Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Saibold, Sie rennen bei der SPD-Fraktion offene Türen ein,
wenn Sie fordern, daß die Ursachen moderner Zivilisationskrankheiten intensiver bekämpft werden müssen, und dabei den Hebel bei den Ernährungsgewohnheiten der Menschen ansetzen.
Weil Nichtsozialdemokraten so selten Gelegenheit haben, das zu hören, lese ich Ihnen jetzt einmal einen Satz aus dem Entwurf zu unserem neuen Grundsatzprogramm vor:
Im Sinne vorbeugender Sozialpolitik sind wir für eine Gesundheitspolitik, die Krankheitsursachen bekämpft. Vorbeugen ist besser als Heilen. Wir wollen den allgemeinen Gesundheitsschutz ausbauen, der Verschmutzung und Vergiftung von Wasser, Boden und Luft wehren und dafür sorgen, daß gesunde Lebensmittel erzeugt und angeboten werden.
Einige Sätze weiter heißt es:
Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsaufklärung müssen zentrale Aufgaben des Gesundheitswesens werden.
Soweit der Entwurf zum Grundsatzprogramm.
— Wir nehmen nicht jeden, aber Sie können einen Antrag stellen.
Das Bundesgesundheitsamt in Berlin, wo der Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit vorgestern getagt hat, hat betont, daß Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten inzwischen zur Todesursache Nummer eins in der Bundesrepublik geworden sind. 350 000 Menschen sterben jährlich bei uns an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems, zum Vergleich dazu: 700 an AIDS. Überlegen wir uns einmal, worüber mehr gesprochen wird!
Wenn auch die Erforschung der Ursachen im einzelnen längst noch nicht abgesichert ist, so steht doch jetzt schon fest, daß falsche Ernährung, Bewegungsmangel, starkes Rauchen und Alkoholgenuß wesentliche Ursachen für diese und andere Zivilisationskrankheiten sind. Die auffallende Zunahme von Allergien läßt den Schluß zu, daß wachsende Umweltvergiftung dafür verantwortlich ist.
Also müssen wir uns fragen: Wie kann gesundheitliche Aufklärung wirksamer als bisher betrieben werden? Woran liegt es, daß sich die Menschen so wenig
Gedanken darüber machen, ob sie sich beim Essen, Trinken, Rauchen Schaden zufügen? Wie können Menschen sensibilisiert und motiviert werden, um mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Wie bringt man Hausfrauen oder Hausmänner dazu, beim Lebensmitteleinkauf überlegter und wählerischer vorzugehen und der Familie gesündere Mahlzeiten anzubieten? Welchen Beitrag können Kindergärten und Schulen zur Gesundheitserziehung leisten? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit sie überhaupt in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe zu übernehmen? Wie kann man Ärzte dazu bringen, Patienten in ihren Eß- und Lebensgewohnheiten zu beraten, statt immer gleich Medikamente zu verabreichen?
Welche Gesetze sind nötig, damit eßbare Waren klar und deutlich erkennen lassen, was sie enthalten, und welche Lebensmittelzusätze müssen außer denen, die jetzt schon verboten sind, weiter verboten werden? Diese und viele andere Fragen werden wir gerne mit Ihnen im Ausschuß erörtern.
Der Vorschlag der GRÜNEN zur Lösung dieses Problems besteht nun darin, einen 22köpfigen Ernährungsrat zu berufen, der sich über alle diese Fragen den Kopf zerbrechen soll. Dieser Rat würde dann von Zeit zu Zeit tagen und vermutlich stapelweise Papiere produzieren.
— Ich glaube nicht, Frau Saibold, daß uns das weiterbringt. Viel sinnvoller wäre es, wir würdenmal gründlich untersuchen, was denn die vorhandenen Einrichtungen auf diesem Gebiet leisten können und woran es liegt, daß sie nicht genügend leisten, z. B. das Bundesgesundheitsamt mit seinen zweitausend Beschäftigten oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit ihren rund 130 Mitarbeitern oder der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen oder die Pädagogischen Hochschulen und Pädagogischen Fachschulen oder die Institute zur Fort- und Weiterbildung oder die Verbraucherberatungsstellen mit ihren Ernährungsberaterinnen. Sie alle haben ja schon die Aufgabe, für die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung zu sorgen. Woran liegt es also, daß die Appelle dieser Institutionen so wenig Wirkung zeigen?
Wie viele Ernährungsberaterinnen sind eigentlich in den Verbraucherzentralen tätig,
und welche Chance haben sie überhaupt, über die Einzelberatung hinaus auch in Schulen und Volkshochschulen tätig zu sein? Was ist eigentlich aus dem Modellprojekt der Bundesanstalt für Arbeit geworden, einen neuen Beruf, nämlich den des Gesundheitsberaters oder der Gesundheitsberaterin zu kreieren? 700 Personen hatten sich dafür allein beim Arbeitsamt Bonn gemeldet. Stimmt es, daß die Ärzte Widerstand gegen diesen neuen Beruf angemeldet
3918 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1988
Frau Dr. Götte
haben? Was können wir tun, um diese Widerstände zu beseitigen?
Mit allen diesen Fragen wird sich der Ausschuß beschäftigen müssen. Dabei werden wir sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, daß es keineswegs an Konzepten und Ratschlägen fehlt, wohl aber am nötigen Geld, oft auch am politischen Willen und an der richtigen Organisation, um diese Ratschläge in die Tat umzusetzen. Es fehlt offensichtlich auch an einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, wenn ich allein an die Arbeit in den Schulen denke, um auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung wirklich ein Stück voranzukommen.
Es wird die Aufgabe unseres Ausschusses sein, wenigstens einige der Hindernisse zu beseitigen, die einer besseren Gesundheitserziehung im Wege stehen, und mit aller Kraft darauf hinzuarbeiten, daß vorsorgende Gesundheitspolitik nicht nur ein Schlagwort bleibt, sondern endlich in unserem Alltag Wirklichkeit wird.
Danke.