Rede von
Klaus
Kirschner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich einige Worte zu den Fragen der Sturkturreform als Vorsitzender der EnqueteKommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung", deren Einsetzung dieses Haus im vergangenen Mai beschlossen hat, sagen. Ich sehe mit großer Sorge, daß diese Enquete-Kommission als Instrument der Vorbereitung politischer Entscheidungen des Deutschen Bundestages, die große Tragweite haben — wir sehen es ja auch an dieser Debatte —, nicht von allen Seiten des Hauses gleichermaßen ernstgenommen wird. Herr Seehofer, Sie sind stellvertretender Vorsitzender. Das, was Sie gerade gesagt haben, bestätigt diese meine Auffassung. Ich muß hinzufügen: bedauerlicherweise.
Herr Bundesarbeitsminister, ich wende mich direkt an Sie: Es kann nicht sein, daß die Bundesregierung ohne Beachtung der Arbeit der Kommission und ohne Rücksicht auf sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitsthema der Enquete-Kommission vorlegt. Dies wäre eine grobe Mißachtung der Rechte des Deutschen Bundestages, die ohne Beispiel wäre. Das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen.
Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen. Sie haben Ihre Arbeit vorhin gelobt — wenn auch mit
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1987 3265
Kirschner
einem Stoßseufzer — : „Wir haben es geschafft." Ich habe eher den Eindruck, daß die Überschrift lauten müßte: „Die Operation Strukturreform ist weitgehend mißlungen, die Patienten werden ärmer."
Eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Kollege Seehofer. Sie haben gesagt: Täten wir nichts, stiege der Beitrag auf 20%. Niemand hätte Sie daran gehindert, mit uns zusammen ein Vorschaltgesetz zu verabschieden. Wenn Sie die Selbstbeteiligung, die Sie den Versicherten jetzt auflasten, hinzurechnen, stellen Sie fest, daß die Versicherten tatsächlich bei 20 % Krankenversicherungsbeitrag sein werden. Dies dürfen Sie nicht vergessen.
— Natürlich schaffen Sie welche ab. Sie dürfen aber auch nicht zu sagen vergessen, Herr Kollege Blüm, was Sie sonst noch alles abschaffen.
Sie schaffen doch etliches ab. Sie schaffen beispielsweise das Sterbegeld ab. Sagen Sie doch einmal den alten Leuten, was das für sie bedeutet.
Lassen Sie mich als Vorsitzender der Enquete-Kommission auch noch folgendes sagen. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben gesagt, die Zeit dränge, man habe keine Zeit, die Ergebnisse der Enquete-Kommission abzuwarten. Ich will zunächst nicht bewerten, ob das Argument zutrifft; dazu werde ich gleich noch Stellung nehmen. Ich möchte prinzipiell darauf hinweisen, daß auch die Entscheidung über Zeitpläne nicht Ihre Entscheidung, sondern die Entscheidung des Parlaments ist. Das ist nicht der der Bundesregierung untertänigste Deutsche Bundestag, sondern der Bundestag, der diese Regierung gewählt hat und von dem sie abhängig ist.
Wenn Sie aus Ihrer Verantwortung zu Ihrer Entscheidung im Zeitplan gekommen sind, dann sind die Abgeordneten aus ihrer Verantwortung zu einer anderen gekommen, die Sie, Herr Bundesminister, zu respektieren haben.
Nun zum Zeitplan: Die Koalitionsfraktionen und Sie, Herr Dr. Blüm, wollten mit Ihren Vorarbeiten im September fertig sein. Dies ist nicht gelungen; es wird wohl Anfang 1988 werden. Dies bedeutet, Sie wären im Frühjahr in der Lage, dem Parlament einen möglichen Gesetzentwurf vorzulegen, der vor Weihnachten 1988 verabschiedet
und zum 1. April oder 1. Juli 1989 in Kraft treten wird. Das werden Sie doch wohl nicht bestreiten wollen.
Der einvernehmliche Zeitplan der Enquete-Kommission sieht vor, daß wir im Juli 1988 unsere Arbeit abschließen und dem Herrn Präsidenten im September 1988 unseren Bericht vorlegen. Ein Gesetzentwurf könnte bis Weihnachten 1988 fertig sein, und die Parlamentsberatungen könnten wegen der Vorarbeiten der Enquete verkürzt werden und Ostern 1989 abgeschlossen werden.
Das Gesetz könnte ebenfalls zum 1. Juli 1989 in Kraft treten. Herr Dr. Blüm, es lohnt sich nicht die Brüskierung des Parlaments wegen zweier Zeitpläne, die fast zum selben Zeitergebnis kommen.
Als Vorsitzender der Enquete-Kommission fühle ich mich dem ganzen Haus für die ordnungsgemäße und sachbezogene Arbeit der Kommission verantwortlich. Ich werde diese Verantwortung wahrnehmen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern, daß unsere Arbeit durch Regierungsaktivitäten unterlaufen und zur Farce gemacht wird.
Als Vorsitzender der Enquete-Kommission werde ich darauf achten, daß die Mitglieder der Kommission in ihrer Arbeit nicht an der Nase herumgeführt werden. Was glauben Sie eigentlich, wie es wirkt, wenn der Deutsche Bundestag fachkundige Abgeordnete und externe Sachverständige zu einem Problem um Rat fragt und, bevor sie antworten können, die Regierung schon ihre Antwort in Form des Gesetzentwurfes präsentiert? Dies ist unerträglich;
ich kann dies mit meinem Selbstverständnis als Abgeordneter nicht vereinbaren,
und, ich bin sicher, die Sachverständigen, die auch Sie berufen haben, mit ihrem Selbstverständnis auch nicht.
Herr Dr. Blüm, ich wiederhole meinen dringenden Appell: Verzichten Sie auf diese Präjudizien! Warten Sie die Arbeit der Enquete ab! Begreifen Sie die Chance, die auch für die Regierung in der Arbeit der Enquete-Kommission liegt!
Vielen Dank.