Rede von
Rudolf
Dreßler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Woche haben zweimal die Koaltionsgremien getagt und sich mit Fragen der Strukturreform im Gesundheitswesen beschäftigt. Gestern abend hat Herr Blüm der staunenden Öffentlichkeit verkündet, man habe sich geeinigt. Herr Kollege Seehofer von der CSU hat aber zugleich deutlich gemacht, in Sachen Strukturreform gebe es in dieser Legislaturperiode eine zweite Runde. Das heißt, der amtierende Arbeitsminister hat — das hat er hier gerade nicht gesagt — sein Klassenziel und das Thema der heutigen Debatte nicht erreicht.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat im Mai die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Krankenversicherungsreform" durchgesetzt. Ziel ist es, den Versuch zu unternehmen, eine solche Reform auf breitere parlamentarische Mehrheiten zu gründen. Aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP schallt uns seither ein zweifaches Nein entgegen: Nein, die Koalition macht die Reform alleine; nein, die SPD will nur verzögern, das Koalitionskonzept steht im September 1987.
Das sagten Sie im Mai. Ich habe den Eindruck, Herr Blüm, der September scheint in diesem Jahr bei Ihnen ausgefallen zu sein.
So viel ist nämlich klar: Was Sie gestern vereinbart haben, läßt die entscheidenden Fragen einer Strukturreform unbeantwortet.
Der weitere Streit, das Gerangel in der Koalition ist vorprogrammiert. Ich wiederhole: Auf die zentralen Fragen einer Strukturreform unseres Gesundheitswesens, die Bereinigung der verzerrten Krankenkassenstruktur,
die Beseitigung der Ungleichgewichte zwischen Krankenkassen und Anbietern, die Reform und Stärkung der Selbstverwaltung, die Veränderung bei Preis- und Honorarbildung, von der jetzt keinerlei Anreize zur Kostenbegrenzung ausgehen, die Beseitigung der ungleichen Behandlung der verschiedenen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1987 3257
Dreßler
Versichertengruppen, haben Sie überhaupt keine oder nur unzureichende Antworten. Es ist nicht mehr zu vertuschen: Sie sind in diesen zentralen Fragen handlungsunfähig.
Als der Arbeitsminister in der Haushaltsdebatte der vergangenen Woche die markigen Worte sprach, er werde vor den Anbietern von Gesundheitsleistungen, vor Ärzten, Zahnärzten und der Pharmaindustrie, nicht in die Knie gehen, da hatte er seine eigene Lage nicht mehr erkannt. Zu diesem Zeitpunkt lag er nämlich bereits
flach auf dem Boden. Aus dieser Stellung kann man nicht mehr in die Knie gehen, meine Damen und Herren.
Seit gestern abend allerdings bewegt sich Herr Blüm einen Zentimeter unter der politischen Grasnarbe.
Schon der Zwischenbericht der Koalitionskommission zur Gesundheitsreform, der unter dem Datum des 30. Oktober im Arbeitsministerium gefertigt wurde, ist von einer brutalen Offenheit.
Christdemokraten und FDP wollten ein Sparprogramm in der Krankenversicherung von 14,5 Milliarden DM. Seit gestern abend sind es 14,3 Milliarden DM. Davon sollen allein 8 Milliarden DM die Versicherten durch Sonderabgaben und Leistungskürzungen zahlen.
Nun im einzelnen: Sie wollen abkassieren 2,6 Milliarden DM bei Zahnersatz, 2 Milliarden DM beim Sterbegeld, 700 Millionen DM bei Arzneimitteln, fast 600 Millionen DM bei Brillen und Kontaktlinsen, 400 Millionen DM bei Kuren, fast 700 Millionen DM bei Heil- und Hilfsmitteln, 800 Millionen DM bei Fahrtkosten usw.
3,5 Milliarden DM wollen Sie bei den Leistungserbringern holen. Sie sagen, die einzelnen Leistungsbereiche, also Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser, sollen hinsichtlich der Ausgabenentwicklung der Einnahmeentwicklung der Krankenkassen, also der Grundlohnsumme angepaßt werden.
Meine Damen und Herren, bei den Kassenärzten ist dies schon seit Jahren Realität. Wo sind da die Einsparungen, wo das Solidaropfer, Herr Blüm? Das möchten wir einmal erklärt haben. Bei Krankenhäusern haben Ihnen die Länder bereits gesagt, das sei mit ihnen nicht zu machen. Wo sind da die Einsparungen, Herr Blüm?
Bei der Pharmaindustrie — hier wird es ganz pikant — wollten Sie 1,7 Milliarden DM holen. Meine Güte, was hat der Herr Blüm vor einer Woche hier für eine Schau abgezogen! Und was haben Sie in der Koalition vereinbart? Sie wollen mit der Pharmaindustrie verhandeln, sie also bitten, ihren Beitrag zu leisten? In welch jämmerlicher Position befinden Sie sich!
Sie wollen der Pharmaindustrie drohen, wenn sie nicht einlenke, werde die Reform platzen.
Ist Ihnen eigentlich nicht klar, daß die Pharmaindustrie an einer Reform überhaupt kein Interesse hat, Herr Blüm? Sie liefern ihr im Gegenteil einen zusätzlichen Hebel, die Reform zu boykottieren. Sie liefern sich der Pharmaindustrie aus, Herr Blüm.
Der staunenden Presse verkündeten Sie gestern, das fänden Sie genial. Ich nenne das töricht. Wenn Sie mit der Pharmaindustrie über einen Stabilitätsbeitrag von 1,7 Milliarden DM verhandeln, dann frage ich Sie: Warum verhandeln Sie eigentlich nicht mit den Versicherten um ihren Beitrag von 8 Milliarden DM? Das wäre genial, Herr Blüm.
Aber bei den Versicherten tun Sie nur eines: abkassieren. Über 2 Milliarden DM wollen Sie von den Rentnern und der Rentenversicherung holen, weil Sie die Beiträge in der Krankenversicherung der Rentner anheben wollen. Seit wann haben wir in der Rentenversicherung eigentlich Geld übrig? Ihr Sparprogramm sieht in Wahrheit so aus: ein 8-Milliarden-DMOpfer bei den kleinen Leuten und lauter Luftbuchungen bei Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern und der Pharmaindustrie.