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ID1107804700

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    Plenarprotokoll 11/78 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 78. Sitzung Bonn, Freitag, den 6. Mai 1988 Inhalt: Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz) (Drucksache 11/ 2237) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Reichsversicherungsordnung (Drucksache 11/280) c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (Drucksache 11/1623) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung der Vorschriften über die Meldepflichten des Arbeitgebers in der Kranken- und Rentenversicherung sowie im Arbeitsförderungsrecht und über den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in das Vierte Buch Sozialgesetzbuch — Gemeinseme Vorschriften für die Sozialversicherung — (Drucksache 11/2221) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung einer besseren Pflege (Bundespflegegesetz) (Drucksache 11/1790 [neu]) Dr. Blüm CDU/CSU 5273 D Dreßler SPD 5281 A Dr. Blüm CDU/CSU (Erklärung nach § 30 GO) 5287 C Dreßler SPD (Erklärung nach § 30 GO) . 5288 A Cronenberg (Arnsberg) FDP 5288 A Frau Wilms-Kegel GRÜNE 5292 D Günther CDU/CSU 5296 B Egert SPD 5299 B Seehofer CDU/CSU 5303 B Frau Unruh GRÜNE 5306B, 5324 A Dr. Thomae FDP 5308 A Heyenn SPD 5309 D Dr. Becker (Frankfurt) CDU/CSU . . . 5311D Dr. Knies, Minister des Landes Niedersachsen, Beauftragter des Bundesrates . . . 5314 C Jaunich SPD 5316A Wüppesahl fraktionslos 5318D Zink CDU/CSU 5320 B Haack (Extertal) SPD 5321 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 5324 B Nächste Sitzung 5325 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 5327* A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 5327* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Mai 1988 5273 78. Sitzung Bonn, den 6. Mai 1988 Beginn: 9.03 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein * 6. 5. Dr. Ahrens * 6. 5. Dr. Bangemann 6. 5. Frau Beck-Oberdorf 6. 5. Becker (Nienberge) 6. 5. Frau Blunck * 6. 5. Böhm (Melsungen) * 6. 5. Büchner (Speyer) * 6. 5. Bühler (Bruchsal) * 6. 5. Catenhusen 6. 5. Frau Conrad 6. 5. Daweke 6. 5. Dr. Dregger 6. 5. Frau Fischer * 6. 5. Frau Flinner 6. 5. Gallus 6. 5. Gattermann 6. 5. Frau Geiger 6. 5. Geis 6. 5. Dr. Geißler 6. 5. Dr Götz 6. 5. Dr. Hauff 6. 5. Dr. Haussmann 6. 5. Frhr. Heeremann von Zuydtwyck 6. 5. Hiller (Lübeck) 6. 5. Dr. Hitschler * 6. 5. Ibrügger 6. 5. Jansen 6. 5. Jungmann 6. 5. Klein (Dieburg) 6. 5. Klein (München) 6. 5. Dr. Klejdzinski 6. 5. Leidinger 6. 5. Lemmrich * 6. 5. Link (Diepholz) 6. 5. Frau Luuk * 6. 5. Meyer 6. 5. Dr. Müller * 6. 5. Dr. Neuling 6. 5. Niegel * 6. 5. Frau Pack * 6. 5. Pfeifer 6. 5. Dr. Probst 6. 5. Reddemann * 6. 5. Regenspurger 6. 5. Reuschenbach 6. 5. Dr. Riedl (München) 6. 5. Ronneburger 6. 5. Roth (Gießen) 6. 5. Frau Rust 6. 5. Dr. Scheer * 6. 5. Scheu 6. 5. Schmidt (München) * 6. 5. von Schmude * 6. 5. Dr. Schneider (Nürnberg) 6. 5. Schreiner 6. 5. Schröer (Mülheim) 6. 5. Frau Simonis 6. 5. Steiner * 6. 5. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Uelhoff 6. 5. Dr. Unland * 6. 5. Dr. von Wartenberg 6. 5. Wimmer (Neuss) 6. 5. Wissmann 6. 5. Würtz 6. 5. Zierer * 6. 5. Dr. Zimmermann 6. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 29. April 1988 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen: Gesetz über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1988 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung Gesetz zur Ausführung zwischenstaatlicher Anerkennungs- und Vollstreckungsverträge in Zivil- und Handelssachen (Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz - AVAG) Gesetz zu dem Übereinkommen vom 10. April 1984 über den Beitritt der Republik Griechenland zu dem am 19. Juni 1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Gesetz zu der Änderung vom 16, Oktober 1985 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Seefunksatelliten-Organisation (INMARSAT-Übereinkommen) Gesetz zu dem Dritten Protokoll vom 12. Mai 1987 zur Änderung des Vertrages vom 27. Oktober 1956 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik und dem Großherzogtum Luxemburg über die Schiffbarmachung der Mosel Gesetz zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu nachstehenden Vorlagen absieht: Rechtsausschuß Drucksache 10/5012 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 11/841 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß sie die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen haben: Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/2089 Nr. 3-8 Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Drucksache 11/1895 Nr. 2.35 Ausschuß für Verkehr Drucksache 11/929 Nr. 2.28 Drucksache 11/1107 Nr. 2.11 Drucksache 11/1707 Nr. 29 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 11/779 Nr. 2.55 Drucksache 11/1365 Nr. 3.30 Drucksache 11/1656 Nr. 3.39 Anlagen zum Stenographischen Bericht
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    Rede von Dieter-Julius Cronenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident, mit diesen Methoden wird auch dieses Haus diffamiert.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Was ist denn los: Hat er es gesagt, oder hat er es nicht gesagt? — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Herr Abgeordneter Vogel, der Kollege Blüm hat die Zusammenhänge deutlich, und zwar unmißverständlich klargestellt,

    (Heyenn [SPD]: Er hat es doch gesagt! — Dr. Vogel [SPD]: Hat er es gesagt oder nicht?)

    und damit ist die Unterstellung des Kollegen Dreßler eine Diffamierung übelster Art.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Kuhlwein [SPD]: Herr Blüm ist wörtlich zitiert worden, Herr Cronenberg! Sie verdrehen die Tatsachen!)

    — Herr Präsident, ich bedauere es außerordentlich, daß dies möglicherweise von meiner Redezeit abgeht.

    (Zurufe von der SPD)

    Aber ich möchte das noch einmal klarstellen: Wenn hier Zeitungsberichte mit auseinandergerissenen Zitaten angeführt werden, so ist es erforderlich, wenn Sie einen Rest von menschlicher Anständigkeit haben, das hier in Ordnung zu bringen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Rede des Kollegen Dreßler zeichnet sich noch durch eine andere Feststellung aus.

    (Kuhlwein [SPD]: Zahnärztepartei!)

    — Darauf gehe ich gleich auch noch ein.

    (Jaunich [SPD]: Sagen Sie dann mal, welche Summen eingekommen sind! — Heyenn [SPD]: Wie war denn das Spendenergebnis?)

    Sie haben versucht, mit eingeübter Rhetorik das Niveau von Norbert Blüm, um das der eine oder andere ihn beneidet, zu erreichen. Man kann darüber denken, wie man will, aber Sie haben bei der Einübung Ihrer Polemik offensichtlich vergessen, den Gesetzentwurf zu lesen, und das ist bedauerlich.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Im Gegensatz zu einigen Behauptungen enthält diese Gesetzesvorlage durchaus strukturverändernde Elemente, aber — das gebe ich zu — auch klassische Kostendämpfungsmaßnahmen. Beide sollen und müssen die Finanzierbarkeit eines alles in allem leistungsfähigen und reformwürdigen Systems sicherstellen.
    Die Notwendigkeit einer Reform kann niemand ernsthaft bestreiten. Steigende Beiträge in der Krankenversicherung schränken — Herr Kollege Dreßler, das sollte Sie besonders interessieren — die frei verfügbaren Einkommen von Arbeitnehmern ein. Sie verteuern den Preis für Arbeit, sind beschäftigungsfeindlich, kosten Arbeitsplätze unserer exportorientierten Wirtschaft. Machen Sie sich noch einmal bewußt: Für einen Arbeitnehmer mit einem Bruttojahreseinkommen von 54 000 DM werden 20 000 DM So-



    Cronenberg (Arnsberg)

    zialversicherungsbeiträge abgeführt. Das bedeutet, daß jemand, der einen Monatslohn von 2 800 bis 3 000 DM hat, bis zu 3 000 DM zusätzliche Lohnnebenkosten verursacht. Der Arbeitnehmer hat Glück, wenn er zum Schluß 2 000 DM ausgezahlt bekommt. Sie sind ebenso wie wir verpflichtet, diese Situation zu berücksichtigen.
    Wie bei der Steuerreform geht es um eine entscheidende Grundfrage: Wieviel von den sauer verdienten Groschen der Bürger darf der Staat für Sozialversicherung abkassieren? Hier unterscheiden wir uns von den Umverteilungsfetischisten jedweder Couleur hier und außerhalb des Hauses.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir wollen, daß den Bürgern möglichst viel Geld in der Tasche bleibt, weil wir überzeugt sind, daß es da besser als beim Finanzamt oder bei der AOK aufgehoben ist.

    (Beifall bei der FDP)

    Deshalb sehen wir in der Stabilisierung, wenn möglich auch Senkung der Beiträge, das Ziel unserer Bemühungen.
    Meine Damen und Herren, für uns sind die sozialen Sicherungssysteme ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Marktwirtschaft. Aber diese Sicherungssysteme werden mit Zwangsabgaben finanziert. Von der Höhe der Abgaben hängt es auch ab, ob diese Pflichtversicherung, diese notwendigen Solidarsysteme, auf Dauer von der Bevölkerung akzeptiert werden. Die Akzeptanz ist eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieser Systeme.
    Die Stabilisierung der Beiträge ist um so wichtiger, als wir es in der Zukunft mit zwei zusätzlichen Problemen zu tun haben werden: erstens einer erfreulich steigenden Lebenserwartung der Menschen und zweitens einem begrüßenswerten medizinischen Fortschritt. Beides kostet zusätzlich Geld, und niemand will ja die zusätzlichen Leistungen den Menschen bei uns verweigern. Aber es ist auch ein Beweis für die Notwendigkeit unserer Bemühungen und nicht, wie dümmliche Kritiker immer wieder behaupten, ein Grund dafür, alles so zu belassen, wie es sei, weil wir die Beiträge ohnehin nicht senken könnten.

    (Heyenn [SPD]: Das war Niveau eben! Ihre Kritiker sind dümmlich!)

    Meine Damen und Herren, wer ernsthaft in Kauf nehmen will, daß Kosten und Ausgaben weiter steigen, Herr Kollege Heyenn, der gefährdet die freiheitliche Organisation unseres Gesundheitswesens, und zwar mehr als mancher regelungswütige Beamter des Bundesarbeitsministeriums.
    Ein Kernpunkt der Reform ist die Neubestimmung der Aufgaben der sozialen Krankenversicherung. Dabei geht es um eine Neuabgrenzung zwischen der mit Pflichtbeiträgen finanzierten Solidargemeinschaft und der Eigenverantwortung des einzelnen.
    Ich meine, der Schutz der Solidargemeinschaft soll dort beginnen, wo die Überforderung des einzelnen anfängt. Im Gegensatz zu früheren Generationen geben unsere Mitbürger immer weniger von ihrem Nettoeinkommen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen — Essen, Trinken, Wohnen — aus, und erfreulicher- und dankenswerterweise steigen die Ausgaben für Urlaub, für Auto und für Hobby. Deswegen ist es doch geradezu selbstverständlich, daß wir uns die Frage stellen, ob sich er Österreich-Urlauber mit teilkaskoversichertem Pkw den Fingerling oder die Schuheinlage mit viel bürokratischem Aufwand tatsächlich von einer Krankenkasse bezahlen lassen muß.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deswegen ist es gerechtfertigt, Bagatellmittel von der Erstattung auszunehmen. Deswegen ist es gerechtfertigt, das Sterbegeld nach einer großzügigen Übergangsregelung auf Dauer abzubauen. Deswegen ist es auch gerechtfertigt, Fahrtkosten nur dann zu bezahlen, wenn der einzelne überfordert ist.
    Ich bestreite nicht, daß dies Kostendämpfung ist. Darauf kann auch nicht verzichtet werden, denn wir brauchen die knappen Mittel für andere, wichtigere Aufgaben.
    Wir machen aber mehr als nur Kostendämpfung. Niemand wird bestreiten können, daß z. B. die Einführung von Festbeträgen für Heil- und Hilfsmittel und für Medikamente eine bedeutsame strukturelle Veränderung ist. Dabei ist es selbstverständlich, daß für den Versicherten im Krankheitsfalle alle notwendigen Leistungen ermöglicht werden müssen. Aber besser als zu reparieren und als zu heilen, ist es, Krankheit zu vermeiden, und zwar durch Vorbeugung. Anreize für ein gesünderes Leben und Vorsorge bedeuten Kostenersparnis und nicht, wie uns vorgeworfen wird, Kostenausweitung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, aus leidvoller Erfahrung, auch aus leidvoller gemeinsamer Erfahrung wissen wir, daß sich Appelle zu mehr Sparsamkeit als wenig erfolgreich erwiesen haben. Auch Kontrollen können bestenfalls nur disziplinieren; sie motivieren aber nicht zu vernünftigen Verhaltensweisen.
    Deswegen ist es so wichtig, daß die Verhaltensweisen aller Beteiligten, von Versicherten wie von Leistungserbringern, durch sinnvolle Anreize so verändert werden, daß die persönliche Interessenlage sowohl der Versicherten wie auch der Leistungserbringer mit der Interessenlage der Gemeinschaft übereinstimmt. Höchstmögliche Effektivität ist auch im Gesundheitswesen ganz entscheidend. Das wiederum hängt von den Organisationsstrukturen ab.
    Hier, Herr Kollege Dreßler, gibt es entscheidende Unterschiede zum SPD-Konzept. Sie wollen Gesundheitsversorgung durch mehr Plan und durch Bürokratie organisieren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Eben! — Zuruf von der SPD: Davon müssen Sie gerade reden!)

    Sie nennen das vornehm zurückhaltend „Regionalkonferenz".

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, eben!)

    Aber Sie verwechseln dabei offensichtlich Konferenz
    mit Behörde. Mit der Einbeziehung des Staates in den



    Cronenberg (Arnsberg)

    Sicherstellungsauftrag — das ist ja Ihr Vorschlag — für die Versorgung mit Gesundheitsleistungen unterminieren Sie die bewährte Selbstverwaltung.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Die Kapazitäts- und Bedarfsfestlegung, die da am grünen Tisch vorgenommen werden soll, ist — darum kommen Sie nicht herum — praktizierte Planwirtschaft.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! — Lachen bei der SPD)

    Wir vertrauen auf die freiberuflichen niedergelassenen Ärzte,

    (Dreßler [SPD]: Auch die Zahnärzte!)

    — auf die Zahnärzte, richtig — , Apotheker, Masseure und eigenverantwortlich arbeitenden Optiker, Zahntechniker und Orthopäden.

    (Beifall bei der FDP)

    Mir sind private und gemeinnützige wirtschaftlich arbeitende Krankenhäuser dreimal lieber als folgekostenträchtige Landratsgedächtniskrankenhäuser.

    (Beifall bei FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das hat alles zur Kostenexplosion beigetragen?)

    Ich bin überzeugt davon, daß ein quasi beamteter, einkommens- und leistungsgedeckelter, in seiner Therapiefreiheit eingeschränkter Arzt à la SPD-Gesundheitsprogramm

    (Widerspruch bei der SPD)

    ein uneffektiver, ein teurer und demotivierter Leistungserbringer ist.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, natürlich kommt man ohne Kontrollen nicht aus, jedenfalls solange nicht, wie man an einem anonymen Sachleistungssystem festhalten will. Für abgerechnete wie für veranlaßte Leistungen werden neue Formen der Wirtschaftlichkeitsprüfung eingeführt. Wie schon bisher ist dies Aufgabe der paritätisch besetzten Selbstverwaltung. Wirtschaftlichkeitsprüfungen dürfen aber nicht zum Selbstzweck und nicht zur Dauerbeschäftigung von Prüfern werden.

    (Zuruf von der SPD: An wen richten Sie sich jetzt?)

    Ich habe erhebliche Zweifel, daß eine quartalsmäßige Prüfungsquote von 2 % wirklich sinnvoll ist. Mir erscheint unter Berücksichtigung der gewaltigen Kosten, die das verursacht, 1 To als Mindestquote ausreichend.

    (Zuruf von der SPD: Herr Cronenberg, an wen richten Sie sich jetzt? Nach rechts gukken!)

    Den Rest kann die Selbstverwaltung erledigen.
    Aber ich möchte nicht mißverstanden werden: Wir stellen die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht in Frage. Neuerdings werden diese Prüfungen abgelehnt. Ich bitte die Ärzte und ihre Standesorganisationen eindringlich und herzlich, auch und gerade im Interesse des Berufsethos unsere Bemühungen um eine sinnvolle und notwendige Wirtschaftlichkeitsprüfung zu unterstützen. Je größer das Vertrauen in die Prüfung ist, je besser ist es um das Ansehen und um das Vertrauen des ärztlichen Berufsstandes bestellt.

    (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU)

    Ich bin ohnehin überzeugt davon, daß es sich nur um wenige schwarze Schafe handelt.
    Im direkten Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung stehen die Fragen der Transparenz. Der Versicherte muß die Möglichkeit haben zu erfahren, was das Heilen gekostet hat. Kostenerfassung darf aber kein Selbstzweck sein. Gewiß ist es nicht leicht, die Grenzen zwischen gewünschter und notwendiger Transparenz und unzulässiger Datenschnüffelei zu ziehen. Wir haben dafür gesorgt, daß das, was die Kassen erfassen, strengen gesetzlichen Zweckbestimmungen und Löschungsfristen unterliegt. Wir waren und sind hartnäckig der Meinung, daß das, was bei den Kassenärztlichen Vereinigungen erfaßt wird, nicht bei den Kassen erfaßt werden muß. Diagnosedaten und sonstige Angaben über ärztliche Leistungen dürfen nicht obligatorisch bei den Krankenkassen erfaßt werden.

    (Beifall bei der FPD)

    Nur bei Stichproben werden die erforderlichen Leistungsdaten zwischen den Kassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen ausgetauscht; übrigens so, wie das auch heute in den paritätisch besetzten Prüfgremien geschieht. Insoweit ist das nichts Neues.
    Es ist für mich auch selbstverständlich, daß dies mit modernen EDV-Anlagen gemacht werden kann. Ebenso ist es aber selbstverständlich, daß es strenge gesetzliche Vorschriften geben muß, damit die Daten, wenn der Zweck erfüllt ist, auch gleich wieder gelöscht werden.
    Vieles, was ursprünglich an Datenerfassung und Datenverwendung vorgesehen war, hat berechtigte Unruhe geschaffen. Ich möchte mich bedanken, daß man unsere Argumente in diesem Zusammenhang berücksichtigt hat. Noch aber hat der Bundesdatenschutzbeauftragte keine schriftliche Stellungnahme zu dem ganzen Komplex abgegeben. Sollten sich Bedenken ergeben, müssen diese Bedenken im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens selbstverständlich einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.

    (Beifall bei der FPD und Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ein kurzes Wort auch zu dem medizinischen Dienst. Ich weiß, daß im BMA einige sicherlich ehrenwerte Ministerialbürokraten traurig sind, daß der medizinische Dienst das Licht der Welt nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form erblickt hat. Ich hoffe sehr, daß mir niemand übelnimmt, wenn ich sage: Ich habe mich darüber gefreut und verleugne meine Mittäterschaft nicht.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Ein bißchen klatsche ich mit!)

    — Ein bißchen klatscht Kollege Waigel mit, okay.
    Meine Damen und Herren, eine weitere bedeutsame strukturelle Änderung ist die Einführung des



    Cronenberg (Arnsberg)

    Kostenerstattungssystems bei der Kieferorthopädie und beim Zahnersatz. Das ist ein wichtiger Schritt weg vom anonymen Sachleistungsprinzip. Man kann darüber denken, wie man will, Kollege Egert, aber es ist eine strukturelle Änderung; darüber gibt es keinen Streit. Ich rechne es den Zahnärzten hoch an, daß sie entgegen ihrer vordergründigen Interessenlage seit langem für Kostenerstattung und Festbeträge eintreten. Sie tun das auch jetzt, wo die Kostenerstattung für ihren Bereich kommt. Sie stehen zu dem, was sie vorher gesagt haben.
    Bei allem Streit, den es über die Höhe der Zuschüsse beim Zahnersatz geben mag: Ich habe Respekt vor dieser ordnungspolitischen Haltung. Jedenfalls gehören die Zahnärzte nicht zu jenen Lobbyisten oder Kritikern, die ich in den letzten Wochen immer wieder erlebt habe, die mir erst vernünftige Vorschläge machen, dann aber, wenn wir sie durchgesetzt haben, dicke Kullertränen in den Augen haben und sich an die Spitze der Protestbewegung setzen. Ich meine, die Zahnärzte haben in diesem Bereich eine Haltung eingenommen, die Respekt verdient.

    (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

    Den Zahnärzten geht es so wie der FDP: Sie werden zum Prügelknaben der Nation gemacht.

    (Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Tränen! — Lachen bei der SPD)

    — Natürlich. — Richtig ist, daß seit den 70er Jahren im Bereich des Zahnersatzes überproportionale Ausgabensteigerungen zu verzeichnen waren.
    Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, klopfen wir uns doch einmal an die Brust. Wer hat das denn verursacht? — Waren es denn nicht die Sozialgerichte, in deren Gefolge der Gesetzgeber 1974 den Zahnersatz zur Sachleistung gemacht hat? Es ist verdammt billig und einfach, erst jedem einen einklagbaren Anspruch auf ein goldenes Gebiß zu gewähren,

    (Lachen bei den GRÜNEN — Frau Unruh [GRÜNE]: Das haben nur die Beamten bekommen!)

    es anschließend als politische Glanzleistung zu verkaufen und im Anschluß den ganzen Berufsstand der Zahnärzte und die Zahntechniker undifferenziert als Kostentreiber der Nation zu prügeln.

    (Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Mund auf! Was haben Sie denn für ein Gebiß? — Frau Unruh [GRÜNE]: Unverschämt!)

    Tatsache ist, daß es in den 70er Jahren Leistungsausweitungen gegeben hat,

    (Dr. Vogel [SPD]: Mund auf!)

    die heute nicht mehr finanzierbar sind. Mit ordnungspolitisch ordentlichen Instrumenten werden diese Dinge in Ordnung gebracht. Das hätte Ihre Zustimmung und nicht eine bösartige Kritik verdient.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Zugegebenermaßen hat sich die Ministerialbürokratie nicht immer gerade sensibel gezeigt, als sie die
    Bewertung der zahnärztlichen und zahntechnischen Leistungen durch Rechtsverordnung vorzunehmen gedachte. Das wäre ein grober Verstoß gegen den Vorrang der Selbstverwaltung gewesen.
    Der Gedanke, daß Ministerialbeamte die Bewertung von Leistung — wo auch immer — vornehmen sollen, von der sie im Grunde genommen genausowenig verstehen wie ich,

    (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) ist und bleibt für mich unakzeptabel.

    Die Erhaltung eines vielfältigen Arzneimittelangebots zum Vorteil der Patienten und zu Preisen, die sich im Wettbewerb gebildet haben, war und ist Ziel unserer Bemühungen. Lassen Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen: Ich bin fest davon überzeugt, daß Forschung und Wettbewerb keine Gegensätze sind, wie uns einige in den letzten Wochen einzureden versucht haben. Wer die Vielfalt des Arzneimittelangebots und die Forschung gewährleisten will, der darf sich nicht Positivlisten oder gesetzlich verordneter Preisstopps bedienen. Das wäre wirklich das Ende für eine forschungsintensive Industrie.

    (Zuruf von der SPD: Festbeträge stehen in den Listen, Herr Cronenberg! — Frau Unruh [GRÜNE]: Mein Gott! Wovon reden wir hier?)

    Zwangspreissenkungen wie auch „freiwillige" Zwangsbeiträge sind mit meinen ordnungspolitischen Vorstellungen unvereinbar.
    Meine Damen und Herren, sie sind auch dann unakzeptabel, wenn sie uns trickreich in Form eines Gegengeschäfts angeboten werden. Wenn ich Preisstopps, Zwangsrabatten oder Positivlisten zustimmen würde, müßte man mich zu Recht aus der LudwigErhard-Gesellschaft hinausschmeißen. So, wie die Hersteller ihre Preise autonom bilden sollen, müssen auch die Versicherungen das Recht haben, festzulegen, in welcher Höhe sie die Kosten übernehmen.
    Mir hat bisher noch niemand halbwegs überzeugend darlegen können, warum mit den Beiträgen meiner Mitarbeiter und den Beiträgen meiner Firma 30 DM für ein Medikament gezahlt werden sollen, wenn ich es für 10 DM bekommen kann. Das gilt ganz besonders für vergleichbare Produkte, z. B. wirkstoffgleiche Medikamente. Deswegen bin ich für die Einführung der Festbeträge. Ich halte sie für wirksam, ordnungspolitisch korrekt und lobenswert, überall da, wo vergleichbare Voraussetzungen bestehen.

    (Zuruf von der SPD: Für alle oder nur für Dritte?)

    Der Sinn ist nicht mehr bezahlen als nötig, wenn ein besseres Angebot vorliegt. So kaufen Sie ein, und so kaufe auch ich ein. Insoweit ist es eine ganz vernünftige Regelung. Sie kann aber nur dort angewandt werden, wo es, wie ich bereits sagte, vergleichbare Therapiemöglichkeiten und Therapieangebote gibt.

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Also Aufklärung!)

    Für einen Wirkstoff, der aus dem Patent- bzw. Verwertungsschutz herausfällt, kann frühestens zwei Jahre nach dem ersten Nachahmer ein Festbetrag gebildet werden.



    Cronenberg (Arnsberg)

    Es ist auch ordnungspolitisch richtig und einleuchtend, daß die Kassen unter Mitwirkung der Apotheken und Pharmahersteller festlegen, wo Festbeträge festgelegt werden sollen. Die Einführung solcher Festbeträge muß mit dem Sachverstand derjenigen geschehen, die davon etwas verstehen.

    (Beifall bei der FDP)

    Das ist sicherlich auch im Sinne des Kollegen Rappe von der SPD, der sich große Sorge um die Pharmaindustrie macht und sich dazu kritisch kontrovers zu mir geäußert hat. Sie wissen, daß ich ihn sehr schätze, aber diesen Dissens kann ich hier nicht leugnen.
    Der stellvertretende Vorsitzende des DGB Muhr hat sich in dieser Sache völlig anders geäußert. Man kann sehen, daß auch er über die Probleme nachgedacht hat und gelegentlich zu dem gleichen Ergebnis kommt wie die Freien Demokraten.
    Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß mit dieser Strukturveränderung die Industrie und die Apotheker einen sehr bedeutsamen Beitrag zur Reform leisten. Wer über diese einschneidenden Maßnahmen hinaus Sonderopfer in Milliardenhöhe verlangt, der würde wirklich eine export- und forschungsintensive Industrie zum Nachteil der Patienten gefährden. Auch für die Apotheken werden Festbeträge zu Umsatzeinbußen führen. Deshalb wäre eine Erhöhung des Kassenrabatts nicht zu verantworten gewesen.
    Wir haben in der Koalition vereinbart, daß ab 1991 statt der festen Rezeptblattgebühr sinnvollerweise eine prozentuale Zuzahlung eingeführt wird. Das hat viel, viel Überzeugungsarbeit gekostet, aber sie war nicht vergeblich. Das ist ein weiteres wirksames marktwirtschaftliches Steuerungsinstrument im Arzneimittelbereich. Das ist eine Strukturveränderung. Ich meine, über die Höhe der Selbstbeteiligung wird noch bis zum Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens zu entscheiden sein.
    Ich habe für die ideologisch verblendete Kritik der SPD gegen die prozentuale Selbstbeteiligung kein Verständnis. Zum einen hat es so etwas bereits in SPD-Regierungszeiten gegeben, und zum anderen halte ich eine sozial vertretbare Selbstbeteiligung allemal für besser als die Bevormundung und die Zweiklassenmedizin durch Positivlisten.

    (Beifall bei der FDP)

    Das ist der Unterschied. Mit Ihrem bürokratischen Zuteilungskonzept soll die Masse auf ein Mindestmaß gedrückt werden.
    Meine Zeit erlaubt es mir nicht, auf das Kapitel „Krankenhaus- und Krankenkassenstrukturreform", bei dem letzteren gibt es viel Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, an dieser Stelle einzugehen; mein Kollege Dr. Thomae wird dies tun.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Alle unsere Bemühungen sollen zur Erhaltung unseres freiheitlichen Gesundheitssystems mit freier Arztwahl und Therapiefreiheit beitragen. Es ist bösartig, zu behaupten, diese Reform diene nicht den Versicherten. Jede Mark, die sinnvoll und vertretbar eingespart
    wird, brauchen Sie, wir und andere beim Beitragszahler nicht mehr abzukassieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Kolb [CDU/CSU]: Das ist die Abkassiererei!)

    In diesem Zusammenhang ist das Wort „Abkassieren" richtig.
    Natürlich weiß ich, daß die jeweilige Opposition versucht, die Regierung madig zu machen und ihr wahlpolitisches Süppchen zu kochen. Das ist auch heute versucht worden. Aber so wie ich mich in der Vergangenheit bemüht habe und mich auch in Zukunft bemühen werde, Argumente, auch wenn sie von der Opposition kommen, auf ihre Richtigkeit hin zu untersuchen und dies alles richtig zu gewichten, so bitte ich Sie ebenfalls, sich um Objektivität zu bemühen. Nicht nur die SPD, sondern auch die Leistungserbringer bitte ich,

    (Beifall bei der FDP)

    sich mit diesen Dingen objektiv auseinanderzusetzen.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Vom Erfolg oder Mißerfolg dieser Reform hängt es ab, ob wir auf Dauer ein freiheitliches Gesundheitssystem oder ein verstaatlichtes Gesundheitssystem haben werden.

    (Frau Traupe [SPD]: Das ist ja Quatsch! — Gegenruf des Abg. Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das Wort „Quatsch" nehmen Sie zurück! — Frau Traupe [SPD]: Nein, Quatsch ist das!)

    Letzteres bedeutet: Weniger Freiheit, höhere volkswirtschaftliche Kosten und schlechtere Leistungen. Wer das nicht will, meine Damen und Herren, der muß unsere Bemühungen unterstützen — wenn schon nicht aus Begeisterung, dann wenigstens aus Einsicht.
    Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.

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    Rede von Heike Wilms-Kegel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Sie jetzt an den Radios und an den Fernsehschirmen sitzen!

    (Unruhe und Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich möchte mich heute insbesondere an jene Menschen in unserem Lande wenden, die mit Hoffen und Bangen in dieser Stunde nach Bonn sehen und uns hören, nämlich die Kranken,

    (Feilcke [CDU/CSU]: Zum Glück haben die ja Sie!)

    die chronisch Kranken, die Behinderten, die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitsunfähigen, an die Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürger, die — wenn nicht heute, so bestimmt doch in Zukunft —



    Frau Wilms-Kegel
    mit den Untaten des Ministers Blüm bestraft werden.
    Sie alle sollen zunächst einmal wissen, mit welchen Versprechungen, Zusagen, Vertröstungen und Ankündigungen Minister Blüm versucht hat, im Deutschen Bundestag am 4. Dezember 1987 alle diejenigen zu beruhigen, die dieses unsoziale — ja, ich möchte sagen: asoziale — Gesetzesvorhaben richtig erahnten.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Blüm führte damals u. a. aus — ich zitiere — :
    Wir erwarten einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Ohne diesen Solidarbeitrag ist diese Krankenversicherungsrefom nicht zu machen. Wir wollen mit den Arzneimittelherstellern über die Wege reden. Aber ich bin ganz sicher, daß das Gesetz die dritte Lesung dieses Bundestages nicht ohne einen solchen Solidarbeitrag — um das ausdrücklich zu sagen — der Pharmaindustrie erreichen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Heute, Herr Minister, wissen wir es besser.

    (Zuruf von der SPD: Wortbruch!)

    Sie wollten nicht in die Knie gehen; dabei zitterten Ihre Knie damals schon. Die Bauchlandung ist mittlerweile vollzogen, und Tatsache ist, daß die Mittel in Höhe des Solidarbeitrags nicht von der Pharmaindustrie erbracht werden, sondern von den Rentnerinnen und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar in Höhe von 1,5 Milliarden DM. Welch ein Zufall! Genau in dieser Größenordnung sollte auch das Opfer der Pharmaindustrie liegen.
    Schämen Sie sich eigentlich nicht, Herr Minister, daß Sie den Tritt, den man Ihnen in die Kniekehle gegeben hat, so daß Sie umgefallen sind, an Rentnerinnen und Rentner weitergeben, die Ihr Kostendämpfungsgesetz durch Beitragserhöhungen weitgehend finanzieren sollen?
    Darüber hinaus wird gerade diese Gruppe unserer Bevölkerung durch vielfache Selbstbeteiligungen bei Massagen, Fangopackungen, Arzneimitteln, Taxifahrten und Zahnersatz kräftig zur Ader gelassen. Der soziale Minister Blüm fuhr damals fort:
    Deshalb: Zieht Euch warm an. Es wird uns ein kalter Wind entgegenwehen. Ich sage entschlossen: Wir werden uns auch von Lobbyisten nicht umstoßen lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD und den GRÜNEN ...)

    Herr Blüm, ich fordere Sie auf, heute vormittag einen Verband, eine Institution, irgendeinen Betroffenen außerhalb der Regierungsfraktion zu nennen, die mit Ihrer Diskriminierungskampagne einverstanden sind. Sind Sie wirklich der Meinung, daß es ein Ausdruck von Stärke ist, ja gar ein Ausdruck von demokratischem Verhalten, wenn Sie ungeachtet aller Mahnungen und Bitten um Verständnis einzelner Betroffener die Bundesrepublik mit Gesetzen überziehen, deren Auswirkungen nicht nur finanziell brutal, sondern auch inhuman sind?
    An welchen betroffenen Gruppen, Verbänden und Institutionen ist der Kelch des Ministers Blüm vorbeigegangen? Welche von ihnen sind von der Dampfwalze des Ministers nur leicht geschrammt worden, und welche Gruppen unserer Bevölkerung sind von der Wucht und der asozialen Dampfwalze aus dem Arbeitsministerium total erfaßt worden?

    (Feilcke [CDU/CSU]: Welche Ärztegruppe vertreten Sie denn? — Günther [CDU/CSU]: Wissen Sie überhaupt, was „asozial" ist?)

    Zunächst einmal können sich die Arbeitgeber zufrieden in ihren Sesseln zurücklehnen. Deren Ziele haben Sie erfolgreich umgesetzt, Herr Minister, nämlich die Lohnnebenkosten in Hundertmillionenhöhe zu reduzieren, so daß die positiven Bilanzen weiterhin zu bersten drohen. Für die haben Sie Ihren eben so beschworenen „Rettungsversuch in letzter Minute" gemacht.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Die Lobbyistenzentrale der Arbeitgeber hier in Bonn hat sich bereits jetzt mehr als bezahlt gemacht.
    Zufrieden mit Ihnen, Herr Blüm, lehnen sich auch die Vertreter des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie in ihre Ledersessel zurück und danken ebenfalls ihren Lobbyisten hier in Bonn für die Ersparnis von 1,7 Milliarden DM,

    (Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Sie lesen die Zeitung nicht, Frau Wilms-Kegel!)

    die nun, wie ich bereits ausführte, von den Rentnerinnen und Rentnern aufgebracht werden.
    Es war eben ein Herr Blüm, dieses sogenannte Solidaropfer von 1,7 Milliarden DM zur Kanzlersache zu machen. Wenn wir uns nämlich jetzt die Ergebnisse dieses Kamingespräches zwischen dem Kanzler und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie anschauen, dann wird endgültig klar, wer in Wahrheit die Gesundheitspolitik bei uns macht.
    Mit ein paar Abstrichen nehmen auch die Apotheker Ihren Gesetzentwurf freudig zur Kenntnis, waren doch die ursprünglichen Pläne so ausgestattet, daß auch die Apothekerschaft einen merklichen Beitrag leisten sollte.

    (Louven [CDU/CSU]: Sie nehmen uns jetzt in Schutz vor den Angriffen der Apotheker!)

    Auch hier hat sich Lobbyismus ausgezahlt, wobei wir nicht verkennen, daß es sehr viele kleine Apotheken gibt, die trotzdem um ihre Existenz und um die Arbeitsplätze ihrer Beschäftigten bangen müssen.
    Daß die Gesundheitslobby von vornherein gegen Sie Front gemacht und versucht hat, ihre Klientel zufriedenzustellen, ist noch nachvollziehbar. Was mir aber ganz und gar nicht nachvollziehbar ist, ist die Tatsache, daß es eine Institution gibt, die bewußt von Anfang an ihren Mitgliedern in den Rücken gefallen ist und sich auf Ihre Seite und auf die Seite der Arbeitgeber geschlagen hat, nämlich der Deutsche Gewerkschaftsbund. Bis kurz vor der Veröffentlichung des jet-



    Frau Wilms-Kegel
    zigen Gesetzentwurfes haben immer wieder maßgebliche Mitglieder des DGB darauf verwiesen, daß sie Ihre Forderungen, Herr Blüm, nach mehr Transparenz, Festzuschüssen für Arzneimittel und Selbstbeteiligung unterstützen. Erst einen Tag vor Bekanntgabe Ihres Gesetzentwurfes hat sich der DGB mit Bedauern dahin gehend geäußert, daß er nunmehr das Gesetzeswerk nicht mehr mittragen will.

    (Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Das ist das Lafontaine-Trauma von SPD und DGB! — Gegenruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]: Ach ja!)

    Doch war der DGB dabei die einzige große Institution, die Ihnen in den letzten Monaten als Verbündete zur Seite stand.
    Wer aber sind nun die Verlierer? Wer bezahlt dieses sogenannte Reformwerk? Wer wird überwacht? Wer wird ausgehorcht? Bei welchen Menschen wird Ihre Dampfwalzenpolitik sichtbar? Die Bundesregierung hat allen Mahnungen zum Trotz Ihr sogenanntes Reformwerk unter ungeheurem Zeitdruck produziert. So sieht es auch aus.
    Selbst konservative, Ihnen nahestehende Wissenschaftler, Herr Blüm, und fachkundige Journalisten halten das Werk für schlecht, unausgegoren und unsozial. Aber während die Lobbyisten in den letzten Monaten ungeheuer viel Geld und Tinte in die Kritik über die ihren Besitzstand angeblich gefährdenden Teile des GRG gesteckt haben und doch offene Ohren und Türen bei Ihnen vorgefunden haben, so haben die wirklich Betroffenen — die chronisch Kranken, die behinderten Menschen — kein Geld und keine Lobby gehabt.

    (Dr. Knabe [GRÜNE]: Aber die brauchen das!)

    Die Verzweiflung der wirklich Betroffenen wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen.
    Symptomatisch hierfür ist folgendes Beispiel, das mich — ehrlich gestanden — so furchtbar erschreckt hat, daß ich mich während des Gespräches mit dem Patientensprecher der Krankenanstalten Bethel für alle Politiker und Politikerinnen geschämt habe. Wie Sie sicherlich wissen, leben in den Anstalten von Bethel ca. 6 000 Langzeitkranke. Deren Patientensprecher hat in einem langen und ausführlichen Brief an Sie, Herr sozialer Minister, die Sorgen, Probleme und Ängste der Patienten dargelegt und natürlich gehofft — mit den übrigen 6 000 —, daß Sie es für nötig befinden, diesen Brief im Detail zu beantworten. Aber was macht der christliche Sozialminister? Im Gegensatz zu den Lobbyisten hier in Bonn bekommen der Patientensprecher und damit die 6 000 Kranken einen Formbrief mit der Anschrift: Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr; nicht Zutreffendes durchgeixt; dann ein Standardbrief mit hohlen Phrasen ohne jeglichen Bezug! Daß dieser Brief eine riesengroße Enttäuschung hervorgerufen hat, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen.
    Ich frage Sie, Herr Minister: Schämen Sie sich eigentlich nicht, daß Sie da, wo Geld- und Machteinfluß herrschen, mit diesen Verbänden stundenlange Gespräche führen und einer so großen Behinderteneinrichtung einen Formbrief zukommen lassen? Das war der Beweis für Ihre herzlose, asoziale Dampfwalzen-politik.
    Herr Blüm, ich hätte Sie herzlich gebeten, heute morgen nicht wieder die Sprüche loszulassen: Jeder bekommt das, was nötig ist. Seien Sie wenigstens heute morgen einmal ehrlich und sagen Sie der Bevölkerung, daß Kranke, Behinderte, chronisch Kranke, Rentnerinnen und Rentner nur dann keine Nachteile durch Ihr Reformwerk erfahren werden, wenn sie finanziell in der Lage sind, Ihre Streichungen auszugleichen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Sie erfassen jeden — außer diejenigen, die in der Lage sind, sich selbst zu versichern; denn von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreicht nur etwa ein Drittel annähernd gesund das Rentenalter, ein weiteres Drittel muß meist wegen chronischer Erkrankungen vorzeitig verrentet werden, und das letzte Drittel stirbt bereits vorher. Das ist die Ausgangslage.
    Tun Sie nicht immer so, als läge die gesamte Bevölkerung, insbesondere die Rentnerinnen und Rentner, auf Ihrer Ministertasche! Durch Ihre geplanten finanziellen Selbstbeteiligungen bei Hörgeräten, Brillen, Massagen, Kuren, Krankenhausaufenthalten, Arzneimitteln und Krankentransporten werden insbesondere die einkommensschwachen, die am häufigsten und schwersten Erkrankten, am stärksten belastet. Bei entsprechender Höhe der Selbstbeteiligung werden sich Arbeiter, Angestellte und Rentner überlegen, ob sie einen Arzt aufsuchen, ob sie medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können. Sie können später, vielleicht sogar zu spät medizinische Hilfe erhalten.
    Die von Ihnen geforderten Selbstbeteiligungen, besser gesagt: zusätzlichen Selbstbeteiligungen, sind also nicht nur zutiefst unsozial, sondern widersprechen auch dem medizinischen Grundsatz: Vorbeugen ist besser als heilen.
    Hier sei ein Beispiel angeführt. Ein Arbeitnehmer benötigt unbedingt 6 Massagen plus 6 Fangopackungen. Dieser Arbeitnehmer bezahlte für diese Maßnahmen bisher 8 DM Selbstbeteiligung. In Zukunft wird er statt 8 DM 48 DM Selbstbeteiligung aufzubringen haben, wenn er wieder halbwegs gesund werden will.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt eine Funktionseinheit, Frau Kollegin!)

    Dies, Herr Blüm, ist eine 600 %ige Steigerung der Selbstbeteiligung. Geben Sie mir einmal eine logische Begründung dafür, warum ich in meinem Wohnort Bad Breisig 4 DM zuzahlen muß, kure ich aber in Baden-Baden, erhalte ich die Massage gratis.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Ist das wahr?)

    Ich möchte noch ein Beispiel bringen. Familie X, Papa, Mama und zwei Kinder von elf und neun Jahren, Bruttoeinkommen 2 500 DM monatlich, netto 2 100 DM; kein Härtefall also! Im Jahre 1 nach GRG braucht der Vater eine Oberkieferprothese für sechs Zähne, eine Unterkieferprothese für 8 Zähne mit drei



    Frau Wilms-Kegel
    Kronen. Dafür mußte er schon bisher 1 700 DM zuzahlen. Nun sind es 3 000 DM zu seinen Lasten. Mama X merkt, daß es beim Zahnarzt nicht so schlimm ist und braucht nun auch eine Brücke für 3 Zähne. Bisher kostete sie das 410 DM, nun zahlt sie 820 DM. Die beiden Kinder müssen, wie das häufig so ist, in kieferorthopädische Behandlung, müssen also Klammern tragen. Diese Behandlung dauert im Durchschnitt etwa vier Jahre und kostet pro Kind und Jahr noch einmal rund 1 000 DM, wovon 600 DM sofort vorfinanziert werden müssen.

    (Hört! Hört! bei der SPD — Zuruf von den GRÜNEN: Christlich-sozial ist das!)

    In diesem Jahr kommt also auf die Familie X eine zusätzliche Belastung allein für zahnmedizinische Behandlung von 4 500 DM zu. Das sind 375 DM monatlich und damit unter Umständen sogar mehr als der ohnehin gezahlte Krankenkassenbeitrag. Das setzt übrigens voraus, daß in der Familie keiner anderweitig krank wird; denn dann müssen sie noch einmal zuzahlen.

    (Zuruf von der SPD: Sozialpolitik fürs Herz!)

    Die über 500 Millionen DM, die Sie für zahnmedizinische Prophylaxe ausgeben wollen, sind herausgeschmissenes Geld, solange sie mit der Werbung für Gummibärchen konkurrieren müssen.
    Sie machen es sich wirklich zu leicht, Herr Blüm. Sie erklären die Standardversorgung zum Luxus, und schon müssen die Beitragszahler erneut drauflegen. Die Zahnarztpraxen und Kieferorthopäden der Zukunft sind also wahrscheinlich mit einer zusätzlichen Kreditabteilung ausgestattet. Da bekanntermaßen heute schon sehr viel teurer, wenig haltbarer Schrott von den Spitzenverdienern unter den Zahnärzten in unsere Münder kommt: Gibt es vielleicht bald auch Leasingmodelle?
    Durch die Ausgrenzung von Medizin mit sogenannten umstrittenen Nutzen durch schulmedizinisch besetzte Kommission aus der Kassenerstattungspflicht besteht die Gefahr, daß Medizin aus dem naturheilkundlichen Bereich völlig diskriminiert wird und verschwindet. Wenn Patienten auf bewährte Naturheilmittel zurückgreifen müssen, müssen sie diese in Zukunft selbst bezahlen.
    Oder nehmen wir einen Landarzt. Der muß in Zukunft entweder bei der Diagnose pfuschen, um seinen Patienten eine kostenlose Krankenwagenfahrt zu ermöglichen, oder er muß den Patienten mit Verdacht auf Rippenbruch im überfüllten Bus zum 20 Kilometer entfernten Kreiskrankenhaus schaukeln lassen, damit der Patient dort geröntgt werden kann. Nicht überall herrschen auf Grund der Verkehrspolitik der Bundesregierung wirklich gute öffentliche Nahverkehrsverbindungen vor.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Die zynischen Rechenschieber aus Ihrem Ministerium ziehen mit diesem Gesetzentwurf den Leuten mit wenigen Federstrichen Tausende von Mark im Jahr aus der Tasche.

    (Kolb [CDU/CSU]: Bei Ihnen gibt es keinen, der einen Rechenschieber betätigen kann!)

    — Das kann ich auch. — Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich von Ihnen vorrechnen lassen, daß sie ab 1989 die Wahl haben: entweder Urlaub oder Zahnersatz; und 1990 heißt es dann: Urlaub oder Brille. Zum Schluß wartet auf uns ja die Pflegeabsicherung.
    Was aber machen die Leute, die schon heute nichts zum Tauschen haben?
    Und überhaupt, Herr Blüm: Wieso maßen Sie sich an, über die Pflegeabsicherung als eine große Errungenschaft zu sprechen, die doch frühestens 1991 in Kraft tritt, wenn nicht Sie, sondern hoffentlich ein GRÜNER Arbeitsminister sein wird?

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die sogenannte Sozialklausel, die Sie sich ausgedacht haben, reicht hinten und vorne nicht aus. Dieses Alles-oder-nichts-Prinzip, nach dem jeder, der nur eine Mark über der Blümschen Härteschwelle liegt, in vollem Umfang draufzahlen muß, ist unmenschlich und geht an den sozialen Realitäten vorbei.
    Herr Minister, was haben Sie sich eigentlich bei der von Ihnen erfundenen stufenweisen Wiedereingliederung — zu deutsch: Teilarbeitsfähigkeit — gedacht? Sie haben nun vor, mit Ihrem Medizinischen Dienst — besser gesagt: den Blockwarten der Gesundheit, den Oberkontrollettis — die kranken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange zu verfolgen, um sie dann beim Hausarzt zu denunzieren, die Krankheit sei keine Krankheit mehr, die Krankheitsdauer könne abgekürzt werden, die Krankentage sollten aufgeteilt werden zwischen Erholung und stundenweisem Arbeiten. Was haben Sie nur für ein Menschenbild, Herr Blüm! Lassen Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ruhe gesund werden, und lassen Sie es nicht zu, daß die Spitzel des Gesundheitswesens in diskriminierender Form diese Menschen verfolgen!
    Den niedergelassenen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen möchte ich sagen: Lassen Sie sich nicht mißbrauchen von diesen Gesundheitsagenten des Ministers Blüm!
    Ein weiterer trauriger Gipfel Ihres Werkes Inhumanität ist der § 51, nach dem das Krankengeld dann gekürzt oder gestrichen werden kann, wenn der Nachweis geführt wird, daß der Versicherte diese Krankheit selbst verschuldet hat. Es ist einfach eine Unverschämtheit, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu unterstellen, sie würden ihre Krankheiten bewußt selbst herbeiführen.
    In welche Lage versetzen Sie eigentlich die behandelnden Ärzte, die Sie so unter Druck setzen lassen, einmal durch die Krankenkasse, zum anderen durch den Arbeitgeber und zum dritten durch Ihren sogenannten Medizinischen Dienst? Das ist eine unmögliche Situation für die Hausärztin bzw. den Hausarzt, die während der ganzen Praxiszeit hin- und hergerissen sind: Auf welche Seite schlage ich mich nun: auf die Seite des Patienten, der Zeit braucht, um gesund zu werden, oder auf die Seite der Krankenkassen oder des Herrn Ministers Blüm?
    Sie machen sich keine Gedanken darüber, die nachgewiesenen Gründe für Erkrankungen zu beseitigen, seien es nun Umwelt-, Arbeits- oder Lebensbe-



    Frau Wilms-Kegel
    dingungen. Nein, Sie bestrafen diese krank Gewordenen noch damit, daß Sie versuchen, die Krankheit, die Sie durch Ihre Umwelt- und Gesundheitspolitik produzieren, so darzustellen, als sei der Erkrankte selbst daran schuld. Das ist nicht christlich, das ist nicht sozial, das ist nicht menschenachtend; das ist einfach und schlicht eine Verhöhnung des kranken Menschen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Heyenn [SPD]: Zynismus ist das!)

    Herr Blüm, die Presse zitiert Sie mit dem Satz: Komm, Junge, wir haben doch gewonnen! Dieser aufmunternde Satz zu Ihrem Mitstreiter Herrn Jung läßt für mich eine Schlußfolgerung zu: Sie haben an Erfahrung gewonnen, daß man so nicht mit der Gesundheitspolitik umspringen sollte. Gesundheitspolitik ist zum Durchpeitschen nicht geeignet. Sie verwechseln Gesundheitspolitik mit Boxkämpfen. Die Gesundheit unserer Bevölkerung ist zum Erringer von politischen K.o.-Siegen wahrlich keine geeignete Disziplin.
    Ich hoffe, Sie haben auch die Einsicht gewonnen und stehen zu Ihrer Aussage vom 4. Dezember 1987, daß, wenn der Solidarbeitrag der Pharmaindustrie nicht gezahlt wird, dieses Gesetzeswerk die dritte Lesung nicht sehen wird.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie haben die Chance, heute Ihr Gesicht wiederzufinden.

    (Zuruf von der SPD: Er hat keines mehr!)

    Sie haben die Chance, gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung Ihr Gesicht zu wahren, indem Sie ganz einfach nur ihre Aussage in die Tat umsetzen und Ihren Gesetzentwurf, eingebracht durch CDU/ CSU und FDP, zurückziehen lassen. Halten Sie doch wenigstens einmal Ihr Wort!

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)