Herr Kollege Egert, wir haben gestern abend und auch heute morgen bemerkenswert offen festgestellt, daß Herr Blüm zu diesen bewegenden Fragen keinerlei detaillierte Auskünfte geben kann. Wir sind deshalb gespannt, wie sich das im einzelnen darstellen wird. Für uns steht allerdings fest, daß er zwar von Reform geredet hat, aber gestern abend seine Unterschrift unter ein Abkassierungsmodell gegen Versicherte, gegen Kranke, gegen Rentner und gegen Behinderte gesetzt hat. Das stellen wir heute morgen fest.
Herr Blüm, Sie halten überall im Land, wo es politisch nichts kostet, markige Reden. Sie sagen: Wer krank ist, muß gesund werden. Aber wir fragen Sie: um welchen Preis, unter welchen finanziellen Opfern? Warum fehlte Ihnen heute morgen der Mut, hier ehrlich zu sagen, was Sie den Beitragszahlern in Mark und Pfennig zumuten wollen? Warum fehlte Ihnen heute morgen der Mut, dem Deutschen Bundestag einzugestehen, daß Sie gestern wieder über den Tisch gezogen worden sind?
Und warum fehlt Ihnen der Mut, Herr Blüm, dem Deutschen Bundestag endlich einzugestehen, daß Sie zu schwach sind, die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten?
Sie wollen Bagatellen ausschließen. Herr Blüm, ist es eine Bagatelle, wenn ein Arbeitnehmer mit einem Bruttoeinkommen von 2 500 DM im Monat für seine Zahnprothese, die 3 000 DM kostet — das ist übrigens ein üblicher Preis —, nach Ihren Vorstellungen in Zukunft 1 500 DM selbst bezahlen muß? Ist das eine Bagatelle?
Dabei ist eine Strukturreform wirklich nötig. Ich will das einmal an einem Beispiel demonstrieren. Zwei Geschwister in Papenburg an der Ems sind im gleichen Betrieb beschäftigt, die eine als Facharbeiterin, die andere als technische Angestellte. Sie verdienen beide 3 000 DM brutto im Monat. Die Arbeiterin wird per Gesetz Mitglied der AOK Papenburg. Die Angestellte kann ihre Kasse frei wählen und ist Mitglied der Techniker-Krankenkasse, einer Ersatzkasse. Dies ist die erste Ungleichbehandlung. Herr Blüm, haben Sie den Willen, dies gemeinsam mit uns zu ändern?
— Warum tun Sie es denn nicht, Herr Seehofer? Verfahren Sie neuerdings auch nach der Melodie? Wenn Sie einzeln auftreten, reden Sie den Leuten nach dem Mund, und wenn Sie in Rudeln auftreten, schert Sie Ihr dummes Geschwätz von gestern nicht mehr. Das ist Ihre Methode.
Meine Damen und Herren, der Arbeiterin, die Mitglied der AOK ist, werden Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 16 % ihres Einkommens von 3 000 DM abgehalten; das sind 480 DM im Monat. Der Angestellten als Mitglied einer Ersatzkasse werden rund 11 %
ihres gleich hohen Einkommens abgehalten; das sind 330 DM. Sie zahlt 150 DM pro Monat weniger. Das sind 1 800 DM weniger im Jahr — bei gleichem Einkommen für die gleiche Leistung. Ist das sozial gerecht? Hat das etwas mit Solidarität zu tun? Ich frage Sie: Wollen Sie diese Verzerrung gemeinsam mit uns abstellen?
— Unsere Anträge werden kommen, Herr Seehofer. Ich hoffe, das Protokoll hat notiert, daß Sie ja gesagt haben. Wir werden dann nämlich namentliche Abstimmungen machen, und dann werden Ihre Zwischenrufe hier Sie einholen.
Es kommt noch schlimmer. Beide Schwestern erhalten natürlich einen Arbeitgeberanteil zu ihren Krankenversicherungsbeiträgen, und der bemißt sich nach der Hälfte der fälligen Beiträge für die zuständige Pflichtkasse. Das ist die AOK Papenburg. Die Arbeiterin erhält als Arbeitgeberanteil 240 DM, muß ebenfalls 240 DM selbst bezahlen, um ihren 480-DM-Beitrag zu leisten. Die Schwester als Angestellte erhält von ihrem Arbeitgeber aber auch 240 DM, braucht also nur noch 90 DM zu zahlen, um ihren 330-DMBeitrag zu leisten. Ich sage: Ein System, das solche perversen Ergebnisse zeitigt,
stellt sich selbst zur Disposition. Es stellt das Solidaritätsprinzip auf den Kopf. Hier wird Solidarität zu einem Synonym für gesetzlich gesichertes Unrecht. Daran haben Sie mit Ihrem famosen Programm, das Sie uns heute jedenfalls zum Teil verkündet haben, nichts, aber auch gar nichts geändert.
Der Arbeitsminister prangert beredt die Ungerechtigkeiten im System an, etwa das Selbstbedienungsverhalten der Pharmaindustrie, und mit der so genialen Verhandlung, die er vorhat,
will er nun versuchen, etwas zu erreichen. Bei den anderen hat er es bereits festgeschrieben. Herr Blüm, Ihre Aufgabe ist es nicht, hier im Deutschen Bundestag alles anzuprangern, sondern es zu ändern. Herr Blüm, das ist Ihre Aufgabe!
Anreize zu mehr Wirtschaftlichkeit wollen Sie geben und zu gesundheitsgerechterem Verhalten anhalten. Was Sie sich dazu zum Teil ausgedacht haben, ist allerdings schlimm. Sie haben die Beitragsrückgewähr ersonnen. Jemand, der gesund ist und seine Krankenkasse nicht in Anspruch zu nehmen braucht,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1987 3259
Dreßler
erhält einen vollen Monatsbeitrag zur Krankenversicherung retour.
Was Sie Beitragsrückerstattung nennen, bezeichne ich als besonders drastische Form von Selbstbeteiligung, Herr Blüm.
Jemand, der gesund ist, zahl nämlich 11 Monatsbeiträge zur Krankenversicherung, der Kranke aber 12. Sie bauen damit die Ungerechtigkeiten doch nicht ab; im Gegenteil, Sie vergrößern sie nur noch.
14,3 Milliarden DM Entlastung für die Krankenkassen, 6 Milliarden DM neue Belastung durch die Pflege.
Von den 14,3 Milliarden DM Entlastung wollen Sie 8 Milliarden DM bei den Versicherten abkassieren. Der Rest sind Luftbuchungen bei Anbietern und Rentenversicherung. Was bleibt? 8 Milliarden DM an Entlastungen, 6,4 Milliarden DM an Belastungen, und dafür machen Sie so einen Krach. Das „Deutsche Ärzteblatt" , Herr Blüm, nannte Ihre Operation ein Nullsummenspiel. Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen beweist dies schlagend.
Sind Sie sich eigentlich über die Verteilungswirkungen klar? Wenn Sie 8 Milliarden DM durch die Leistungskürzungen und Selbstbeteiligung abkassieren und davon 6,4 Milliarden DM für eine Lösung der Pflegebedürftigkeitsfrage einsetzen, erreichen Sie, daß die Kranken die Pflegebedürftigen finanzieren.
Bei solchen Vorschlägen ist es kein Wunder, daß die Bürger die Lust an der Politik verlieren. Ihre Sozialpolitik ist ungerecht. Sie ist auch unsolidarisch.
Eine weitere Seifenblase dieser Koalition: Sie will, daß die Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen innerhalb eines Bundeslandes ihre Finanzen jeweils ausgleichen. Sie feiern dies als ein Rezept gegen zu hohe Beiträge. Das ist ein Witz! Den Stadtstaaten Hamburg, Berlin, Bremen sowie dem Saarland hilft das überhaupt nichts. Dort gibt es nämlich nur eine AOK. Haben Sie eigentlich noch nichts von Nord-SüdGefälle bei den Krankenkassen gehört?
Was nützt es denn, wenn die teureren nördlichen Krankenkassen miteinander ausgleichen? Das nützt gar nichts. Wenn Finanzausgleich innerhalb der Kassenarten,
dann bundesweit und gesetzlich vorgeschrieben,
so wie das bei den einzelnen Ersatzkassen in der Natur der Sache liegt. Auch hier bieten Sie wieder eine Scheinlösung an.
Herr Blüm, Ihre Pläne sind unsolide, Ihre Pläne sind unsozial. Deshalb sind sie inakzeptabel. Nutzen Sie endlich mit uns die Enquete-Kommission Krankenversicherungsreform. Wenn wir gemeinsam deren Ergebnisse verarbeiten, dann können wir zu einer Strukturreform kommen, die breitere Mehrheiten findet und ihren Namen wirklich verdient.