird über Abrüstungs- und Rüstungskontrolle zügig weiter verhandelt.
    Die Bundesregierung — ich erinnere an meine Entscheidung zu Pershing I a und an unsere Debatte vor Jahresfrist — hat zu diesen Ereignissen ganz unmittelbar beigetragen. Beide Weltmächte haben uns dies wiederholt bestätigt. Der Erfolg wurde möglich nicht durch die Hinnahme sowjetischer Überlegenheit, wozu Sie in der SPD in all den Jahren bereit waren,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    er wurde nicht möglich durch einseitige Vorleistungen, wie Sie sie auch von diesem Pult aus immer wieder vertreten haben, nicht durch jene eher seltsam anmutende unkritische Unterstützung sowjetischer Forderungen, was ja Ihre gängige Übung in der praktischen Politik geworden ist. Dieses Ergebnis wurde erreicht durch die Geschlossenheit, durch die Standfestigkeit der westlichen Gemeinschaft, durch zähes Ringen und auch — das füge ich deutlich hinzu — durch die Bereitschaft zum fairen Ausgleich der Inter-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    essen, die die Sowjetunion jetzt mehr als früher gezeigt hat und zeigt.
    Meine Damen und Herren, diese Politik des Westens bewährt sich auch in der weltweiten Regelung regionaler Krisen, die den Frieden bedrohen. Es gibt auch dort Fortschritte. In Afghanistan hat der Abzug der sowjetischen Truppen begonnen. Im Golf-Konflikt ist ein Waffenstillstand erreicht. In Kamputschea und Angola ist Bewegung in Gang gekommen, im Sinn einer friedlichen Lösung.
    Wir in der Bundesrepublik haben im Rahmen unserer Pflichten innerhalb der West-Ost-Beziehungen wie auch bilateral in den direkt geführten Gesprächen aktive Politik gestaltet. Unsere Beziehungen zur Sowjetunion entwickeln sich in einer vorher kaum denkbar gewesenen dynamischen Weise. Ich hoffe, daß es bei den bevorstehenden Begegnungen mit Generalsekretär Gorbatschow im Oktober in Moskau und auch beim Gegenbesuch des Generalsekretärs hier in Bonn im nächsten Jahr wirklich die Chance gibt, daß, wie wir es beide öffentlich bekundet haben, unsere Beziehungen eine neue Qualität gewinnen.
    Wir sind zu konkreten Schritten auf allen Feldern bereit nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung.
    Beispielhaft haben sich unsere Beziehungen zu Ungarn entwickelt. In der Zielsetzung guter Nachbarschaft arbeiten wir auch mit der CSSR zusammen, nach meinem Besuch in Prag im Januar mit neuen Vorstellungen und, wie ich hoffe, auch realistischen Möglichkeiten.
    Wir wollen die traditionellen Bindungen mit Bulgarien stärken, und wir suchen mit Polen auf dem Weg der Verständigung der Regierungen und dem Weg der Verständigung und der Versöhnung der Völker voranzukommen, vor allem auch unter besonderer Berücksichtigung von Begegnungen der jungen Generation.
    Wir wollen in dieser besonders schwierigen Lage auch die Gespräche mit Rumänien weiterführen und zum Erfolg bringen. Wir haben sehr konkret in den zurückliegenden Monaten Jugoslawien unterstützt.
    Meine Damen und Herren, die innerdeutschen Beziehungen haben Ergebnisse ermöglicht, die die allerwenigsten von uns — ich schließe mich hier ganz bewußt ein — erwarten konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist schon gesagt worden: Heute vor einem Jahr war der Besuch von Generalsekretär Honecker bei uns. Es war ein Besuch, der mancherlei Schwierigkeiten bis zum Tag der Begrüßung hier in sich barg.
    Im Rückblick auf diese jetzt abgelaufenen zwölf Monate darf ich hier sagen: Wir haben gute Fortschritte gemacht auf dem Weg der Verbesserung der Beziehungen, zum Vorteil der Menschen in Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die laufenden Gespräche sind bei einigen Themen verständlicherweise zäh und schwierig, aber wir sind fest entschlossen, auf diesem Weg voranzukommen.
    Meine Damen und Herren, wenn sich die Zahlen so weiterentwickeln, was den Besuch von Landsleuten aus der DDR bei uns in der Bundesrepublik betrifft, und wir dann vielleicht am Ende des Jahres 1990 bilanzieren können, daß an die 20 Millionen Besucher aus der DDR in dieser Legislaturperiode zu uns in die Bundesrepublik gekommen sind, dann ist das ein großartiges Ergebnis. Es ist kein Ergebnis für die Plakate, es ist kein Ergebnis für ein falsches Pathos, es ist ein Stück wiedergewonnene Einheit im Denken und Fühlen der Menschen in Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir sind fest entschlossen, diese Verhandlungen mit Nüchternheit weiterzuführen. Ich sage auch hier an die Adresse der SPD-Opposition: Ich brauche dazu wahrlich nicht die Belehrung von Besuchern in Ostberlin, die mir mehr oder minder einseitig die Forderungen der DDR-Führung übermitteln.
    Meine Damen und Herren, nicht zuletzt wegen unseres zähen Bemühens — ich will ausdrücklich auch dem Bundesaußenminister dafür danken — ist es möglich gewesen, während unserer Präsidentschaft zu erreichen, daß EG und RGW im Juni eine „gemeinsame Erklärung" unterzeichnet und daß viele RGW-Mitglieder in der Zwischenzeit ihre Beziehungen zur Gemeinschaft normalisiert haben.
    Aber die außenpolitische Erfolgsbilanz der Bundesregierung setzt sich auch in anderen Bereichen fort. Die Zusammenarbeit mit Japan, mit dem asiatischpazifischen Raum als einer der wirtschaftlich und politisch dynamischsten Regionen der Welt war noch nie so eng und umfassend, wie das heute ist. Das gilt vor allem auch für die ASEAN-Staaten, das gilt für Indien, Indonesien, und, was ich besonders herausstellen will, es gilt für die Beziehungen zur Volksrepublik China. Wenn in diesem Jahr, so wie sich die Zahlen jetzt abzeichnen, mehr Studenten und Praktikanten aus der Volksrepublik China bei uns in der Bundesrepublik ihre Ausbildung erfahren als in jedem anderen Land, ausgenommen die Vereinigten Staaten, ist das eine Brücke in die Zukunft. Wir sollten diese Politik konsequent weiter fortsetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben auch die Beziehungen zu Lateinamerika und zum afrikanischen Kontinent aktiv fortentwickelt. Wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten im Nahen Osten und im Bereich der Golfstaaten versucht zu helfen, soweit dies möglich war.
    Diese außenpolitische Bilanz der Bundesregierung ist positiv, und sie wird es bleiben. Alles, was wir an Tatsachen kennen, spricht dafür.
    Wir Deutsche als geteiltes Volk im Herzen Europas verfolgen verständlicherweise mit besonderer Aufmerksamkeit die Veränderungen in der Sowjetunion und zugleich auch die Chancen für Veränderungen im Bereich der anderen Warschauer-Pakt-Staaten. Keiner in Europa — ich darf dies so sagen — ist mehr daran interessiert, zwischen West und Ost die Zeit der Konfrontation endgültig zu überwinden und eine stabile, ja, krisenfeste Grundlage des Dialogs und der Zusammenarbeit zu schaffen.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Die 19. Allunionskonferenz der KPdSU hat den Kurs Generalsekretär Gorbatschows bestätigt, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren und mehr Offenheit zu ermöglichen. Wir begrüßen diese Bemühungen, die sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik langsam niederzuschlagen beginnen, und wir hoffen, daß dieser Öffnungs- und Reformprozeß in allen Staaten des Warschauer Pakts Fuß faßt und un-umkehrbar wird. Wir, die Deutschen, haben im geteilten Deutschland von einer solchen Entwicklung den größten Nutzen.
    In meinen Gesprächen in wenigen Wochen in Moskau will ich auch an die Zeiten des fruchtbaren Miteinanders in der langen Geschichte der Beziehungen unserer beiden Völker anknüpfen. Mein Ziel ist es, eine neue Periode dauerhafter Zusammenarbeit einzuleiten und so auch zur durchgreifenden Besserung des West-Ost-Verhältnisses beizutragen. Auf der Tagesordnung meines Besuches werden alle Bereiche der beiderseitigen Beziehungen, zentrale Bereiche der internationalen Politik, der Sicherheit und Abrüstung stehen, aber auch die Grundfragen des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und uns.
    Ich stelle mit Befriedigung fest, daß die Regierung der Sowjetunion begonnen hat, auch ihre Position im Blick auf die Bundesrepublik Deutschland neu zu überdenken. Ich begrüße in diesem Sinne in ganz besonderer Weise die Tatsache, daß die Zahl der Genehmigungen für die Ausreise von Deutschen aus der Sowjetunion merklich angestiegen ist. In diesem Jahr werden voraussichtlich 30 000, 40 000 — ich sage bewußt: deutsche — Landsleute aus der Sowjetunion zu uns übersiedeln. Sie sind uns ebenso willkommen wie die rund 40 000 Deutschen aus Polen und die rund 6 000 aus Rumänien, die in diesem Jahr bisher zu uns kommen konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

    Meine Damen und Herren, die Verbesserungen in den West-Ost-Beziehungen haben nachhaltige Auswirkungen auf den Rüstungskontroll- und Abrüstungsdialog. Mit dem am 1. Juni dieses Jahres ratifizierten INF-Vertrag wird zum erstenmal in Ost und West wirklich abgerüstet. Der Abzug der ersten Pershing-Il-Raketen aus unserem Land hat bereits begonnen.
    Herr Abgeordneter Vogel, ich hätte es gerne gehört, wenn Sie diese Tatsache heute hier einmal gewürdigt hätten.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Ich hätte von Ihnen gerne ein Wort dazu gehört, wie Sie jetzt die Tatsache beurteilen, daß ich Ihnen vor Jahresfrist hier und anderswo gesagt habe, daß in diesem Monat abgezogen werden würde. Wir alle haben aus dem Wahlkampf in Baden-Württemberg vor vier Jahren und aus dem Wahlkampf vor wenigen Monaten noch im Ohr, mit welch einer unglaublichen Hetze und welchen Verleumdungen gegenüber der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien Sie unsere Abrüstungspolitik dargestellt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Hetze? Mehr Contenance, Herr Bundeskanzler! — Gegenruf von der CDU/CSU: Ja, Hetze!)

    Herr Abgeordneter Vogel, ich war 1984 in Heilbronn, ich war 1988 in Heilbronn. Ich habe erlebt, was Ihre politischen Freunde unter Ihrer Führung dort unter die Bevölkerung gebracht haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Was war denn da Hetze?)

    Wenn jetzt in Heilbronn die Pershing-Raketen abgezogen wurden, dann ist das ein Erfolg unserer Politik,

    (Dr. Vogel [SPD]: Das glauben Sie doch wohl selber nicht!)

    weil wir Stehvermögen und Augenmaß gleichermaßen bewiesen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Auch bei den START-Verhandlungen, meine Damen und Herren, über die 50%ige Verminderung der nuklearen strategischen Waffen der USA und der Sowjetunion gibt es deutliche Fortschritte. Wir hoffen, daß vor Ende der Amtszeit von Präsident Reagan, daß bis Ende dieses Jahres zumindest das bisher Erreichte in einer vernünftigen Form festgeschrieben wird, damit — wer immer Präsident wird — diese Verhandlungen ohne Zeitverzug im neuen Jahr mit der neuen Administration fortgesetzt werden können.
    Vor allem erwarten wir, meine Damen und Herren, daß in der für uns ganz zentralen und entscheidenden Frage der konventionellen Abrüstung mit Abschluß des Wiener Folgetreffens auch das Mandat für die KRK-Verhandlungen verabschiedet wird. Dies könnte, wenn der gemeinsame Wille vorhanden ist, noch Ende dieses Jahres die Aufnahme von Verhandlungen bedeuten.
    Wir haben uns darauf gut vorbereitet. Wir haben unser Konzept vorgestellt. Wir haben die Position der NATO in diesem Sinne mitgestaltet. Es geht uns um die Herstellung eines sicheren und stabilen Gleichgewichts konventioneller Streitkräfte auf niedrigerem Niveau. Es geht uns vorrangig um die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive, wie sie gegenwärtig der Osten bzw. die Sowjetunion besitzt. Wir gehen dabei von dem Grundgedanken aus, der von der Sowjetunion — ich betone das — bereits beim INF-Vertrag akzeptiert wurde: Wer mehr an solchen Waffen und Möglichkeiten besitzt, muß auch mehr abrüsten.
    Die Bundesregierung setzt sich weiterhin energisch für den baldigen Abschluß eines Abkommens über das weltweite Verbot chemischer Waffen ein.
    Wir streben im Sinne des Beschlusses der NATO-Außenminister von Reykjavik mit Nachdruck auch Verhandlungen über sowjetische und amerikanische nukleare Kurzstreckenraketen unter 500 Kilometer Reichweite in Europa an.

    (Beifall des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

    Dabei halten wir an dem Erfordernis eines umfassenden Konzepts der NATO fest, das den sich ergänzenden und voneinander abhängigen Aspekten der Si-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    cherheit einerseits und der Abrüstung und Rüstungskontrolle andererseits Rechnung trägt.
    Herr Abgeordneter Vogel, dazu eine Bemerkung, weil Sie Hinweise gaben: Sie kennen so wie ich die politische Lage.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Da bin ich nicht so sicher! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Nein, das glaube ich nicht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Wenn wir jetzt — Sie haben das ja moniert und kritisiert — ein Gesamtkonzept schaffen wollen, müssen wir den gegenwärtigen politischen Realitäten der Vereinigten Staaten von Amerika Rechnung tragen; das wissen Sie doch so gut wie ich. Und wenn Anfang November in den USA gewählt worden ist, wird auf alle Fälle eine neue Administration kommen; welche, wissen wir nicht. Angesichts der Bedeutung dieses Vorgangs ist es doch ganz einfach notwendig, dieses Gesamtkonzept mit der neuen Administration auszuhandeln. Das ist doch in Wahrheit der Grund, warum wir im Moment nicht sofort und jeden Tag reagieren können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Im Zusammenhang mit diesem Gesamtkonzept muß das Bündnis auch die künftige Struktur seines Atomwaffenpotentials definieren. Ich habe dazu mehrfach deutlich gemacht, daß es für uns keine isolierten Entscheidungen über einzelne Nuklearsysteme geben wird.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Meine Damen und Herren, das Bemühen um den Erhalt des Friedens und die Gewährleistung unserer Sicherheit müssen der oberste Grundsatz unserer Friedenspolitik sein. Wir werden dabei die Auswirkungen jedes einzelnen Rüstungskontroll- und Abrüstungsschrittes auf das für unsere Verteidigung Erforderliche stets sorgfältig abwägen müssen. Ich finde — das war ja einmal gemeinsame Politik des Hauses — , eine solche Politik steht ganz selbstverständlich und logisch in der Tradition des Harmel-Berichts aus dem Jahre 1967, den die NATO ja gerade jetzt wieder bekräftigt hat.
    Garant unserer Sicherheit und unserer Freiheit, meine Damen und Herren — auch angesichts der weltpolitischen Entwicklung heute —, bleibt das Atlantische Bündnis. Und die Bündnissolidarität gebietet eine gerechte Verteilung von Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten zwischen den Partnern.
    Deswegen will ich an dieser Stelle und bei dieser guten Gelegenheit heute noch einmal unsere Entschlossenheit bekräftigen, die der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der NATO zukommenden Aufgaben weiterhin voll und ganz zu erfüllen. Dies ist nicht ohne Opfer möglich. Das weiß jeder, der sich klarmacht, daß neben der Bundeswehr auch noch weit mehr als 400 000 Soldaten unserer Verbündeten in der Bundesrepublik Deutschland stationiert sind — mit all den Folgen auch für den zivilen Bereich.
    Hier ergeben sich viele zusätzliche Belastungen, die manchmal von denjenigen, die das von ferne betrachten — ich spreche hier auch ganz offen unsere
    Freunde in den USA an — und die nach anderer Lastenverteilung rufen, nicht ausreichend gewürdigt werden. Ich habe dies im amerikanischen Parlament wie auch gegenüber der Administration bei jeder Gelegenheit deutlich gemacht.
    Gerade weil wir die Notwendigkeit dieser Opfer für Frieden und Freiheit selbst akzeptieren und sie politisch durchsetzen, sagen wir allerdings auch, daß die Opferbereitschaft unserer Bevölkerung nicht überfordert werden darf. Deshalb hat der Bundesminister der Verteidigung aus gutem Grund Sofortmaßnahmen zur Minderung der Lärmbelästigung durch Tiefflüge angeordnet. Er prüft zur Zeit — und das wird ja dann auch in den parlamentarischen Gremien besprochen werden — , was darüber hinaus getan werden kann und getan werden muß, um die Belastungen weiter zu verringern. Dabei, meine Damen und Herren — dies füge ich gleich hinzu — , muß selbstverständlich auch gesagt werden, daß das, was hier geschehen kann, in einer Weise durchzuführen ist, durch die der Verteidigungsauftrag nicht gefährdet wird. Beides muß zusammen gesehen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Frau Garbe [GRÜNE]: Da wissen wir ja, was das heißt!)

    In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir auch ein Wort zu der Katastrophe von Ramstein: Wir alle trauern um die Opfer. Wir alle empfinden Mitgefühl und Sympathie für ihre Familien, für ihre Angehörigen. Aber es wäre zuwenig, wenn wir es bei dieser Bemerkung beließen. Ich bin mit dem Bundesverteidigungsminister der Meinung, daß wir — der Herr Kollege Vogel hat es hier ähnlich angedeutet — in einem vernünftigen Gespräch über die Konsequenzen, die zu ziehen sind, miteinander reden sollten und dabei — wie ich hoffe — auch ein Stück Gemeinsamkeit finden. Wenn Bundesminister Scholz in diesen Tagen erklärte, er habe entschieden, daß Kunstflugvorführungen in militärischer Zuständigkeit künftig nicht mehr stattfinden, findet dies meine volle Unterstützung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zustimmung des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD])

    Wir werden bei voller Wahrung unseres Beitrags zur Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik und im Bewußtsein der dazu notwendigen Opfer auch mit unseren alliierten Freunden — ich nenne aus gutem Grund hier vor allem unsere amerikanischen Freunde — darüber zu sprechen haben — ich will es ganz einfach formulieren — , was geht und was nicht geht. Es müßte möglich sein, zu einer vernünftigen Position zu kommen.
    Die Bundesrepublik Deutschland leistet ihren Beitrag als Stationierungsland. Wir stellen die stärkste konventionelle Streitmacht in der NATO in Europa. Wir tun dies, weil wir überzeugt sind, daß Europa die Anwesenheit amerikanischer Truppen nicht verlangen kann, wenn wir nicht selber unseren eigenen Beitrag leisten.
    Wenn ich Mitte November mit Präsident Reagan in Washington zusammentreffe, will ich ihm — ich will das hier auch dem Hohen Hause sagen — vor allem



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    für die hervorragende Zusammenarbeit und die Offenheit für unsere Probleme in den letzten sechs Jahren danken. Die Politik des scheidenden amerikanischen Präsidenten im Abrüstungs- und Rüstungskontrolldialog und im West-Ost-Verhältnis findet sich heute eindrucksvoll bestätigt. Meinen Respekt für und meinen Dank an Präsident Reagan kann ich dann auch mit dem Ausdruck der Zuversicht verbinden, daß diese gute Politik mit seinem Nachfolger fortgesetzt werden kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Europäische Gemeinschaft hat unter unserer Präsidentschaft unter Beweis gestellt, daß sie fähig ist, die anstehenden Probleme zu meistern, so daß wir heute sagen können: Der große europäische Markt kommt, die Europäische Union hat jetzt eine wirkliche Chance.
    Die Bilanz ist für uns Ausgangsbasis und Ansporn für die Zukunft. Es ist entscheidend, daß wir das Datum für die Verwirklichung des großen Markts, den 31. Dezember 1992, einhalten. Die Vollendung dieses großen Raums ohne Binnengrenzen für den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital bis Ende 1992 ist ein entscheidender Beitrag zur Sicherung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Der Kollege Waigel und der Kollege Bangemann haben das soeben noch einmal eindringlich dargelegt. Damit es keinen Zweifel gibt: Diese vier Jahre sind eine sehr, sehr kurze Zeitspanne. Wir müssen bis dann schwierigste Aufgaben der Anpassung unseres Landes, unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft an diesen großen Markt bewältigen. Ich erwähne nur die Steuerharmonisierung, die weitere Öffnung der öffentlichen Märkte, die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen mit allen Konsequenzen, und ich denke an vieles andere mehr.
    Es muß uns zugleich darum gehen, Europa als Technologiegemeinschaft auszubauen und — das ist für uns besonders wichtig — auch in EG-Europa alles zu tun, damit hier ein geschlossenes Konzept des Umweltschutzes möglich ist. Ich weiß, daß wir gerade in der Frage des Umweltschutzes heute in vielen Fällen auch in psychologischer Hinsicht eine Art Pilotfunktion zwar nicht in Anspruch nehmen, aber durch die gegebenen Verhältnisse übertragen bekommen haben. Hier muß man viel tun. Denn dieses Europa wird nur dann von den Bürgern bejaht werden, wenn es auch auf dem Feld des Umweltschutzes überzeugt.
    Die Gemeinschaft muß ihre Anstrengungen noch wesentlich verstärken, wenn wir unser Ziel 1992 erreichen wollen. Das erfordert von allen Mitgliedstaaten Flexibilität, Mut zu Entscheidungen, die manchmal auch unpopulär sind, und viel Ausdauer. Der Weg wird für uns mit Schwierigkeiten verbunden sein. Ich füge hinzu: Es kann nicht nach dem Motto gehen: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" . Es kann nicht eine Politik des „Alles oder nichts" sein. Wir werden auch zu Kompromissen fähig sein müssen, die nicht zu jedem Zeitpunkt bei uns sofort verstanden werden.
    Wir sind stolz auf die Bilanz unserer Präsidentschaft. Wir haben wesentlich dazu beigetragen, daß das europäische Schiff wieder Kurs aufgenommen hat.
    Wir haben dafür gesorgt, daß sich Europa jetzt wieder zunehmend auf die Zukunft und ihre Ausgestaltung konzentriert.
    Daher sind Mehrausgaben — dies sage ich hier zu Beginn der Etatberatung —, die wir in den nächsten Jahren nach Brüssel abführen werden, für die Deutschen eine hervorragende Investition in die Zukunft.
    Mit der Vollendung des Binnenmarkts stellen sich aber neue Fragen, insbesondere die Frage nach der politischen Gestalt, der politischen Rolle des künftigen Europa. Das gilt nicht zuletzt für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.
    Wir haben mit dem deutsch-französischen Vertrag zur Schaffung eines Sicherheits- und Verteidigungsrats einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Wir wollen dabei nicht stehenbleiben. Wir müssen noch mehr an die Zukunft denken, wenn wir die europäischen Interessen wirkungsvoll zur Geltung bringen wollen.
    Meine Damen und Herren, in wenigen Wochen werden die Jahresversammlungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds bei uns in Berlin zu Gast sein. Mehr als 10 000 Delegierte und Konferenzbeobachter aus 151 Mitgliedstaaten werden in der alten deutschen Hauptstadt erwartet. Die Tagesordnung dort wird viele Möglichkeiten bieten, den gemeinsamen politischen Willen der Europäer deutlich zu machen für eine solidarische Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
    Im Mittelpunkt der Beratungen werden stehen: die Lage der Weltwirtschaft und eine Wirtschaftspolitik zur Sicherung eines stabilen Wachstums und einer besseren Beschäftigung, der Stand der Entwicklungspolitik, vor allem die Schuldenlage der Entwicklungsländer, bei deren Bewältigung die beiden Organisationen, die jetzt in Berlin tagen, eine entscheidende Rolle spielen. Mir scheint es besonders wichtig, dem fatalen Zusammenwirken von Bevölkerungsexplosion, Armut und Umweltzerstörung in weiten Teilen der südlichen Erdhälfte Einhalt zu gebieten. Dazu gehört auch, daß wir, die großen Industrienationen, die Reicheren, wie gesagt wird, die anpassungsbereiten Entwicklungsländer, die einen oft schmerzlichen, aber unvermeidbaren Prozeß der Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durchlaufen, aktiv unterstützen.
    Ich darf daran erinnern, daß die Bundesregierung erst vor kurzem einen zusätzlichen Erlaß von Schulden aus Entwicklungskrediten an ärmere und hochverschuldete afrikanische Länder südlich der Sahara beschlossen hat. Zusammen mit Restschulden aus dem vorangegangenen Schuldenerlaß zugunsten der sogenannten am wenigsten entwickelten Länder und Schulden zweier weiterer Länder aus dieser Gruppe wird damit ein Forderungsvolumen von 3,3 Milliarden DM annulliert werden.
    Im Hinblick auf die jetzt bevorstehende Berliner Tagung prüfen wir gegenwärtig in der Bundesregierung auch intensiv, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland der Situation der Entwicklungsländer durch eine Verbesserung der Konditionen der finanziellen Zusammenarbeit Rechnung tragen kann und



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    welche konkreten Schritte möglich sind, um die Bedingungen für Umschuldungen im Rahmen des Pariser Clubs zu verbessern.
    Nicht zuletzt ist diese Tagung von IWF und Weltbank eine großartige Chance für unsere alte Hauptstadt Berlin. Wohl kaum in den letzten 30 Jahren hat eine so bedeutende Zusammenkunft mit einer so repräsentativen starken internationalen Beteiligung in Berlin stattgefunden, eine Zusammenkunft, meine Damen und Herren, bei der es sehr konkret um ganz zentrale Fragen der künftigen Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd geht. Wir sollten von hier aus, auch der Deutsche Bundestag und seine Fraktionen und natürlich auch in Berlin vor Ort, alles dafür tun
    — gemeinsam wenn möglich — , daß diese Tagung gerade auch im Interesse Berlins erfolgreich verläuft.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, Sie erwarten vom Bundeskanzler natürlich mit Recht auch ein Wort zur Finanzentwicklung, zur wirtschaftlichen Lage. Wir haben ja heute gehört — das höre ich auch draußen, übrigens nicht nur von seiten der Opposition; auch manche im unternehmerischen Lager sind in ihren Betrachtungen ja in diese Richtung gegangen — : Die Wirtschaft läuft sehr gut. Das bestreitet ja nicht einmal der Herr Kollege Vogel. Aber das ist natürlich „von allein" gekommen. Es waren die Kräfte des Marktes, sagen die anderen. Nur, verehrter Herr Kollege Vogel, was hätten Sie heute wohl gesagt, wenn wir andere Zahlen gehabt hätten?

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich bin ganz sicher, Sie hätten den Hauptschuldigen Dutzende Male in Ihrer einstündigen Rede beim Namen genannt.
    Es ist wahr — und wir freuen uns darüber — : Die Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland verläuft bis in diese Tage ungewöhnlich günstig. Im ersten Halbjahr — wir haben es ja gehört — haben wir mit 3,9 % Zuwachsrate das beste Halbjahresergebnis seit 1979. Und was vielleicht noch wichtiger ist angesichts des Zweckpessimismus, der im Land verbreitet wird: Ich kenne kaum einen Experten, der zur Stunde nicht davon ausgeht, daß sich dieser positive Trend weiter fortsetzen und ins nächste Jahr hineintragen wird. Wir wissen — ich streite jetzt nicht über die Stelle hinter dem Komma —, daß wir am Ende dieses Jahres mit Sicherheit auf ein Wachstum von rund 3 To werden zurückblicken können.
    Diese zuversichtliche Lagebeurteilung — und es ist jetzt keine Lagebeurteilung mehr, sondern eine Realität — steht in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Konjunkturpessimismus, der noch vor einigen Monaten verbreitet wurde. Ich habe ja vorhin gesagt, Herr Kollege Vogel: Im wesentlichen ist das, was Sie zur wirtschaftlichen Lage seit langer Zeit beisteuern, ein Stück Verelendungsprophetie. Sie sind allerdings
    — das füge ich hinzu, weil Sie gerne von den „uns nahestehenden Verbänden" sprechen — in diesem Fall in einer beachtlichen Nachbarschaft zu dem einen oder anderen Verband. Ihre Prognosen und die
    von manchem aus der deutschen Automobilindustrie sind ziemlich identisch, aber vor allem beide falsch.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Jens [SPD]: Sie haben keine Ahnung, was in der Automobilindustrie passiert, langfristig!)

    — Nein, das glaube ich nicht. Ich sehe nur die Bilanzen, ich sehe die Zulassungszahlen. Und deswegen habe ich keine Ahnung, was in der Automobilindustrie passiert? — Sie haben natürlich die Ahnung. Deswegen haben Sie immer die falschen Propheten ins Land geschickt.

    (Dr. Jens [SPD]: Warten Sie mal ab!) Das ist so die selbstverständliche Verteilung.

    Es mag noch verständlich gewesen sein, meine Damen und Herren, daß Ende des vergangenen Jahres mancher unter dem Eindruck der Turbulenzen am Finanzmarkt Augenmaß und Nüchternheit verloren hat. Aber ich finde, bei den entscheidenden Daten unserer Volkswirtschaft ist eigentlich für jedermann, für die Handelnden in der Wirtschaft wie für die Handelnden in der Politik, vor allem Nüchternheit und nicht Augenblicksstimmung geboten. Man muß der Wahrheit zuliebe hinzufügen, daß die tatsächlich verfügbaren Konjunkturdaten auch damals im Herbst 1987 keinerlei Hinweis auf eine wirtschaftliche Abschwächung gaben. Ich habe dieses damals hier gesagt und, Herr Kollege Vogel, von Ihrer Seite Hohngelächter geerntet. Es ist jedoch um so unverständlicher, daß auch noch drei Monate später, im Januar, nicht sein konnte, was nicht sein durfte: Die sachgerechte Projektion des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung für 1988 von eineinhalb bis zwei Prozent wurde von der SPD als „rosarot gefärbte Verschleierungsprojektion" abgetan. Sie haben sich von Stimmungen tragen lassen, und die Stimmungen haben Ihnen natürlich auch in der Bevölkerung Zustimmung gebracht. Dennoch war es falsch und bleibt es falsch, entgegen den Realitäten den Menschen die ökonomische Krise vorzutragen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wer tut denn das?)

    — Sie haben das noch zu einem Zeitpunkt getan, als die Prognosen schon wieder deutlich nach oben gingen. Sie haben damals — ich zitiere — von „Aufschwung in Atemnot" gesprochen. Sie haben behauptet, daß dem Aufschwung „jetzt die Luft ausgehe".

    (Zuruf von der SPD: Das stimmt auch!)

    — Meine Damen und Herren, das mag ja Ihre Politik in der Opposition sein. Bloß hat dies mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
    Tatsache ist, daß die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland auf Wachstumskurs ausgerichtet ist, nicht erst seit gestern und vorgestern, sondern seit 1982.
    Martin Bangemann hat mit Recht gesagt: Das waren sechs gute Jahre.

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Nach uns die Sintflut!)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Dies bedeutet für breite Schichten der Bevölkerung ganz konkret, daß sie etwas davon haben, daß sich das eben nicht nur an Sozialprodukt und Investitionen ablesen läßt, sondern daß gerade auch die Arbeitnehmer in ihren Lohn- und Gehaltsmitteilungen dieses ganz deutlich gespürt haben. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte sind in dieser Zeit um nicht weniger als 216 Milliarden DM in die Höhe gegangen. Das sind mehr als 20 %. Sie haben heute im Rahmen dieser allgemeinen sozialistischen Neidkomplexe, die Sie ausgebreitet haben,

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

    die Einkommensentwicklung der breiten Schichten wiederum falsch dargestellt.

    (Dr. Vogel [SPD]: Herr Bundeskanzler!)

    Herr Abgeordneter Vogel, allein in den zwei Jahren 1986 und 1987 hat das Realeinkommen der privaten Haushalte in der Bundesrepublik um rund 8 To zugenommen. Das ist nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank mit der stärkste Anstieg der Realeinkommen, den es in einem Zeitraum von zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Das ist doch ein positives Ergebnis unserer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn sich das Masseneinkommen in einer solchen Weise günstig entwickelt und Sie das leugnen, sollten Sie doch wenigstens nicht leugnen, daß wir in diesen sechs Jahren — gemeinsam mit ganz wenigen anderen Ländern — im Blick auf die Stabilität unserer Währung und auf die Preisstabilität zur Spitze der Welt gehören. Sie mögen das Gegenteil verbreiten. 25 Millionen Bundesbürger sind in diesem Jahr ins Ausland gefahren oder werden ihren Urlaub noch dort verbringen. Sie erleben an jeder Umtauschstelle, wo sie D-Mark vorlegen, was die Wahrheit ist: Wir gehören heute zu den preisstabilsten Ländern der Welt. Das ist Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit, auf die wir stolz sein können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Anhebung von Löhnen, Gehältern und Renten bedeutet also einen tatsächlichen Zugewinn an Kaufkraft und Ersparnissen. Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie es mir nicht glauben: Ihre Freunde innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zeigen mit ihren Tarifverträgen, indem sie erstmals Tarifverträge für mehrere Jahre abschließen, daß sie Vertrauen in diese Regierung haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist ein erstaunlicher Vorgang, daß Sie, wenn Sie das Zentralorgan des DGB, die „Welt der Arbeit" , zur Hand nehmen, dort zwar unglaubliche Verleumdungen gegen den Kollegen Blüm, mich und andere lesen können, daß aber in der gleichen Zeitung über Tarifverträge berichtet wird, die für mehrere Jahre abgeschlossen werden. Wenn unsere Politik so schlecht wäre, dann könnte doch die Gewerkschaft in ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern nicht mehrjährige Tarifverträge abschließen. Dann müßte sie nach Ihrer Theorie doch eher Halbjahresverträge abschließen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Diese Politik, die die reale Anhebung von Löhnen, von Gehältern und von Renten bedeutet, ist eine Politik für die breite Masse unseres Volkes. Das ist eine zutiefst soziale Politik. Denn sie betrifft die Gruppe jener Bürger, Herr Abgeordneter Vogel, die eben keine Konten im Ausland haben und die sich nicht gegen Expropriation — um es marxistisch zu nennen — durch Inflation und Geldentwertung wehren können.
    Noch etwas, meine Damen und Herren, gehört zu dieser Bilanz: der Zugewinn von über 800 000 neuen Arbeitsplätzen, eine Zahl, die von Ihnen immer totgeschwiegen wird und von einem Teil der Gewerkschaften, die ihnen politisch nahestehen, ebenfalls. Man muß sich einmal klarmachen, was das heißt. Diejenigen, die unentwegt das Thema Arbeit und Beschäftigung im Munde führen, sind die gleichen, die von den positiven Veränderungen, die es auf dem Arbeitsmarkt auch gibt, überhaupt nicht reden und nichts wissen wollen. Das ist eine besondere Spielform der Heuchelei, deren Qualität nur noch von derjenigen Ihrer Konjunkturprognosen übertroffen wird. Wer über 800 000 Arbeitsplätze geringschätzt, sollte nicht vergessen — auch über diese Zahl müssen wir reden — , daß unter der Vorgängerregierung in zwei Jahren ebenfalls mit der Zahl 800 000 eine Markierung gesetzt wurde. Aber diese 800 000 Arbeitsplätze sind danach nicht neu aufgebaut worden, sondern verlorengegangen. Wir bauen also wieder auf, was andere vorher auf dem Verlustkonto abbuchen mußten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Quatsch!)

    Meine Damen und Herren, wahr ist auch — auch das gehört in die Bilanz, wenn man redlich darüber spricht — , daß trotz dieser unbestreitbar positiven Zahl von 800 000 Arbeitsplätzen die Arbeitslosigkeit nicht unseren Wünschen entsprechend zurückgeführt werden konnte.

    (Dr. Jens [SPD]: Donnerwetter!)

    Herr Vogel, das habe ich so oft gesagt. Da brauchen Sie gar nicht bedächtig zu nicken. Sie müssen nur zuhören.

    (Dr. Vogel [SPD]: Es bleibt mir gar nichts anderes übrig!)

    Die Gründe hierfür sind bekannt. Etwa in dem Umfang, wie neue Arbeitsplätze entstanden sind, ist auch die Zahl derer gewachsen, die sich als Arbeitssuchende melden. Wenn ich etwa die Zahl der Frauen nehme, die sich jetzt in erheblicher Zahl zusätzlich melden,

    (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Jetzt sind wir auch noch schuld an der Arbeitslosigkeit!)

    äußert sich darin auch ein Stück Zutrauen in diese Wirtschaftspolitik, denn zu einem früheren Zeitpunkt haben sie sich um einen Arbeitsplatz gar nicht erst bemüht, weil sie es für aussichtslos gehalten haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das ist doch nicht zu fassen!)

    Es sind darunter auch junge Leute, die — ich füge
    hinzu: leider — letzten aus den geburtenstarken Jahrgängen. Aber ich betone: Die Zahl der arbeitslosen



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Jugendlichen unter 20 Jahren — und auch diese Zahl gehört in diese Debatte — hat den niedrigsten Stand seit sieben Jahren erreicht. Zu keinem Zeitpunkt hat es in der Bundesrepublik Deutschland mehr Arbeitsplätze für Frauen gegeben als heute. Auch das ist eine der Tatsachen, die für die Bundesrepublik gelten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nun meine ich, bei allem Streit, bei allem Parteienstreit und bei aller leidenschaftlichen Auseinandersetzung um den besseren Weg in der Politik sollten wir vielleicht doch fähig sein — ich habe das bei Ihnen jedenfalls in einer Andeutung auch so verstanden und will darauf eingehen —, gemeinsam zu überlegen, was wir tun können, um dieses zentrale Problem deutscher Politik anzugehen. Dazu gehört, daß wir uns einmal mit mehr Nüchternheit und vielleicht auch mit mehr Ehrlichkeit der Statistik zuwenden. Wir wissen, es gibt dieses bedrückende Problem der Arbeitslosigkeit. Es gibt die Situation, daß regionale und sektorale Probleme zusammenkommen und sich dieses Problem in einer besonderen Weise zuspitzt. Das haben Sie an der Küste, das haben Sie in alten Industriegebieten, die in ihrem Umstrukturierungsprozeß noch nicht weitergekommen sind, jedenfalls noch nicht weit genug. Aber, meine Damen und Herren, es gibt doch ganz unübersehbar auch die Tatsache, daß mit dem Problem „Arbeitslosigkeit" Schindluder getrieben wird.
    Ich bringe Ihnen ein Beispiel, das mich doch sehr bewegt, ein Beispiel, das nicht von irgend jemandem, sondern vom nordrhein-westfälischen Kultusminister kommt. Das nordrhein-westfälische Kultusministerium hat vor kurzem 783 arbeitslos gemeldeten Lehramtsanwärtern Planstellen im öffentlichen Dienst angeboten. Die Reaktion auf dieses Angebot bestand darin, daß 172 Arbeitslose die Offerte glatt abgelehnt haben. Das heißt, über 20 % der angesprochenen arbeitslosen Lehrer sahen es offenbar nicht als dringlich an, eine Arbeit in ihrem erlernten Beruf zu übernehmen.
    Das Ministerium ist den Gründen für diese Reaktion nachgegangen. Einige der Angeschriebenen haben das Angebot gar nicht beantwortet. Andere teilten mit, daß ihnen der Schultyp oder der Arbeitsort — wir reden von Nordrhein-Westfalen, und wir kennen die Dimension der Entfernungen — nicht genehm waren. Einer hielt den Weg von zweimal 30 km pro Tag für zu weit.
    Meine Damen und Herren, was sagen uns diese Zahlen? Ganz gewiß kann das nicht eine Ablenkung von den echten Arbeitslosen sein, die es gibt und um die wir uns kümmern müssen. Aber diese Zahlen sagen ganz konkret, daß die globalen Angaben, die Monat für Monat gemacht werden, eben wenig aussagekräftig sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Denn hinter ihnen verbergen sich doch ganz offenkundig völlig unterschiedliche persönliche Situationen, die, was die unmittelbare Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit angeht, gar nicht miteinander vergleichbar sind. Ich finde, wir sollten ungeachtet unseres Streits um den besseren Weg in der Politik dazu fähig sein, gemeinsam darüber nachzudenken, wie
    wir zu wirklich aussagekräftigen Zahlenangaben kommen können, die es uns dann erleichtern, denen, die unsere Hilfe wirklich brauchen, konzentriert zu helfen.
    Auf diesem Weg, den ich vorangehen werde, bin ich eigentlich ermutigt worden, weil in unserer Nachbarschaft mein österreichischer Kollege, Bundeskanzler Vranitzky, ganz klar und unmißverständlich die Frage der Zumutbarkeit innerhalb der Republik Österreich in die öffentliche Diskussion eingebracht hat.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU) Dort hat man ein ähnliches Problem.

    Ich habe Gespräche mit Felipe Gonzalez geführt, der hier heute schon in einem anderen Zusammenhang rühmend — und dem will ich mich ausdrücklich anschließen — erwähnt wurde. Felipe Gonzalez erzählte mir von dem gleichen Problem. Wir haben beim Stand der sozialen Versorgung oder der Dichte des sozialen Netzes eine, wie ich beinahe sagen möchte, ganz natürliche Entwicklung, nämlich die des Aussteigerwesens und des Ausnutzens der Gemeinschaft, was zutiefst mit der menschlichen Natur zusammenhängt und sicher kein spezielles deutsches Problem ist. Aber wir müssen es doch bei uns in Rechnung stellen. Wir müsen uns auf die Hilfe für diejenigen konzentrieren, die die Hilfe brauchen, und andere müssen wir befragen, was sie eigentlich selbst beitragen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, ich sagte schon: Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre ist für uns die Zukunftssicherung im Blick auf den europäischen Markt, also auf das Jahr 1992. Wenn eine EG-Studie sagt — diese braucht man nicht in jeder Einzelheit zu übernehmen — , daß es sich bei diesem Markt um ein Wachstumspotential von bis zu 6 % des EG-Bruttosozialprodukts

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist immer das allererste: Wachstum, Wachstum, Wachstum!)

    und um 5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze handelt, ist dies eine interessante Aussage. Fest steht — das ist unbestreitbar —, daß der große Europäische Binnenmarkt mit seinen 320 Millionen Menschen jeden Unternehmer, jeden Arbeitnehmer und jeden Verbraucher berühren wird. Deswegen — Herr Kollege Vogel, ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie dazu gesagt haben; das kam ja auch aus dem Kreis der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände und von anderen — halte ich es für wichtig, daß wir uns zu einem Kreis, zu einer Art nationaler Europakonferenz zusammenfinden, die regelmäßig tagt, um einfach zwischen jetzt und 1992, dem Datum für den Europäischen Binnenmarkt, immer wieder die Wegstrecke zu überdenken, darüber nachzudenken, was wir gemeinsam tun können und was wir nicht tun können.
    Diese öffentliche Diskussion zum Thema Europa ist für uns nicht nur eine Frage der Europa- und Außenpolitik. Der Weg nach Europa und der Weg in den Europäischen Binnenmarkt ist heute auch ganz entscheidend eine Frage an das, was wir gemeinhin unter



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Innenpolitik verstehen. Damit bin ich bei dem Thema Reformen.
    Meine Damen und Herren, ich werde oft, auch in der eigenen Partei, gefragt: Warum mutest du uns und dir solche Reformvorhaben zu, die so schwer zu ertragen sind, weil es die Bürger viele Jahre lang gewohnt waren, Leistungen zu empfangen, und weniger darüber nachgedacht haben, daß wir in die Zukunft investieren müssen? Die Steuerreform ist ein Beispiel. Herr Kollege Vogel, ich denke, 1990 sehen wir uns zu diesem Punkt wieder. 1990 werden wir mit den Bürgern darüber reden, was die Steuerreform gebracht hat und was nicht.

    (Dr. Vogel [SPD]: So ist es! — Dr. Struck [SPD]: Da machen Sie sich mal gar keine Sorgen!)

    Ich fürchte, Sie werden dann nichts mehr von dem, was Sie heute dazu gesagt haben, wiederholen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben das Thema Gesundheitskosten; wir haben die Postreform; wir haben die Rentenreform. All dies muß jetzt geregelt werden, auch wenn es schwierig ist, auch wenn der Opportunismus und der Zeitgeist dagegenstehen mögen. Wenn wir jetzt unsere Hausaufgaben nicht machen, werden wir 1992 nicht in der obersten Liga in Europa mitspielen können. Das muß man klar und deutlich aussprechen.
    Dazu gehört eben, daß wir die Belastungen als Industrieland reduzieren. Es ist ja oft gesagt worden: Wir werden unsere Position als Exportnation nicht halten können, wenn wir über die Begrenzung der Lohn- und Lohnnebenkosten und der Steuerbelastungen unsere Betriebe nicht exportfähig machen. Wenn wir — ich komme auf das Thema zurück — zulassen, daß innerhalb der EG bestimmte Länder in ihren Anforderungen, nicht zuletzt bei der chemischen Industrie, im Umweltschutzbereich zurückbleiben und damit ihren Standort künftig verbessern, werden wir das Klassenziel nicht erreichen.
    Meine Damen und Herren, der Zusammenhang zwischen diesen notwendigen Reformen und dem Weg zum Europäischen Binnenmarkt ist für mich so eng und unauflösbar, daß mir unsere Verantwortung für die Zukunft der nächsten Generation die genannten Reformen dringlich erscheinen läßt. Ich bin sicher, daß dieses Ziel nach der gebotenen Zeit und nach Überwindung vieler Schwierigkeiten, die keiner besser kennt als ich, von dieser Koalition erreicht wird.
    Aber, meine Damen und Herren, wenn wir dies wollen, müssen wir gleichzeitig ein anderes Merkmal, das in unserer Politik wesentlich war und bleiben wird, beibehalten, nämlich die Solidität der Staatsfinanzen. Auch wenn wir im laufenden Jahr — Sie haben es ja erlebt; Sie haben es mit viel Hohn und „Beifall" begleitet — aus konjunkturellen Gründen ein höheres Haushaltsdefizit in Kauf nehmen mußten, gilt für mich und für die Bundesregierung der Satz, den wir im Januar ausgesprochen haben: daß dies ein Ausreißer sein muß und daß wir die Nettokreditaufnahme wieder zurückführen werden. Wir haben jetzt diese Chance, und wir werden das so tun.
    Klarheit und Berechenbarkeit auch in der Haushaltspolitik ist für den Bürger von großer Bedeutung und im übrigen kein Selbstzweck. Klarheit und Berechenbarkeit in der Haushaltspolitik ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß wir auch in der Steuerpolitik die notwendigen Reformen verwirklichen können. Das galt für die Steuerreform einschließlich des Jahres 1990; das gilt auch für die Notwendigkeit — über die es keinen Zweifel geben darf — , daß wir in der Zeit von der Bundestagswahl Ende 1990 bis zum Datum der Verwirklichung des großen europäischen Marktes Ende 1992 in der Frage der Unternehmensbesteuerung und ihrer Reform das Notwendige tun müssen. Es ist ausgeschlossen, daß die deutsche Wirtschaft die Sicherheit der Arbeitsplätze erhalten kann, ja mehren kann, wenn wir mit einer Steuerpolitik in die Gemeinschaft gehen, die weit hinter dem zurückbleibt, was unsere Nachbarn jetzt tun, denn überall richtet man sich auf die Gemeinschaft ein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Vogel, der Beitrag, den Ihre Partei jetzt in Münster auf diesem Weg geleistet hat, besteht im wesentlichen darin, daß Sie Beschlüsse — ich will sie gar nicht aufzählen — mit Auswirkungen in Milliardenhöhe verlangen. Sie haben nicht gesagt, wie Sie diese Programme finanzieren können. Einige einsichtige Kollegen in der SPD haben diesen eklatanten Widerspruch von Wunsch und Wirklichkeit immer wieder deutlich gemacht. Einer Ihrer Sprecher, Herr Spöri, hat dazu ganz einfach festgestellt:
    Die wirtschaftspolitische Aussage dieses Parteitags leidet fundamental an ungeklärten steuerpolitischen Gegensätzen, die wir seit Jahren verkleistern, von Parteitag zu Parteitag in Form eines Verschiebebahnhofs verschieben.
    Ich habe Herrn Spöri nichts hinzuzufügen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wenn einer wie Herr Spöri Ihr Konzept in diesem Sinne betrachtet, dann können Sie nicht erwarten, daß die Bürger Vertrauen in dieses Konzept haben.
    Meine Damen und Herren, jetzt gilt es klare Konsequenzen zu ziehen, nicht nur für die Steuerpolitik, sondern auch für die zentralen innenpolitischen Fragen von Arbeit und Beschäftigung. Sie haben auf Ihrem Parteitag auch dazu kein Konzept vorgelegt. Im Gegenteil, jeden Tag lesen wir von Streit und Auseinandersetzung.
    Wir können noch so viel Vernünftiges in der Steuerpolitik tun: Wir werden die Exportfähigkeit und damit die wirtschaftliche und soziale Stabilität unseres Landes nicht gewährleisten, wenn wir nicht fähig sind, im Bereich der Lohnnebenkosten zu entsprechenden Entscheidungen zu kommen. Das ist notwendig und erfordert einen Beitrag der Tarifpartner, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Aber dies erfordert auch einen Beitrag der Politik.
    Das betrifft das Thema Gesundheitskosten. Man muß, meine Damen und Herren, einfach die Zahlen auf sich wirken lassen. 1960 gab die Krankenversicherung 9 Milliarden DM aus, 1970 waren es 24 Milliarden DM, 1980 86 Milliarden DM, und in diesem Jahr



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    sind es rund 125 Milliarden DM. Herr Abgeordneter
    Vogel, wenn Sie zu der Zeit, als Sie hier Verantwortung trugen, etwa von 1970 bis 1980, gehandelt hätten
    — 1970: 24 Milliarden DM, 1980: 86 Milliarden DM —,

    (Dr. Vogel [SPD]: Jetzt bin ich schuld!)

    hätten wir heute diesen Streit nicht. Aber Sie haben den einfachen und billigen Weg des Opportunismus gewählt. Sie haben den Leuten alles versprochen. Wir sind heute in der Lage, daß wir — wenn wir Zukunft gewinnen wollen — das dafür Notwendige jetzt tun müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Sechs Jahre seid Ihr jetzt schon dran! Billig!)

    Daß es angesichts einer solchen katastrophalen Entwicklung bei den Gesundheitskosten so nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Ich weiß, daß dies ungeheuer schwierig ist. Ich weiß um die Belastung beispielsweise der Kollegen aus den Fraktionen der Koalition im Alltag des Parlamentariers, am Wochenende in den Kreisparteitagen, Kreisversammlungen, in den Gesprächen mit Ärzten, mit Apothekern, mit der Pharmaindustrie,

    (Dr. Vogel [SPD]: Sollen wir auch noch Mitleid haben mit den Kollegen?)

    — Sie brauchen kein Mitleid zu haben. Was Sie haben sollten, ist ein Stück Erkenntnis; das fehlt Ihnen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Was aber, meine Damen und Herren — das sage ich mit Nachdruck — für mich über das Thema Gesundheitskosten hinaus ganz wichtig bleibt, ist, daß die zum Handeln berufenen Politiker — das sind die Regierung und die sie tragenden Parteien — ungeachtet des massiven Drucks von mächtigen Verbänden fähig sind, das Richtige zu tun. Das ist unser Verfassungsauftrag.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Fangt einmal bei dem Pharma-Verband an!)

    Wir werden alle diese Reformmaßnahmen durchsetzen, und wir tun das in der klaren Erkenntnis, daß dies eine Voraussetzung zur Sicherung der Zukunft unseres Landes ist, daß diese Reformen notwendig sind, um den Standort Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Binnenmarkt der 90er Jahre und für den Anfang des nächsten Jahrhunderts zu stärken. An Ihre Adresse, meine Damen und Herren von der SPD, füge ich hinzu: Bei all diesen Problemen — das gilt übrigens auch für den Umweltschutz — geht es um Probleme, die Sie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung vor sich hergeschoben haben.

    (Dr. Vogel [SPD]: So einfach ist das!)

    — Herr Vogel, was Sie heute hier zum Umweltschutz gesagt haben, ist für mich nicht akzeptabel, weil Sie ja selbst handlungsunfähig waren. Es gibt ein einfaches Beispiel: USA und Japan haben 1972 und 1974 das Katalysatorauto eingeführt, Sie haben es verschlafen. Wir mußten es tun, begleitet vom Protest, den Sie mit angefacht haben und vom Protest maßgeblicher Vertreter Ihrer Freunde in der deutschen Automobilindustrie. Wir haben gehandelt, und jeder sieht, es war die richtige Entscheidung. So werden wir es in allen anderen Bereichen auch halten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß, daß ich noch ein Problem anspreche, von dem ich hoffe und — ich glaube — nach der heutigen Debatte auch erwarten darf, daß wir uns ihm gemeinsam zuwenden wollen. Das ist die Frage, wie wir den Aussiedlern, den Deutschen, die aus Rumänien, aus Polen, aus der Sowjetunion oder von anderswo zu uns kommen — es sind mindestens 200 000 in diesem Jahr — , eine neue Heimat schenken können. Es ist kein Thema, finde ich, das zunächst unter finanziellen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Wer einmal in Friedland war, wer das Schicksal der Betroffenen kennt, wer mit diesen Familien gesprochen hat — drei Generationen kommen oft zusammen — , wer den Leidensweg dieser Deutschen von 1943 bis zum heutigen Tag verfolgt, wer z. B. mit Deutschen gesprochen hat, die aus Polen kommen — wobei die junge Generation praktisch kaum mehr Deutsch spricht, weil ihnen das verwehrt wurde — , wer dies alles erlebt hat, der muß doch einfach spüren, daß dies kein Thema ist, das sich zum Parteienstreit eignet oder überhaupt unter uns strittig sein kann. Aussiedler kommen heute aus fernen Teilen der Sowjetunion und ich hoffe, daß mein Besuch in Moskau und der Gegenbesuch von Generalsekretär Gorbatschow dazu beitragen werden, daß möglichst viele in Zukunft zu uns kommen können. Jeder von uns sollte wissen, was diese Menschen mitgemacht haben, die aus alten deutschen Familien kommen, solchen, die zum Teil seit Jahrhunderten auf russischem Gebiet gesiedelt haben, und solchen, die durch Zufälle 1945 irgendwo auf der Straße mitgenommen und dann in fernste Provinzen der Sowjetunion verschlagen wurden.
    Für all diejenigen, denen dies widerfahren ist und die jetzt die Chance haben, zu uns zu kommen, gilt: Sie kommen in die deutsche Heimat, und sie haben es nicht zu vertreten, daß sie über vier Jahrzehnte nicht auf der Sonnenseite deutscher Geschichte leben konnten wie die allermeisten von uns in diesen Jahren.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der Abgeordneten Frau Garbe [GRÜNE])

    Ebenso, wie ich mich nachdrücklich für Hilfe für die Asylanten ausspreche — für diejenigen, die wirklich Asylanten sind, die zu uns kommen, weil sie aus Gründen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung, ihrer Rasse verfolgt werden — , bin ich auch unbedingt dafür, daß wir jetzt diesen zu uns kommenden Deutschen geben, worauf sie, wie ich denke, einen moralischen Anspruch haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, ich weiß — alle Redner haben davon gesprochen — , daß dies nicht nur auf Zustimmung stoßen wird. Das ist kein spezifisch deutsches Problem. Vergleichbare Probleme haben wir auch in anderen Ländern beobachtet. Denken Sie z. B.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    an Frankreich und an die Algerienfranzosen. Das entspricht der menschlichen Natur. Aber ich finde, daß hier Politik und wichtige Bereiche der Gesellschaft — ich nenne ausdrücklich die Kirchen — eine Aufgabe haben, der sie sich jetzt zuwenden sollten.
    Wenn wir im nächsten Jahr den 40. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland feiern, blicken wir ja auch im Deutschen Bundestag, in unserem Parlament, auf diese vier Jahrzehnte zurück. Wenn Sie sich einmal die großen Persönlichkeiten des deutschen Parlamentarismus, aus allen demokratischen Parteien als Beispiel vor Augen halten, wenn Sie bedenken, was damals — etwa in den ersten beiden Legislaturperioden — , im Blick auf den Lastenausgleich, auf die Hilfe für Flüchtlinge geleistet wurde — in einer Zeit in der der Wohlstand unseres Landes überhaupt nicht vergleichbar war mit dem, was wir heute ganz selbstverständlich genießen — , dann muß ich sagen: Das, was wir jetzt für die Aussiedler tun, ist einfach eine Selbstverständlichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich glaube, das ist für viele in unseren Städten und Gemeinden, in unseren gesellschaftlichen Organisationen, in den Kirchen, in den Gewerkschaften und nicht zuletzt in den Parteien eine Chance, sich — bei allen Problemen, um die ich auch weiß — einer großen Herausforderung gewachsen zu zeigen.
    Meine Bitte und meine Aufforderung an uns alle im Hohen Haus und draußen im Land geht dahin, daß wir uns dieser Herausforderung gewachsen zeigen. Es geht um ein Stück Identität der Deutschen. Es geht um ein Beispiel für die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen und für die Zukunft Geschichte zu schreiben.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 13.03 bis 14.00 Uhr)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Richard Stücklen


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ehmke.