Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es geschafft: Die Weichen für eine solidarische Erneuerung unserer Krankenversicherung sind gestellt. Die Koalitionsparteien haben sich gestern auf Grundentscheidungen geeinigt; der Gesetzentwurf folgt.
Wir sind entscheidungsfähig, wir klammern nicht aus, wir packen an.
Unser Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt: medizinische Spitzenleistungen, freie Arztwahl, dichte Versorgung. Dabei soll es bleiben. Aber unsere gute alte Krankenversicherung kann nur erhalten werden, wenn sie reformiert wird. Wer nicht reformiert, der ruiniert; ohne Reform folgt der Ruin. Ohne Reform fressen die Beitragssteigerungen die Löhne auf. 1960 gab die Krankenversicherung 9 Milliarden DM aus. Zehn Jahre später waren es 24 Milliarden DM, noch einmal zehn Jahre später 86 Milliarden DM. Heute sind es 125 Milliarden DM.
Während die Löhne in der gleichen Zeit um das Fünffache stiegen, stiegen die Ausgaben der Krankenversicherung um das Vierzehnfache. Die Beiträge überholen die Löhne. Wenn wir nicht stoppten, würden die Beitragssteigerungen zu irgendeinem Zeitpunkt den Lohn völlig aufgezehrt haben. So hat eine Krankenversicherung, die AOK in Papenburg, schon jetzt einen Beitragssatz von 16 %. Wir mußten handeln.
Wir sparen mit großer Anstrengung rund 14 Milliarden DM. Das ist etwas weniger, als die Beitragszahler seit 1984 mehr zahlen müssen. Das macht die ganze Geschwindigkeit der Kostenentwicklung deutlich. Wer jetzt nicht die Bremse zieht, wird von einer Kostenlawine überrollt werden. Wer jetzt nicht die Bremse zieht, der wird demnächst nicht 14 Milliarden DM sparen müssen, sondern 30 Milliarden DM.
Wir sparen nicht nur, wir gestalten auch. 14 Milliarden DM Entlastung verschaffen wir uns. Die Hälfte soll den Beitragszahlern zugute kommen, mit der anderen Hälfte wollen wir den Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen helfen. Wir geben auch mehr Geld für die Vorsorge aus.
Was zuviel ist, wird zurückgenommen, um das, was zuwenig ist, zu verstärken. Unsere Krankenversicherung hat Überversorgung. Wir bauen die Überversorgung ab, um Unterversorgung beseitigen zu können.
Unsere Krankenversicherung hat auch Verschwendung. Jeder kennt die Pillen, Tropfen und Salben, die pfundweise in der Hausapotheke stehen und zentnerweise im Mülleimer landen. Verschwendung!
Unsere Krankenversicherung kennt Überversorgung. Wir haben sicherlich noch immer zu viele Krankenhausbetten und zuwenig Pflegebetten. Eine Ärzteschwemme droht auf das gesetzliche Krankenversicherungssystem zuzukommen.
Die solidarische Krankenversicherung muß weder Luxus noch Bagatelle über den Krankenschein bezahlen. Wir brauchen die Rückbesinnung auf die alten Prinzipien: Solidarität und Eigenverantwortung. Wir brauchen diese Konzentration, um das Wichtige zu tun, nämlich den Kranken helfen zu können.
Solidarität: Wer krank ist, dem muß geholfen werden. Dieser Grundsatz steht nicht zur Disposition. Heilung mit dem höchsten Standard des medizinischen Fortschritts: Niemand muß Angst haben, daß ihm nicht geholfen wird, weil er kein Geld hat; er bekommt die beste Medizin. Aber wenn beispielsweise die Arzneimittelhersteller ein Medikament für 90 DM und ein gleich gutes für 30 DM anbieten, frage ich Sie: Warum soll die Krankenversicherung das Präparat für 90 DM bezahlen? Wenn die Arzneimittel gleich gut sind, bezahlen wir künftig das preisgünstigere. Warum sollten wir das teuerste bezahlen? Wenn ein Hörgerät für 800 DM notwendig und ausreichend ist, warum sollten wir ein teureres bezahlen?
Wenn wir alles bezahlen, entsteht überhaupt kein Preisdruck. Wenn alles bezahlt wird, was angeboten wird, dann ist die Krankenversicherung in Gefahr, ausgebeutet zu werden. Auch für die Brille zahlen wir das Notwendige und Erforderliche.
— Sie sind nicht mehr auf dem letzten Stand.
Wir bezahlen das Notwendige und nicht jede Brillengestellspielerei. Wir bezahlen bei der Brille für Gestell und Gläser, allerdings auch hier beschränkt auf das Notwendige.
— Mit „wir" , Herr Vogel, meine ich uns alle — ich habe Sie vielleicht etwas voreilig mit eingeschlossen
— in der gesetzlichen Krankenversicherung. „Wir" ist die Solidargemeinschaft, in die Sie ausdrücklich eingeschlossen sind.
— Ich bin doch nicht so parteipolitisch kleinkariert, daß ich mit „wir" immer nur uns, die CDU, meine.
Mit Festbeträgen — ich wiederhole es — bezahlt unsere Krankenversicherung das Notwendige, auch wenn es noch so teuer ist. Wenn ein Rollstuhl für
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1987 3255
Bundesminister Dr. Blüm
20 000 DM gebraucht wird, wird er bezahlt. Aber es muß Schluß sein mit der bequemen Mitnahme und mit einer Krankenversicherung, von der man jeden Preis verlangen kann. Die solidarische Krankenversicherung ist für niemanden, auch nicht für die Anbieter, eine unendliche Melkmaschine. Das Erforderliche wird bezahlt, nicht jeder Preis und nicht jede Geschmacksvariante.
Dieser Festbetrag, meine Damen und Herren, kombiniert, wie ich meine, auf originelle Weise Solidarität, Wettbewerbsdruck und Einfachheit. Solidarität: Der Festbetrag bezahlt, was gebraucht wird. Wettbewerbsdruck: Er bringt die Anbieter in die heilsame Drucksituation, mehr Angebote in der Nähe des Festbetrages anzusiedeln und sich nicht wechselseitig mit Höchstpreisen zu überbieten. Er ist sozusagen der institutionalisierte Preisdruck, der nicht unterlaufen werden kann. Ich füge hinzu: Er ist auch einfacher und gerechter als jede prozentuale Selbstbeteiligung, die bekanntlich mit Härteklauseln arbeiten muß, deren Verlauf immer umkämpft ist. Außerdem hören bei der prozentualen Selbstbeteiligung die Steuerungsmöglichkeiten an der Höchstgrenze der Selbstbeteiligung auf. Man wird keine unendliche Selbstbeteiligung, wenn man sie wollte, einführen, man wird Höchstgrenzen haben. Oberhalb der Höchstgrenze ist jede Steuerung verloren.
Wir werden auch — das will ich nicht umgehen — auf bisherige Pflichtleistungen verzichten müssen, an die wir uns gewöhnt haben. Ich will das Wichtigste nennen: das Sterbegeld. Allerdings: Für die, die älter als 60 Jahre sind, bleibt es bei der gesetzlichen Höhe. Ich gestehe zu, daß uns das nicht leichtgefallen ist. Aber wir brauchen auch dieses Geld — es bringt zunächst 1 Milliarde DM — für die Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen.
Wir nehmen das Geld, um jenen — auch älteren — Mitbürgern zu helfen, die rund um die Uhr gepflegt werden müssen, um sie nicht allein zu lassen. Die Hilfe für diese Menschen wollen wir unterstützen, damit sie nicht ins Heim gehen müssen, sondern zu Hause bleiben können, solange es geht.
Wir müssen eine Grenze zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem allgemeinen Gesundheitskonsum ziehen, der zwar auch sehr vernünftig sein kann, der aber jedem selbst überlassen ist. Die Pflichtgemeinschaft Krankenversicherung, die Pflichtsolidarität kann nicht für alles zuständig sein, was gesundheitspolitisch erwünscht ist. Sie muß das medizinisch Notwendige zahlen, dem Kranken helfen. Wenn wir uns nicht darauf beschränken, wenn die Solidarität für jede Leistung in Anspruch genommen wird, degeneriert sie zur Ausbeutung der Bescheidenen und zur Umverteilung von den einfachen — ich nenne sie mit Respekt: biederen — Mitbürgern zu den cleveren. Wir wollen weder die Ausbeutung der Bescheidenen noch eine Umverteilung zugunsten der Cleveren.
Wir suchen eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung; sie gehören zusammen. Ohne Eigenverantwortung wird Solidarität anonym, und ohne Solidarität wird Eigenverantwortung egoistisch.
Deshalb das große Prinzip Eigenverantwortung. Es erhält eine neue Chance: Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit. Sie ist nicht einfach lieferbar, sie ist nicht von außen steuerbar. Auch ein Teil Selbstverantwortung gehört in eine humane Gesundheitspolitik.
Wir wollen regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen für Versicherte über 35 Jahre finanzieren, insbesondere Untersuchungen bei Herz-, Kreislauf- und Nierenerkrankungen alle zwei Jahre ermöglichen.
Zahnärztliche Vorsorge: Wir sind in Sachen Zahnprophylaxe ein unterentwickeltes Land. Wir wollen sie ausbauen und auch in ein finanzielles Interesse binden, so daß der, der sie in Anspruch nimmt, später beim Zahnersatz auch einen höheren Zuschuß von seiner Krankenkasse erhält. Insofern binden wir Eigenverantwortung auch an das Solidarprinzip, an die solidarische Unterstützung. Wer mehr Eigenverantwortung in Sachen Zahnprophylaxe auf sich genommen hat, erhält auch höhere Unterstützung durch die Solidarkassen. Insofern verknüpfen wir Solidarität und Eigenverantwortung.
Und wir versuchen — ganz vorsichtig — , in Neuland vorzudringen, in Modellversuchen Erfahrungen mit der Beitragsrückgewähr zu sammeln. Wir wollen keine Sozialpolitik vom Reißbrett her, sondern eine Sozialpolitik, die sich auf Erfahrungen stützt. Beitragsrückgewähr für denjenigen, der seine Krankenversicherung nicht in Anspruch genommen hat, bis zu einem Monatsbeitrag. Ich denke, eine solche Beitragsrückgewähr ist besser als eine Selbstbeteiligung, die den Gang zum Arzt absperrt. Im akuten Notfall spielt Geld keine Rolle: Du gehst zum Arzt, aber du mußt dir schon überlegen, ob du das Solidarsystem wegen jeder Bagatelle in Anspruch nimmst. Du mußt dir auch überlegen — und der Arzt mit — , ob jede Maschine, die im Medizinbetrieb steht, laufen, und ob die dritte Röntgenaufnahme auf die zweite folgen soll. Du mußt dir das überlegen, weil du sonst eine Beitragsrückgewähr nicht mehr empfangen kannst. Ich war und bin viel eher Anhänger eines Belohnungssystems als eines Bestrafungssystems.
Belohnung entspricht unserem Menschenbild mehr.
Wir wollen in bezug auf das Krankenhaus den Bericht abwarten, der über die Erfahrungen mit dem neuen Krankenhausfinanzierungsgesetz dem Deutschen Bundestag 1988 vorgelegt wird. Was die Inanspruchnahme der neuen, fortschrittlichen, modernen Entgeltformen durch die Partner angeht: Wenn sie die links liegengelassen haben — das werden wir prüfen — , dann muß der Gesetzgeber mit neuen Pflegesätzen die Lücke schließen. Wenn sie trotz großen Angebots auf den alten Trampelpfaden weitermarschiert sind, dann muß der Gesetzgeber das, was besser die Selbstverwaltung gemacht hätte, selber übernehmen.
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Bundesminister Dr. Blüm
Wir wollen den Kassen ein Kündigungsrecht gegenüber Krankenhäusern geben, die über dem Bedarf liegen. Allerdings wird die Kündigung nur mit Zustimmung der Länder wirksam.
Wir wollen die Tür versperren, daß Privatkliniken, private Reha-Stationen sich sozusagen am Krankenhausplan vorbeimogeln, um Bettenabbau, der im gesetzlichen System erzwungen wird, durch die Hintertür zu kompensieren.
In den Fällen, in denen Zuzahlung gefordert wird, beispielsweise beim Zahnersatz, gilt die Härteklausel. Versicherte mit entsprechend niedrigem Einkommen werden von Zuzahlungen völlig befreit.
Wir haben uns auf ein Modell verständigt, das mit Verzicht auf das arbeitet, was verzichtbar erscheint, und mit Festbeträgen, die das Notwendige finanzieren. Ich glaube, damit ist der Solidarität Genüge getan. Wir wollen Solidarität an Eigenverantwortung knüpfen.
Auch mit der Renovation der Kassenorganisation beginnen wir. Wir schneiden den alten Zopf ab, daß Arbeiter unbedingt pflichtversichert sein müssen. Wir werden sie wie Angestellte behandeln, die nur bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze pflichtversichert sind.
Wir schaffen Finanzausgleich innerhalb einer Kassenart auf Landesebene und freiwillig auch übergreifend. Das ist der erste — ich betone: der erste — Schritt zu einer Rationalisierung der Kassenorganisation.
Alle werden in dieser Reform gefordert, alle Beteiligten, auch die Anbieter.
Wir erwarten einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Ohne diesen Solidarbeitrag ist diese Krankenversicherungsreform nicht zu machen. Wir wollen mit den Arzneimittelherstellern über die Wege reden. Aber ich bin ganz sicher, daß das Gesetz die dritte Lesung dieses Bundestages nicht ohne einen solchen Solidarbeitrag — um das ausdrücklich zu sagen — der Pharmaindustrie erreichen wird.
Ich meine, daß dieses Gesetz ein neues Kapitel nicht nur in der Renovation unserer guten Krankenversicherung aufschlägt, sondern daß es auch Neuland betritt, indem es die häusliche Pflege unterstützt, ein Feld weißer Flecken auf unserer Landkarte. Wir wollen denen helfen, die Schwerstpflegebedürftige rund um die Uhr pflegen. Wir wollen sie unterstützen. Wir wollen ihnen auch die Möglichkeit geben, vier Wochen im Jahr — ich sage es in meiner Sprache — Luft zu holen, Urlaub zu machen und währenddessen eine Ersatzperson zu haben.
Ich gebe zu, das ist keine spektakuläre ideologische Sozialpolitik. Es ist eine Sozialpolitik am Herzen des Volkes, orientiert an den praktischen Notwendigkeiten.
Es wird — jetzt wende ich mich ganz besonders an meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen — eine Kraft- und Mutprobe für uns werden. Es wird ein Test der Gemeinwohlfähigkeit unserer Gesellschaft. Es wird der Test, ob Gemeinwohl möglich ist oder wir in Gruppenegoismus versinken.
Insofern geht es um mehr als Krankenversicherungsreform. Es wird von uns der Beweis gefordert, ob Politik zur Umstellung und zur Reform, die dieses Wort verdient, fähig ist oder ob sie nur Varianten korrigiert und weiterwurstelt.
Deshalb: Zieht euch warm an. Es wird uns ein kalter Wind entgegenwehen. Ich sage entschlossen: Wir werden uns auch von Lobbyisten nicht umstoßen lassen.