Der historische Ort, in dem auch nach 40 Jahren diese Debatte stattfindet, bleibt auch in diesem Jahr, 1988, Auschwitz. Zwischen Juden und Deutschen gibt es für alle Zeiten keine einfachen Wahrheiten. Wir müssen der Versuchung der heimlichen oder offenen Entlastung widerstehen. Auch mit einer noch so polierten Patentmoral können wir uns nicht vor den Schatten der Vergangenheit in Sicherheit bringen. Weder vergessen noch verzweifeln: Das ist der schwierige Rat, den es anzunehmen gilt. Das begründet das Bündnis des Gewissens mit Israel, Israel als Hoffnung und Zuflucht für die Juden auf der ganzen Welt. Das begründet zugleich die Verpflichtung auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte ohne Ausnahme und überall.
Schily
Deshalb muß das Existenzrecht Israels von uns ebenso selbstverständlich anerkannt werden wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser.
Diese zwei Gerechtigkeiten, das Existenzrecht Israels und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, stehen scheinbar in einem unauflösbaren Widerspruch. Nach Karl Marx entscheidet zwischen zwei gleichen Rechten die Gewalt. Dieser elende Satz, dem vermutlich viele Völkerrechtler zustimmen, führt aber unweigerlich in den Untergang und zur Aufhebung der jeweils eigenen Legitimation. Gewalt verwandelt Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit. Das war es, was eine Palästinenserin meinte, als sie einem israelischen Soldaten zurief: „Seid Ihr verrückt geworden? Ihr zerstört Euer eigenes Land. "
Die Machtkonkurrenz der beiden Lager im Nahen Osten, die Siegesbesessenheit, die Sicherheit durch die fortwährende Ausdehnung des jeweiligen Machtbereichs zu erlangen trachtet, wird in Zerstörung und Selbstzerstörung enden. Der israelische Ministerpräsident Schamir auf der einen Seite, im starren Festhalten an dem expansiven Ziel eines Groß-Israel unter Einbeziehung der besetzten Gebiete, und PLO-Außenminister Kadumi auf der anderen Seite, der unverhüllt den ebenso expansiven Machtanpsruch auf Gesamtpalästina unter Einbeziehung Israels proklamiert, sie werden den Frieden nicht erreichen. Unmenschlichkeit, Terror und Gegenterror, getötete palästinensische und jüdische Kinder und Frauen, Haß und Rache werden so nie aufhören.
Zwei Gerechtigkeiten können nur zueinander kommen, wenn sie sich wechselseitig anerkennen. Der fatalistischen Formel von Marx ist der Gedanke eines arabischen Freundes von Henryk Broder vorzuziehen, der meinte, der Klügere gebe erfahrungsgemäß nicht immer nach, daher müsse der Stärkere den ersten Schritt tun. Die israelische Friedensbewegung ist entschlossen, den ersten Schritt zu gehen. Sie demonstriert für „Land gegen Frieden". Ihr vertrauen wir, sie ist unsere Hoffnung, ihr gilt unsere Unterstützung.
Unsere Hoffnung sind die israelischen Offiziere, von denen einige dem Generalstab angehören, die in einem Brief an Ministerpräsident Schamir zu Verhandlungen mit den Palästinensern aufgefordert haben. Unsere Hoffnung sind israelische Soldaten, die von ihrem Recht auf Befehlsverweigerung Gebrauch machen. Unsere Hoffnung sind israelische Intellektuelle, die zu Gesprächen mit der PLO auffordern. Unsere Hoffnung sind Palästinenser wie Hana Seniora, die ohne Vorbehalte Gespräche mit Israelis führen.
Unsere Hoffnung sind Uri Avneri und Mate Peled und viele andere, die sich für Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Juden und Arabern einsetzen. Unsere Hoffnung ist die Tochter des ermordeten palästinensischen Politikers Sartauwi, die erst vor kurzem zu Gesprächen mit Israelis zusammengetroffen ist. Unsere Hoffnung sind die Juden in der Diaspora, die
in ihrer überwältigenden Mehrheit für eine Verständigung mit den Palästinensern eintreten. Unsere Hoffnung sind alle Juden und Araber, die sich nicht entmutigen und, von wem immer, einschüchtern lassen.
Alle Hoffnung hängt davon ab, daß Gespräche und Verhandlungen in Gang kommen und die Waffen schweigen. Eine internationale Friedenskonferenz unter der Schirmherrschaft der UNO und mit Beteiligung aller Konfliktparteien einschließlich der PLO darf nicht länger hinausgezögert werden. Eine umfassende Lösung kann nicht am Anfang der Verhandlungen stehen. Die direkte Straße geradeaus zum Frieden: Wo soll sie sein? Es kommt darauf an, Übergänge zu finden. Jeder Vorschlag im Sinne von Annäherungen an den Frieden sollte willkommen sein.
Die Shultz-Initiative ist möglicherweise ein solcher Vorschlag, der bei gutem Willen Bewegung in die verhärteten Fronten bringen könnte, auch wenn er noch nicht eine endgültige Friedensregelung enthält. Der Shultz-Plan kann hilfreich sein, wenn er als Interimslösung verstanden wird. Nicht zufällig lehnen sowohl der israelische Ministerpräsident Schamir als auch der syrische Staatspräsident Assad den Shultz-Plan kategorisch ab. Schamir befürchtet offenbar, daß jede Autonomieregelung nur eine Zwischenphase darstellt, an deren Ende ein palästinensischer Staat nicht mehr zu verhindern ist. Das bewog ihn seinerzeit dazu, gegen die Ratifizierung des Camp-David-Abkommens zu stimmen. Diesem Widerstreben liegt die richtige Erkenntnis zugrunde, daß eine Autonomieregelung eine bessere Ausgangsposition für die Gründung eines palästinensischen Staates ist als der gegenwärtige Zustand. Einige arabische Regierungen widersetzen sich dem Shultz-Plan, weil sie einer Defacto-Anerkennung Israels ausweichen wollen.
Zu einer internationalen Friedenskonferenz gibt es nur eine tödliche Alternative. Wer die Gewalt nicht zum Schiedsrichter machen will, wird auf Maximalforderungen verzichten und Kompromisse suchen müssen. Nur das eröffnet die reale Aussicht auf eine friedliche Nachbarschaft Israels mit einem palästinensischen Staat, auf wirtschaftliche Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern und auf Freiheit der Kulturen und Religionen in der gesamten Region.
Shalom! Salam!