Nein, darauf können wir uns nicht einigen.
Der Dissens besteht nach wie vor darin, daß Sie zur Meßlatte für die Ergebnisse die Antwort auf die Frage machen, ob all das, was Ihnen als veränderungsbedürftig oder -würdig erschien, auch von der Kommission zur Veränderung empfohlen worden ist. Ich finde, zu einer „ergiebigen" Diskussion gehört auch, daß man sich bei einer Reihe von Punkten möglicherweise zu einer Änderungsempfehlung nicht entschließen kann. Deswegen — und das bringt uns zum Kern der heutigen Diskussion zurück — sage ich auch hier, jetzt nicht als Meinung der Fraktion, sondern als mein persönlicher Eindruck, gerade weil ich mich seit vielen Jahren, nicht immer mit großer Leidenschaft, aber doch meistens sehr gründlich mit der Geschäftsordnung des Bundestages beschäftigt habe, daß ich für eine gründliche Revision der Geschäftsordnung im ganzen weder die Notwendigkeit noch die Mehrheiten sehe.
Ich wäre deswegen auch im Unterschied zu den Antragstellern mit dem Begriff „Parlamentsreform" ein bißchen vorsichtig. Dieser Begriff erweckt Erwartungen auf weitreichende und tiefgreifende Veränderungen, für die nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre nach meinem Eindruck weder Bedarf noch Mehrheiten bestehen. Ich halte es auch für eine Verzerrung der Diskussionslage, wenn dann immer auf Widerstand der tatsächlichen oder vermeintlichen Prominenz verwiesen wird. Die Leidenschaft zur Veränderung hält sich auch bei den sogenannten Reformern in engen Grenzen. Ich sehe heute morgen manche Kollegen, die sich selbst nicht auf Drucksachen mit dem Titel des Parlamentsreformers schmücken, und ich sehe viele nicht, die der von ihnen beantragten Debatte eigentlich die Ehre ihrer eigenen Anwesenheit hätten geben sollen.
Deswegen gehört zu einer redlichen Diskussion dieses Sachverhalts auch, daß man nicht Pappkameraden aufbaut und auch nicht Veränderungsbedürfnisse im abstrakten vortäuscht, die dann im konkreten möglicherweise, wenn überhaupt, mit sehr viel geringerer Dringlichkeit gesehen werden.
Einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler, Ernst Fraenkel, hat vor über 20 Jahren bereits in einer Studie über westliche politische Systeme geschrieben:
Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus scheint mir die landläufige Kritik zu sein, die an ihm geübt wird. Sie ist reaktionär und schizophren. Sie sehnt sich heimlich nach einer starken Regierung und bekennt sich öffentlich
zur Herrschaft eines allmächtigen Parlaments. Sie beschimpft den Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt, und verhöhnt ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole befolgt. Sie verkennt die notwendigerweise repräsentative Natur eines jeden funktionierenden Parlamentarismus und verfälscht seinen Charakter, indem sie ihn plebiszitär zu interpretieren versucht.
Ich will nicht sagen, daß dies die abschließende und zutreffende Beurteilung dieses Parlaments und seiner Leistungsfähigkeit sei. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß viele, die mit einer gewissen Distanz — und im übrigen auch einem souveränen Beurteilungsvermögen — zu den oft herangezogenen klassischen Modellen parlamentarischer Regierungsweise zu einem sehr viel günstigeren Urteil über die Leistungsfähigkeit auch und gerade des Bonner Parlaments kommen und gekommen sind, als das in manchen Debatten gelegentlich zum Ausdruck kommt. Ich meine, es ist zumindest zulässig, wenn nicht notwendig, auch diese Erkenntnis einmal in eine solche Diskussion einzubeziehen.