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ID1106903500

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    Plenarprotokoll 11/69 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 69. Sitzung Bonn, Freitag, den 11. März 1988 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 4686 C Tagesordnungspunkt 26: Aussprache über die Lage im Nahen Osten, insbesondere in den von Israel besetzten Gebieten Dr. Stercken CDU/CSU 4667 B Gansel SPD 4669 D Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 4672 B Schily GRÜNE 4674 B, 4680 D Genscher, Bundesminister AA 4674 C Frau Renger SPD 4676 D Frau Geiger CDU/CSU 4678 C Frau Bulmahn SPD 4681 D Tagesordnungspunkt 27: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (Drucksachen 11/281, 11/1892, 11/1943) Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 4683 D Singer SPD 4684 C Kleinert (Hannover) FDP 4684 D Frau Nickels GRÜNE 4685 C Engelhard, Bundesminister BMJ 4686 A Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Mannheim-Schönau (Drucksache 11/1992) 4686 C Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. de With, Singer, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein (Dieburg), Dr. Pick, Schmidt (München), Schütz, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Untersuchungshaft (Drucksache 11/688) Singer SPD 4686 D Marschewski CDU/CSU 4688 D Frau Nickels GRÜNE 4690 A Funke FDP 4691 B Engelhard, Bundesminister BMJ 4692 B Nächste Sitzung 4693 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 4695* A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 4695* C Anlage 3 Beurteilung des Fan-Gutachtens und Gründe für die Nichtveröffentlichung; Konsequenzen für die Vorbereitung der Fußballeuropameisterschaft MdlAnfr 75, 76 04.03.88 Drs 11/1937 Brauer GRÜNE SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 4695* D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1988 4667 69. Sitzung Bonn, den 11. März 1988 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 11. 3. Bahr 11. 3. Frau Beck-Oberdorf 11. 3. Becker (Nienberge) 11. 3. Bindig 11. 3. Frau Brahmst-Rock 11. 3. Buschbom 11. 3. Buschfort 11. 3. Catenhusen 11. 3. Frau Conrad 11. 3. Ebermann 11. 3. Frau Fuchs (Köln) 11. 3. Dr. Gautier 11. 3. Dr. Glotz 11. 3. Dr. Götz 11. 3. Gröbl 11. 3. Dr. Hauff 11. 3. Dr. Haussmann 11. 3. Freiherr Heereman von Zuydtwyck 11. 3. Frau Hensel 11. 3. Dr. Holtz 11. 3. Dr. Hüsch 11. 3. Ibrügger 11. 3. Dr. Jobst 11. 3. Frau Kelly 11. 3. Kiechle 11. 3. Klein (Dieburg) 11. 3. Klein (München) 11. 3. Dr. Köhler (Wolfsburg) 11. 3. Koschnick ** 11. 3. Lemmrich 11. 3. Lintner 11. 3. Frau Luuk 11. 3. Dr. Mechtersheimer 11. 3. Dr. Mertens (Bottrop) 11. 3. Meyer 11. 3. Müller (Schweinfurt) 11. 3. Dr. Neuling 11. 3. Oostergetelo 11. 3. Dr. Pinger 11. 3. Reimann 11. 3. Repnik 11. 3. Reschke 11. 3. Reuschenbach 11. 3. Frau Roitzsch (Quickborn) 11. 3. Sauer (Salzgitter) ** 11. 3. Schäfer (Mainz) 11. 3. Frau Schilling 11. 3. von Schmude 11. 3. Dr. Schneider (Nürnberg) 11. 3. Dr. Schöfberger 11. 3. Schreiber ** 11. 3. Schütz 11. 3. Schulze (Berlin) 11. 3. Seehofer 11. 3. Frau Simonis 11. 3. Dr. Spöri 11. 3. Stiegler 11. 3. Frau Teubner 11. 3. Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Trenz 11. 3. Frau Unruh 11. 3. Verheugen 11. 3. Frau Dr. Vollmer 11. 3. Dr. Waigel 11. 3. Graf von Waldburg-Zeil 11. 3. Wieczorek (Duisburg) 11. 3. Wilz 11. 3. Wischnewski 11. 3. Wissmann 11. 3. Dr. de With 11. 3. Frau Wollny 11. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 7. März 1988 mitgeteilt, daß sie ihren Antrag „Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in der Republik Südkorea", Drucksache 11/525, zurückzieht. Der Vorsitzende des Finanzausschusses hat mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu nachstehenden Vorlagen absieht; Drucksache 11/883 Nr. 48 Drucksache 11/1526 Nr. 1.3 Drucksache 11/1450 Nr. 1.1, 1.2 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß sie die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen haben: Innenausschuß Drucksache 11/1656 Nr. 3.1 Finanzausschuß Drucksache 11/1707 Nr. 1 Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Drucksache 11/1656 Nr. 3.38 Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des Abgeordneten Brauer (GRÜNE) (Drucksache 11/1937 Fragen 75 und 76) : Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des jüngsten Fan-Gutachtens, und welche Gründe sprachen nach Ansicht der Bundesregierung gegen die ursprünglich geplante Entscheidung einer offiziellen Übergabe des Gutachtens an die Öffentlichkeit? Welche Schlußfolgerungen zieht sie für die Vorbereitung der bevorstehenden Fußballeuropameisterschaft, und wie soll nach Ansicht der Bundesregierung der internationale Fan-Meldedienst funktionieren bzw. ausgestaltet werden? 4696* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 69. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. März 1988 Zu Frage 75: Das Gutachten „Fankultur und Fanverhalten" wurde von den Mitgliedern der Projektgruppe „Sport und Gewalt" des Bundesinstituts für Sportwissenschaft als Weiterführung der ersten Studie zu „Sport und Gewalt" erstellt. Im Mittelpunkt des Gutachtens stehen Beschreibungen der heutigen Jugendkultur und ihres Strukturwandels, der Fankultur und Fanrealität, der Reaktionen von Sportvereinen, Medien und Polizei auf das Fanverhalten und eine Begründung der pädagogischen Arbeit mit Fußballfans aus der Sicht der Verfasser, was noch der kritischen Überprüfung bedarf. Der Bundesminister des Innern hat die Erstellung zwar initiiert, auf die inhaltliche Ausgestaltung des Gutachtens aber keinen Einfluß genommen. Ich bin z. B. der Ansicht, daß die im Gutachten immer wieder auftauchende Kritik am Polizeieinsatz nicht hilfreich ist. Bürger, auch Fußballzuschauer, haben Anspruch, vor einer gewaltorientierten Minderheit von Jugendlichen, für die der im Gutachten undifferenziert verwandte Begriff „Fan" im Grunde falsch ist und die Bezeichnung „Rowdy" besser paßt, geschützt zu werden. Die im Gutachten geforderte sogenannte Rückbindung des Polizeieinsatzes ist erst dann möglich, wenn keine gravierenden Rechtsverstöße durch Besucher von Fußballspielen mehr zu befürchten sind. Ursprüngliche Vorüberlegungen das Gutachten im Rahmen eines Pressegesprächs selbst der Öffentlichkeit vorzustellen hat der Bundesminister des Innern nach Vorlage des Gutachtens nicht weiter verfolgt, weil er wie dargetan, sich nicht inhaltlich mit ihm identifizieren kann. Zu Frage 76: Unmittelbare Schlußfolgerungen für die Vorbereitungen der Sicherheit zur Fußball-Europameisterschaft 1988 in der Bundesrepublik Deutschland sind dem Gutachten nicht zu entnehmen. Zwischen den EG-Partnerstaaten ist mit Zustimmung der verantwortlichen Bundesländer vereinbart, daß sicherheitsrelevante Fakten über einreisende Fan-Gruppen während der Fußball-Europameisterschaft 1988 rechtzeitig über einen zentralen Ansprechpartner an die zuständigen Polizeibehörden der Länder gesteuert werden.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Erwin Marschewski


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Singer hat hier den Begriff der Notwendigkeit eingeführt. Ich will das zum Anlaß nehmen, kurz einmal in die Geschichte zurückzublicken. Wenn es nicht nötig ist, Herr Kollege Singer, ein Gesetz zu erlassen, so ist es nowendig, keines zu erlassen. Ich meine, dieser Montesquieusche Imperativ sollte den Regelungsdrang insbesondere der Rechtspolitiker ein wenig begrenzen helfen.
    Wird in der Bundesrepublik wirklich zu viel und zu schnell verhaftet und zu lange eingesperrt, wie es der Deutsche Anwaltverein vor ein paar Jahren, Herr Kollege, behauptet hat?

    (Zuruf von der SPD: Ja, es wird!)

    Dieser ersten Frage folgt eine weitere: Woran liegt es eigentlich, daß nach der dann einsetzenden Diskussion die Haftzahlen, die Haftpopulation nicht unerheblich zurückgegangen sind? Es gibt wohl keine andere Erklärung als diese: Die öffentliche Diskussion hat insbesondere zu einer großen Sensibilisierung bei Gerichten und bei Ermittlungsbehörden geführt. Eine Reduzierung der Haftzahlen von 40 000 auf 30 000 zeigt, welch großen Spielraum das geltende Recht der Praxis gegeben hat.
    Zugleich, meine ich, ist dies aber ein erfreuliches Zeichen dafür, daß die Praxis bereit ist, problematische Entwicklungen auch ohne Rechtsänderungen zu korrigieren. Denn, meine Damen und Herren, das Strafprozeßrecht und seine Anwendung ist, so meine ich, der Seismograph der Staatsverfassung. Dies hat insbesondere da deutlich zu werden, wo es um den schwerwiegendsten Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen, um die Verhaftung, geht.
    Daher sage ich dem Herrn Bundesjustizminister herzlichen Dank dafür, daß er unmittelbar nach Ein-



    Marschewski
    setzen der Diskussionen eine Untersuchung zur Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse nunmehr festliegen. Die Dauer der Untersuchungshaft, ist danach mit durchschnittlich 114 Tagen im europäischen Vergleich immer noch zu hoch. Da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Singer, selbstverständlich zu.
    Nachdenklich stimmt auch, daß bei nicht einmal der Hälfte der Fälle, in denen die Fluchtgefahr wegen der Höhe der Straferwartung Anlaß für einen Haftbefehl war, das Verfahren mit einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr abgeschlossen wurde. Dies stellt, so meine ich, genauso eine Nichtbeachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar wie die Tatsache, daß in etwa 18 % der Haftbefehl bei Bagatelldelikten ein Ausspruch erfolgte. Auch dies, so meine ich, sollte überlegt werden.
    Was die Haftverschonung, die Sie auch angesprochen haben, betrifft: Nicht einmal in einem Viertel der Fälle wurde die Untersuchungshaft ausgesetzt. Dies zeigt natürlich, daß ein gewisser — ich sage ganz bewußt: gewisser — gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.
    Wir werden uns daher der ständigen Aufgabe stellen, die Rechte des einzelnen und die Interessen der Gesellschaft gegeneinander abzuwägen. Wir werden den Freiheitsanspruch des Bürgers sichern; wir haben aber auch gleichzeitig die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu beachten.
    Nun ein paar Worte zum Antrag der SPD-Fraktion. Ich meine, soweit die Problemanalyse gewisse Postulate hervorruft, stimmen wir sicherlich bei dem einen oder anderen überein, Herr Kollege Singer. Soweit in Ihrem Antrag das Ziel verfolgt wird, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder die Haftentscheidungshilfe zu verbessern, kann man selbstverständlich über verschiedene Dinge reden. Ich bin der Meinung, daß Ihr Entwurf nicht immer dem Umstand Rechnung trägt, die Durchführung eines geordneten Verfahrens zu gewährleisten und die spätere Vollstreckung sicherzustellen. Ich habe — lassen Sie mich dies einmal sagen — den Eindruck: Ihr Entwurf ist hier doch ein wenig übereilt gefertigt worden. Ich werde versuchen, dies ein bißchen zu erläutern.
    Ich denke z. B. an Ihren Vorschlag, Fluchtgefahr nur dann anzunehmen, wenn die dringende Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich nicht nur vorübergehend dem Strafverfahren entziehen werde. Meinen Sie wirklich, daß die rein deklaratorische Festlegung und Hervorhebung der persönlichen Verhältnisse im Gesetzestext geeignet ist, die Zahl der Haftfälle zu mindern? Dies wird ja — das wissen Sie — bereits nach geltendem Recht berücksichtigt.
    Was Ihren Vorschlag angeht, daß Fluchtgefahr nur dann angenommen werden dürfe, wenn die dringende Gefahr bestünde, daß sich der Beschuldigte dem Verfahren nicht nur vorübergehend entziehen werde: Die Realisierung dieses Vorschlags hätte zur Folge, daß ein Haftbefehl selbst dann nicht ergehen könnte, wenn eindeutig feststeht, daß sich der Beschuldigte ein paar Tage vor dem Hauptverhandlungstermin dem Verfahren durch kurzfristige Flucht
    entziehen wird. Das will doch, so meine ich, keiner in diesem Hause.
    Das gilt auch für den SPD-Vorschlag zu § 113 der Strafprozeßordnung, nämlich für den Ausschluß der Untersuchungshaft bei sogenannter kleiner Kriminalität. Das sind Verfahrensvorschriften, aber wir wollen sie kurz ansprechen. Sie schlagen vor, daß, wenn eine Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bedroht ist, Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur dann angeordnet werden soll, wenn sich der Beschuldigte dem Verfahren bereits einmal entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen hat. Dies hat aber — Herr Kollege Singer, Sie wissen das natürlich aus Ihrer beruflichen Tätigkeit als Staatsanwalt — zur Folge, daß bei Delikten wie schwerem Hausfriedensbruch oder bei Bestechungsdelikten in der Form der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung oder bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte Untersuchungshaft grundsätzlich von vornherein ausgeschlossen ist. Ich meine, eine solche Regelung wäre schwerlich mit dem Zweck der Untersuchungshaft vereinbar, die Durchführung des Verfahrens zu sichern.
    Dies ist auch, so glaube ich, bei Ihrem Vorschlag zu befürchten, den Sie gerade noch einmal angesprochen haben, nämlich die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr grundsätzlich auf ein Jahr zu beschränken. Auch dies widerspricht der Praxis. Ich denke insbesondere an etwas umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren.
    Dieser Widerspruch wird, so meine ich, auch nicht dadurch aufgelöst, daß in Ihrem Entwurf ausnahmsweise eine Haftstrafe von zwei Jahren — abstrakt natürlich — vorgesehen wird; denn diese Ausnahme soll ja nur dann gelten, wenn ein neuer Haftgrund der Verdunkelungsgefahr hinzukommt. Gerade in diesem Punkt sollten wir doch etwas sensibel sein, meine Kollegen von der SPD. Ich glaube nicht, daß der Bürger das akzeptieren und wirklich als angemessen begreifen würde.
    Recht ist doch eigentlich — so verstehen wird es — auf Übereinstimmung angelegt. Diese Übereinstimmung wollen wir erzielen. Wir werden Sie von der Spannung, die Sie vorher hatten — ich darf das unter Kollegen einmal so sagen — , ein bißchen zu erlösen versuchen:
    Erstens. Wir werden darüber nachdenken, die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr bei kleiner Kriminalität von der Straferwartung des konkreten Falles abhängig zu machen; keine Untersuchungshaft also, wenn im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr zu erwarten ist; aber im konkreten Falle, nicht im abstrakten Falle, wie Sie es in Ihrem Entwurf vorsehen. Wir tun das, weil wir damit ungefähr 40 % der bisherigen Fälle erfassen. Das wird sicherlich dazu führen, die U-Haft-Zahlen herabzusetzen.
    Ein Zweites: Erforderlich ist auch, so meine ich, etwas öfter als bisher Haftverschonung anzuordnen. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, den Katalog des § 116 der Strafprozeßordnung ein wenig zu erweitern, wobei ich z. B. an einen Paß- oder Personalausweisentzug denke.
    Drittens — ein ganz wichtiger Punkt — : Diese Koalition wird sich darüber hinaus mit den Vorausset-



    Marschewski
    zungen und der Durchführung der Untersuchungshaft bei jungen Menschen beschäftigen müssen.

    (Richtig! bei den GRÜNEN)

    Herr Minister, apokryphe Haftgründe: Untersuchungshaft in der Regel vielleicht erst ab 16 Jahren, pädagogische Betreuung, mehr Heimplätze. Das sind in diesem sehr wichtigen Bereich — auch wegen der Kürze der Zeit — nur ein paar sehr bemerkenswerte Stichpunkte.
    Wir werden natürlich über Aufgaben, Zweck und Grenzen der U-Haft erneut befinden müssen; denn darin sind wir uns, so hoffe ich — davon gehe ich aus —, in diesem Hause alle einig: Die Freiheit darf nur eingeschränkt werden, wenn das zur Sicherung der Rechtspflege und zur Bewahrung des Rechtsfriedens unabweisbar notwendig ist. Insbesondere wir Rechtspolitiker sind aufgefordert, hier insgesamt die richtigen, die unabweisbaren Grenzlinien zu ziehen.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Christa Nickels


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir selber haben auch einen Gesetzentwurf zu dieser Problematik in Arbeit. Von daher gesehen hätte ich gerne viel dazu gesagt. Das geht nicht; ich beschränke mich auf die wichtigsten Sachen.
    Der Entwurf der SPD geht — wie schon richtig gesagt wurde — auf eine angespannte Situation bezüglich der Zahl der Untersuchungsgefangenen zu Beginn der 80er Jahre zurück. Damals wurden sehr viele Menschen eingesperrt, die hinterher nicht verurteilt wurden. Das ist zu Recht kritisiert worden. Die Kritik der Anwaltsvereinigungen richtete sich vor allen Dingen gegen die Praxis der Gerichte, mit pauschalen Begründungen und eine überhöhte Straferwartung voraussetzend in vielen Fällen Untersuchungshaft anzuordnen, in denen sie an sich nicht erforderlich gewesen wäre.
    Die meisten der damaligen Gesetzesvorschläge begnügten sich weitgehend damit, die Voraussetzungen in § 112 der Strafprozeßordnung für die Anordnung der Untersuchungshaft dadurch einzuschränken, daß der Begriff der Fluchtgefahr, der in 94 % der Fälle als Grund für den Haftbefehl genannt wird, durch hinzufügen des Wortes „dringend" konkretisiert werden sollte.
    Der Arbeitskreis Strafprozeßreform trat 1983 mit einem kompletten Entwurf zur Regelung der Untersuchungshaft an die Öffentlichkeit. Dieser Entwurf geht weit über die DAV-Stellungnahmen und auch über den jetzt vorgelegten SPD-Entwurf hinaus. Nach diesem Entwurf sollte Untersuchungshaft z. B. nur möglich sein, wenn wegen der in Rede stehenden Tat eine vollstreckbare Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten sei.

    (Dr. Rose [CDU/CSU]: Langsamer!)

    Wir sind der Meinung, daß die Regelung, die die SPD jetzt in ihrem Entwurf vorgelegt hat, der damaligen Diskussion nicht angemessen ist. Wir werden in unserem Entwurf eine absolute Höchstdauer von sechs Monaten bis zum Beginn der Hauptverhandlung vorschlagen. Es ist ja immer noch so, daß trotz U-Haft von der Unschuldsvermutung auszugehen ist. Die Untersuchungsgefangenen haben als unschuldig zu gelten. Wir finden, es ist angemessen, daß in diesen Fällen eine intensivere und konzentriertere Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft und Polizei durchgeführt wird, damit die Betroffenen nicht so lange in U-Haft sitzen müssen.
    Ein ganz wichtiger Punkt in der Debatte ist auch die Tatsache, daß bereits der Arbeitskreis Strafprozeßreform ebenso wie der Deutsche Strafverteidigertag eine Streichung der §§ 112 Abs. 3 und 112a Strafprozeßordnung, als mit dem Strafverfahrensrecht unvereinbare Vorschriften zur reinen Gefahrenabwehr gefordert haben. Das ist ein ganz heißes Eisen; das wissen wir. Aber wir glauben, Herr Singer, daß die SPD hier überhaupt nichts Substantielles vorgelegt hat, daß das heiße Eisen nicht angefaßt worden ist.
    Es ist ja so, daß selbst in der hier von Schöch und Schreiber im Auftrag der Bundesregierung vorgelegten umfangreichen Untersuchung festgestellt und kritisiert wird, daß bei vielen Urteilen ein Automatismus im Zusammenhang mit § 112 Abs. 3 zu beobachten ist. Diese Kommission hat angeregt, entweder § 112 Abs. 3 zu streichen oder zumindest die §§ 129a und 311 Strafgesetzbuch aus § 112 Abs. 3 herauszunehmen und die Vorschrift insgesamt an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzupassen.
    Dem ist im SPD-Entwurf nicht Rechnung getragen worden, und man hat sogar noch die alte Tradition — die bisher immer sichtbar war — , den Haftgrund der Wiederholungsgefahr über Jahrzehnte immer weiter auszudehnen, fortgesetzt.
    Sie haben schon gesagt, Herr Singer, daß Sie hier schwere Umweltkriminalität mit hineingenommen haben. Wir glauben, daß die Debatte darüber natürlich geführt werden muß, aber nicht im Zusammenhang mit U-Haft. Da muß ganz woanders angesetzt werden, weil die Elemente der U-Haft-Regelung überhaupt nicht geeignet sind, der schweren Umweltkriminalität vorzubeugen.
    Besonders wichtig ist für uns auch noch die Frage einer Pflichtverteidigung für U-Häftlinge. Unserer Vorstellung nach soll der Beschuldigte sofort, nachdem er verhaftet worden ist, einen Pflichtverteidiger gestellt bekommen, wenn U-Haft droht. Denn nur ein Anwalt ist in der Lage, für eine verbesserte Erkenntnisbasis im Interesse des Beschuldigten zu sorgen, indem er dem Haftrichter Informationen über das persönliche und soziale Umfeld des Beschuldigten anbietet. Das Einsperren eines nach der Verfassung als unschuldig geltenden Bürgers ist ein so gravierendes „Sonderopfer", daß eine vernünftige Betreuung und auch Vertretung dieses Gefangenen gewährleistet sein muß.
    Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich ganz gern noch einen Punkt anführen, der mir in dem Zusammenhang ganz wichtig ist — Herr Marschewski hat das ja auch schon angesprochen - : In dem Entwurf der SPD fehlt vollständig der Bereich Untersu-



    Frau Nickels
    chungshaft für Jugendliche. Jugendliche haben hier sehr stark zu leiden. Es ist so, daß im Jugendgerichtsgesetz schon Möglichkeiten vorgesehen werden, anderweitige Lösungen zu finden. Sie haben das ja auch vorgeschlagen. Aber wir glauben, daß das nicht ausreicht.
    In der Untersuchung von Schöch und Schreiber wird auf Seite 154 festgestellt, daß gerade junge Menschen, Jugendliche und Heranwachsende, die in U-Haft genommen wurden, später sogar noch seltener zu vollstreckbaren Freiheitsstrafen verurteilt werden als Erwachsene. Dabei ist es so, daß gerade Jugendliche, die bisher noch nicht mit der Strafvollzugsanstalt in Berührung gekommen sind, besonders häufig sehr stark gebrochen werden und überhaupt nicht mit dieser Situation fertig werden. In dem Zusammenhang muß man auch die Selbstmordrate von jugendlichen U-Häftlingen ansprechen. Wir glauben, daß hier unbedingt etwas passieren muß.
    Insgesamt ist es wichtig, daß die öffentliche Debatte, die auch jetzt schon zu einer Senkung der Zahl der Untersuchungshäftlinge geführt hat, weitergeführt wird. Aber, Herr Marschewski, man muß auch sicherstellen, daß in Zeiten, in denen die Debatte nicht mehr so intensiv geführt wird, nicht über das Gesetz festgeschrieben bleibt, daß wieder eine unangemessene Anzahl von Menschen, bei denen das nicht nötig wird, in U-Haft genommen werden können.
    Danke schön.