Rede:
ID1100606400

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 37
    1. am: 2
    2. Ende: 2
    3. die: 2
    4. Sitzung: 2
    5. Weitere: 1
    6. Wortmeldungen: 1
    7. liegen: 1
    8. nicht: 1
    9. vor.: 1
    10. Wir: 1
    11. sind: 1
    12. der: 1
    13. Aussprache: 1
    14. über: 1
    15. Regierungserklärung: 1
    16. und: 1
    17. damit: 1
    18. auch: 1
    19. unserer: 1
    20. Tagesordnung.Ich: 1
    21. berufe: 1
    22. nächste: 1
    23. des: 1
    24. Deutschen: 1
    25. Bundestages: 1
    26. auf: 1
    27. Mittwoch,: 1
    28. den: 1
    29. 1.: 1
    30. April: 1
    31. 1987,: 1
    32. 9: 1
    33. Uhr: 1
    34. ein.: 1
    35. Die: 1
    36. ist: 1
    37. geschlossen.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Freitag, den 20. März 1987 Inhalt: Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Dregger CDU/CSU 253 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 260 B Mischnick FDP 264 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 269 B Rühe CDU/CSU 271 B Dr. Ehmke (Bonn) SPD 275 A Diepgen, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 284 A Dr. Mechtersheimer GRÜNE 286 C Genscher, Bundesminister AA 289 C Präsident Dr. Jenninger 257 B Nächste Sitzung 294 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 295* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. März 1987 253 6. Sitzung Bonn, den 20. März 1987 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amling 20. 3. Frau Beck-Oberdorf 20. 3. Clemens 20. 3. Cronenberg (Arnsberg) 20. 3. Frau Eid 20. 3. Eylmann 20. 3. Francke (Hamburg) 20. 3. Dr. Göhner 20. 3. Dr. Götz 20. 3. Gröbl 20. 3. Grünbeck 20. 3. Dr. Grünewald 20. 3. Grunenberg 20. 3. Jungmann 20. 3. Klein (München) 20. 3. Kolb 20. 3. Dr. Graf Lambsdorff 20. 3. Lenzer * 20. 3. Frau Dr. Martiny-Glotz 20. 3. Frau Odendahl 20. 3. Frau Pack 20. 3. Porzner 20. 3. Reuschenbach 20. 3. Dr. Rumpf * 20. 3. Seehofer 20. 3. Dr. Solms 20. 3. Spilker 20. 3. Frau Trenz 20. 3. Vosen 20. 3. Dr. Wallmann 20. 3. Weiermann 20. 3. Dr. Wieczorek 20. 3. Wissmann 20. 3. Würtz 20. 3. Zumkley 20. 3. Frau Zutt 20. 3. Zywietz 20. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte am Beginn Ihnen, Herr Bundeskanzler, dafür danken, daß Sie in der Regierungserklärung die Leistungen, aber auch die Leiden des Auswärtigen Dienstes gewürdigt und an meinen Mitarbeiter von Braunmühl erinnert haben, der uns so unvergeßlich ist wie die anderen Opfer, die der Auswärtige Dienst für unser Land hat erbringen müssen.
    Dieser Dienst wird schwerer. Das hat etwas mit veränderten Bedingungen in der Welt zu tun. Ich bin deshalb dem Deutschen Bundestag dankbar dafür, daß er in der vorigen Legislaturperiode mit allen Fraktionen mein Bemühen um ein Gesetz für den Auswärtigen Dienst, das seinen Besonderheiten Rechnung tragen soll, unterstützt hat. Herr Kollege Ehmke, ich habe dafür bei den Koalitionsverhandlungen sehr viel Verständnis gefunden. Wir werden uns jetzt ans Werk machen.
    Diese außenpolitische Debatte heute bei der Behandlung einer Regierungserklärung, die nach vorn weist und sich den Herausforderungen unserer Zukunft stellt, bot für alle Fraktionen die Chance, nach dem zu suchen, was ein Parlament bei allen Gegensätzen einen kann.
    Der Kollege Ehmke hat hier eine Reihe von Gedanken entwickelt, die uns einander näherbringen und auf die wir eingehen werden.
    Sie, Herr Kollege Mechtersheimer, haben für Ihre Fraktion diese Chance versäumt.

    (Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist ja lächerlich!)

    Ich sage das nicht, weil sie eine andere Meinung vertreten haben als wir. Ich sage es, weil Sie uns, die Sie als Ihre politischen Gegner betrachten — und das ist umgekehrt genauso — , die Gesinnung des Friedens bestreiten. Das ist es, was uns trennt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe der Abg. Dr. Mechtersheimer [GRÜNE] und Schily [GRÜNE])

    Eine Demokratie lebt von der Toleranz und der Achtung auch der Aufrichtigkeit der anderen Meinung. Nur wer tolerant ist, ist zum inneren Frieden fähig.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Schily [GRÜNE])




    Bundesminister Genscher
    Und nur wer zum inneren Frieden fähig ist, kann glaubwürdig den Frieden auch nach außen bewahren.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Dr. Mechtersheimer [GRÜNE])

    Zwei Leitartikel vom gestrigen Tage haben die Frage nach Perspektiven und Problemen der deutschen Außenpolitik gestellt. Der eine sprach davon, daß die deutsche Außenpolitik unabmeßbaren Veränderungen der Weltgeschichte ausgesetzt sei. Es bestehe die Gefahr, daß äußere Sicherheit und Rüstungskontrolle in einen Gegensatz geraten, der besonders die Europäer berühre. Er fährt fort: Es ziehen Wolken auf. In dem anderen wird die Frage gestellt, ob nach dem Feindbild nun die Wunschbilder kommen, ob also nach der pessimistischen Betrachtung nun die Illusion Einzug hält. Dieser Artikel kommt zu dem Ergebnis: Aus Feindbildern dürfen nicht Wunschbilder werden. Aber die neuen Perspektiven sollten wir keinesfalls aus den Augen verlieren.
    Beide Artikel sind in ihrer Analyse übereinstimmend. Beide stellen fest, daß wir uns in einer Phase tiefgreifender Veränderungen in der Weltpolitik befinden. Die Entwicklung geht weg von einer bipolaren Welt, die ausschließlich durch das Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion bestimmt wird. Wir bewegen uns hin zu einer Welt, in der andere Kraftzentren gestalterisch werden; die Volksrepublik China ist das stärkste, das beachtlichste davon. Und alles das, was hier heute von der Notwendigkeit europäischer Selbstbesinnung, Einigung, europäischer Identität gesagt worden ist, ist von dem Willen getragen, daß unser demokratisches Europa, das Europa der Europäischen Gemeinschaft in dieser sich verändernden Welt seinen Platz einnimmt, damit die Politik und Entwicklung nicht über uns hinweggehen.
    Neue technologische Entwicklungen verändern die Gesellschaften und das Zusammenleben der Menschen. Der Philosoph Jonas spricht mit Recht davon, daß wir eine neue Verantwortung zu erfüllen haben.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Schon lange!)

    Andere Generationen hatten sie nur für sich selbst, wir haben sie bei der Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und bei der Bewahrung des Friedens für alle nachwachsenden Generationen, weil wir nämlich die Generation sind, die zum erstenmal auch mit der Gefahr der Selbstvernichtung konfrontiert ist.
    Deshalb war es so notwendig, daß die Bundesregierung als die übergreifende Zielsetzung ihrer Politik gefordert hat: „Die Schöpfung bewahren und die Zukunft gestalten" . Das ist nicht nur eine innenpolitische, sondern eine Forderung, die für uns weltweite Bedeutung hat.
    Viele Aufgaben der inneren Politik gewinnen zunehmend eine außenpolitische Dimension. Das gilt für die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts. Weltweite Kommunikations- und Reisemöglichkeiten machen die Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen zu einer internationalen Aufgabe. „Die Schöpfung bewahren" — dazu gehören die Meeresböden, die Antarktis, die Lufthülle der Erde und der Weltraum.
    Vor allem aber steigt das Bewußtsein, daß wir mehr voneinander abhängig sind. Hier liegt die eigentliche Wirkung von Tschernobyl. Der Bundeskanzler hat mit Recht festgestellt: Das West-Ost-Verhältnis ist in Bewegung geraten. Der Wille der beiden Großmächte in Reykjavik, sich zu verständigen, bringt für die West-Ost-Beziehungen, für Abrüstung und Rüstungskontrolle uns neuen Perspektiven näher.
    Ist es also wirklich so, meine Damen und Herren, daß Wolken aufziehen? Oder ist es nicht so, daß in dieser Phase des Umbruchs auch die Chance liegt, manches in der Welt zum Besseren zu wenden — Schritt für Schritt?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Regierungserklärung entscheidet sich für diese Alternative: für eine dynamische, für eine realistische Politik der Zukunftsgestaltung und nicht der Beharrung. Und so schön ist die Lage ja auch nicht, daß wir sagen könnten, wir wollen beharren.
    Meine Damen und Herren, die Weltschuldenkrise, Hunger und Not in vielen Ländern der Dritten Welt, Arbeitslosigkeit in der Europäischen Gemeinschaft, Rheinvergiftung, Hochrüstung — das ist die eine Seite. Die andere Seite ist — und das sind die Grundlagen, auf die wir uns zu besinnen haben — , daß wir für unsere Politik Fundamente geschaffen haben, die es uns ermöglichen, die Zukunft zu gestalten. Diese Fundamente zu entwickeln ist zugleich auch die Stärkung der Fähigkeit, mit dem Osten zusammenzuarbeiten.
    Das Bündnis festigen — das bedeutet, daß wir als westliche Demokratien — zusammen mit Japan, das diesem Bündnis nicht angehöhrt — die große weltwirtschaftliche Verantwortung erkennen, die Europa, die Vereinigten Staaten und Japan bei der Bewältigung der Schuldenkrise, bei der Schaffung stabiler weltwirtschaftlicher Beziehungen tragen, die auch den Entwicklungsländern den gleichberechtigten Eintritt in die Weltwirtschaft durch Abbau von Protektionismus in den Industrieländern ermöglichen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist praktische Hilfe für die Dritte Welt.

    Was die Hilfe in Zahlen angeht, meine Damen und Herren: Wir rechnen nicht einmal die privaten Investitionen in der Dritten Welt mit, aber allein die öffentliche Entwicklungshilfe der nun wahrlich nicht großen Bundesrepublik Deutschland ist mehr als doppelt so groß wie die des ganzen Warschauer Paktes. Hier zeigt sich, was freie Gesellschaften beitragen können

    (Zurufe von den GRÜNEN)

    in ihrer Verantwortung gegenüber der Dritten Welt, weil wir nämlich begriffen haben, daß die Lösung der Probleme der Dritten Welt für unser zu Ende gehendes Jahrhundert eine gleich große soziale Herausforderung ist wie die Lösung der sozialen Probleme in



    Bundesminister Genscher
    den Industriegesellschaften am Ende des letzten Jahrhunderts,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und das ist ein Beitrag zur Friedenspolitik.

    Meine Damen und Herren, in einer sich so verändernden Welt verlangt es eine realistische Sicht, daß wir uns der Fundamente unserer eigenen Politik versichern, also unserer Mitgliedschaft im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Herr Kollege Mechtersheimer, wir liefern uns diesem Bündnis nicht aus, sondern wir sind Mitglied dieses Bündnisses, damit Europa nicht neuer Instabilität ausgeliefert wird. Das ist unsere Auffassung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das ist nicht, wie Sie sagen, ein Militärbündnis — das ist ja gerade das Neue —; es ist nicht ein Militärbündnis alter Art, wo man sich für bestimmte Zeit zusammenschließt, um gegen einen anderen Front zu machen. Es ist ein Bündnis, das auf gleichen Wertvorstellungen von Freiheit und Demokratie beruht, von dem, meine Damen und Herren, was für eine freie Gesellschaft konstitutiv ist.
    Nun müssen wir fragen: Was bedeutet das für dieses Bündnis, wenn die Europäische Gemeinschaft den Weg deutlicherer Selbstfindung in allen Bereichen geht? Im Grunde tun wir das, was uns alle amerikanischen Präsidenten seit Kennedy aufgetragen — hätte ich fast gesagt —,

    (Schily [GRÜNE]: Ja, ja, aufgetragen!)

    von uns gefordert haben: Schafft den europäischen Pfeiler des westlichen Bündnisses und nicht eine Addition von Pfeilerchen!

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, wir haben heute in der Europäischen Gemeinschaft 320 Millionen Menschen, weit mehr als in den Vereinigten Staaten. Wenn dieses Europa seine Marktkraft entfaltet — das ist der Sinn der Schaffung des Binnenmarktes —, wenn dieses Europa seine technologische Leistungsfähigkeit stärkt, dann erhöht es sein Gewicht in der internationalen Politik und im westlichen Bündnis; denn das ist es ja, was das neue Denken in dieser Gemeinschaft europäischer Demokratien ist, daß wir unser Gewicht nicht ableiten von dem Maß der militärischen Stärke. Diese orientieren wir an den Notwendigkeiten der Verteidigungsfähigkeit. Unser Gewicht beruht auf der Kraft unserer freiheitlichen Ordnung,

    (Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört!)

    auf unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auf unserer Kooperationsfähigkeit, damit wir soziale Gerechtigkeit bei uns schaffen und damit wir soziale Gerechtigkeit in die Staaten der Dritten Welt hineintragen können.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört! Hört!)

    Das ist die Friedensaufgabe, die ein demokratisches Europa hat.
    Nun gehört es dazu, daß zu dieser europäischen Selbstfindung unser Europa auch seine Sicherheitsinteressen definiert. Es ist eben nicht wahr, daß uns die Amerikaner Gleichgewichtigkeit im Bündnis oder Anerkennung unserer Sicherheitsinteressen verwehren. Europäische Uneinigkeit, die nicht vorhandene Fähigkeit, die eigenen europäischen Sicherheitsinteressen zu definieren, hat dazu geführt, daß wir oft spät, manchmal zu spät bestimmte Forderungen haben anmelden können in der Gesamtheit der europäischen Staaten. Deswegen haben wir die Westeuropäische Union zusammen mit Frankreich wiederbelebt. Frankreich und Deutschland sind nun einmal der Motor, das Herzstück der europäischen Einigung.
    Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit ist nicht nur ein Gewinn im Sinne einer Verstärkung der Effektivität unserer militärischen Anstrengungen. Diese sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist ein großes Stück Vertrauensbildung in Europa, die wir brauchen, wenn wir unsere nationalen Interessen auch dem Osten gegenüber durchsetzen wollen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir werden darüber nicht vergessen, was die anderen Staaten tun. Es sind hier schon alle unsere Bündnispartner gewürdigt worden. Ich will noch ein Wort zu einem großen Land in der Europäischen Gemeinschaft sagen, das wie wir ein nichtnukleares Land ist: Italien, das auch einen erheblichen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leistet, das wie wir zu den europäischen Gründerstaaten gehört und das viele Beiträge zur Entwicklung der West-Ost-Beziehungen geleistet hat.
    So ist der Prozeß europäischer Selbstfindung auch zugleich ein Beitrag zur Stärkung des Gewichts der Europäer im westlichen Bündnis und damit auch zur Stärkung dieses Bündnisses, selbst zur Festigung dessen, was Europa mit den Vereinigten Staaten verbindet. Das ist notwendig und dringlich; denn wir kennen ja auch die Gegensätze, die in den Fragen der Handelspolitik deutlich geworden sind. Kann es eigentlich befriedigend sein, daß sich Europa und Amerika am Weltmarkt bei der Subventionierung von Agrarprodukten, die auf beiden Seiten unter Überschußproduktion hergestellt worden sind, einen ruinösen Wettbewerb liefern? Hier ist eine Harmonisierung notwendig. Wir werden sehr viel dafür tun müssen, daß aus Meinungsverschiedenheiten in diesem Bereich nicht Auswirkungen auf den politischen und den sicherheitspolitischen Bereich entstehen.
    Festigung also und Entwicklung der Perspektiven unseres demokratischen Europas zur Stärkung auch des westlichen Bündnisses und zur Verbreiterung der Plattform, die wir brauchen, um mit unseren Nachbarn im Osten zusammenzuarbeiten. Da fragen viele: Warum sind es denn die Deutschen, die sich zuallererst mit diesen Fragen, mit der Entwicklung im Warschauer Pakt, mit der Entwicklung in der Sowjetunion befassen? Kann das eigentlich verwunderlich sein? Ist es nicht so, daß wir diejenigen sind, die im Guten wie im Schlechten am meisten davon betroffen sind, wie sich das West-Ost-Verhältnis gestaltet? Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung auf die Einbettung des deutschen Schicksals in das Schicksal



    Bundesminister Genscher
    Europas hingewiesen. Er hat aus diesem Grunde vor einem deutschen Sonderweg gewarnt.
    Wir können doch feststellen — jeden Tag empfinden wir es — : Die Grenze, die Europa teilt, ist nicht die Grenze, die irgendein anderes Land sonst noch teilt; es ist die Grenze mitten durch Deutschland. Das, was Europa trennt, trennt die Deutschen. Das, was Europa zusammenführt, führt die Deutschen zusammen. Deshalb muß deutsche Außenpolitik europäische Friedenspolitik sein. Nichts anderes ist möglich.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Wir haben zu dieser Politik keine Alternative, die wir vertreten könnten. Da es ganz unbestritten ist, worauf auch viele der Redner hingewiesen haben, daß die europäische Identität nicht nur in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft bewußt wird, sondern daß sie noch viel stärker in allen europäischen Staaten, bei unseren Nachbarn im Osten, bewußt wird, ist es so wichtig, daß wir erkennen, daß der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen West und Ost zugleich auch das Bewußtsein dieser europäischen Identität verstärken wird. Das ist eine große Chance für Europa.
    Zum erstenmal erleben wir seit langer Zeit wieder, daß die deutschen Interessen mit den Interessen aller unserer Nachbarn übereinstimmen. Die Europäer in West und Ost wollen näher zusammenrücken, so wie wir Deutschen zusammenkommen wollen, d. h. wir sind eingebettet in eine Grundströmung, die Europa immer stärker beeinflussen wird. Wer sich hier aus dieser europäischen Entwicklung auskoppelt, der nimmt uns die Chance, uns als Deutsche näherzukommen. Das ist der Grund, warum wir einen deutschen Sonderweg ablehnen.
    Nun hat heute morgen der Herr Kollege Lippelt davon gesprochen, daß er und, wie ich verstehe, alle seine Kollegen in der Fraktion der GRÜNEN

    (Frau Schoppe [GRÜNE]: Die Kolleginnen auch!)

    den Anspruch auf Wiedervereinigung aufgeben. Meine Damen und Herren, ich möchte alle, die das sagen, doch einmal bitten, darüber nachzudenken, was sie eigentlich legitimiert, einen Teil unserer Nation, die unbestreitbar fortbesteht, auszugrenzen. Was legitimiert sie?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das ist es ja gerade! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN — Abg. Schily [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein, ich möchte meine Ausführungen fortsetzen, Herr Kollege.
    Wird hier nicht eine neue Form des Alleinvertretungsanspruchs sichtbar? Das Selbstbestimmungsrecht, das unserem Volk wie jedem anderen Volk zusteht, kann weder der Teil des Volkes, der hier lebt, für sich ausüben noch der für sich in der DDR, das können wir nur gemeinsam ausüben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gemeinsam können wir darüber entscheiden.

    Deshalb möchte ich Sie bitten, einmal darüber nachzudenken, ob Sie wirklich die Legitimation haben, diejenigen Mitbürger, die in der DDR leben, aus der Einheit — —

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Wir wollen das sogar!)

    — Sie sagen, Sie wollen es. Sie wollen mehr als die Führung der DDR, die selbst von dem Fortbestehen der deutschen Nation spricht.

    (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE]: Das stimmt doch nicht, Herr Genscher!)

    — Die Führung der DDR spricht vom Fortbestehen der deutschen Nation. Sie hat andere Auffassungen als wir von der staatlichen Organisation. Aber, meine Damen und Herren, das Fortbestehen der deutschen Nation leugnet niemand, der Realpolitik betreibt.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Das ist doch nicht identisch mit Staatlichkeit! — Dr. Mechtersheimer [GRÜNE]: Sie bauen einen Popanz auf!)

    Deshalb ist es so wichtig, daß wir hier unsere Verantwortung erkennen, eine Verantwortung, die wir als Deutsche — wir, die Deutschen hier und unsere Mitbürger in der DDR — auch dadurch erfüllen, daß wir unsere Beiträge für den Frieden in Europa leisten. Deshalb hat die Bundesregierung zu keiner Zeit die DDR aus ihren Gesprächen über die Fragen der Abrüstungspolitik und der Rüstungskontrollpolitik ausgeklammert. Wir tun das mit allen Staaten des Warschauer Paktes, und natürlich — ich würde sagen: zuallererst — tun wir es mit der DDR. Das gehört dazu; hier haben wir eine gemeinsame Verantwortung zu erfüllen.

    (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE]: Dazu steht nichts in der Regierungserklärung!)

    — Ich sage es Ihnen ja gerade. Sie haben sich ja, als der Bundeskanzler gesprochen hat, darüber beklagt, daß die Regierungserklärung zu lang sei. Nun führe ich das aus, was in der Bundesregierung ganz unbestritten ist. Da beklagen Sie, daß das nicht in der Regierungserklärung gestanden habe.
    Meine Damen und Herren, darüber gibt es doch überhaupt gar keinen Zweifel: Wir haben die Abrüstungskonsultationen gehabt, wir werden sie fortsetzen, wir werden sie auf einer anderen Ebene fortsetzen. Wir wollen mit jedem Staat des Warschauer Paktes — ich sage es noch einmal — und natürlich auch mit der DDR darüber sprechen, wie wir Europa sicherer machen können und was wir für Beiträge zur Sicherheit leisten können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, realistische Entspannungspolitik ist notwendig. Als ich 1975 vor dem Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abzugeben hatte, habe ich gesagt: Unsere realistische Entspannungspolitik dient dem Frieden. Wer das bestreitet, muß die Alternative nennen. Realistische Entspannungspolitik ist eine Politik, die auch ihre Grenzen klar erkennt. Ich bin dann fortgefahren:



    Bundesminister Genscher
    Wer sich für diese Politik aus dem Bündnis lösen will, würde eine illusionäre Politik beginnen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die CDU hat gegen die KSZE gestimmt!)

    Ich denke, das ist etwas, wozu eigentlich alle jasagen können sollten.
    Herr Kollege Ehmke, zu dem, was Sie zu manchen Fragen der europäischen Sicherheit gesagt haben: Wir werden es mit zu besprechen haben, wenn wir uns daranmachen, in der Westeuropäischen Union jene europäische Sicherheitscharta zu erarbeiten, die der französische Ministerpräsident vorgeschlagen hat, nämlich die Definition europäischer Interessen in der Sicherheitspolitik. Natürlich werden wir in der EG zu besprechen haben, inwieweit die EG hier ein geeignetes Gremium sein kann. Das Problem liegt darin, daß nicht alle Mitgliedstaaten der EG Mitgliedstaaten des westlichen Bündnisses sind; das haben wir dabei mit zu bedenken.
    Meine Damen und Herren, nun haben wir uns einer Entwicklung zu stellen, die mit großer Dramatik in der Sowjetunion stattfindet, einer Entwicklung, die von dem Willen des neuen Generalsekretärs gekennzeichnet ist, das Land zu modernisieren und es nach innen und außen zu öffnen. Wir haben uns die Frage zu stellen, ob das, wenn eine solche Entwicklung, wenn eine solche Politik Erfolg hat, in unserem Interesse liegt oder nicht. Ich denke, es ist ganz unbestreitbar, daß eine Sowjetunion, die sich nach innen und außen öffnet, für uns ein besserer Partner ist als eine Sowjetunion, die sich abschließt, wie sie das in der Vergangenheit getan hat.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Natürlich können wir die Mängel nicht lösen, die im sowjetischen System liegen. Das ist die Aufgabe der sowjetischen Führung und der sowjetischen Gesellschaft. Was wir aber tun können, ist, durch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit eine solche Entwicklung zu erleichtern und auch zu ermutigen. Das bedeutet, daß wir alle die Möglichkeiten, die in dem langfristigen deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommen liegen, nutzen. Das ist ein Wirtschaftsabkommen, das übrigens viele interessante Modelle der Zusammenarbeit ermöglicht, die bisher nicht genutzt wurden — nicht unseretwegen, sondern wegen der Inflexibilität des Systems in der Sowjetunion. Dazu gehört, daß wir den politischen Dialog fortsetzen und die Zusammenarbeit in allen Bereichen suchen.
    Der Westen, meine Damen und Herren, muß eine solche Entwicklung nicht scheuen. Im Gegenteil: Der Westen — ich wiederhole es — hat Anlaß, eine solche Entwicklung zu ermutigen. Er kann das in der sicheren Gewißheit, daß er als eine handlungsfähige Gemeinschaft innerhalb des westlichen Bündnisses dabei seine Sicherheitsinteressen nicht verletzen wird.
    Nun ist die Frage aufgeworfen worden, ob eine solche Modernisierung dem Westen denn wirklich nütze, weil sie doch unter Umständen die Wirtschaftskraft der Sowjetunion verstärke. Meine Damen und Herren, wer die gesellschaftlichen Entwicklungen erkennt, die sich aus den neuen Technologien für
    unsere freien Gesellschaften hin zu mehr personaler Verantwortung und kleineren Einheiten ergeben, und wer erkennt, daß eine Öffnung der Sowjetunion ganz automatisch auch notwendig macht, sich in diese Richtung zu bewegen, der wird auch erkennen, daß eine Sowjetunion, die den Weg der Modernisierung wirklich geht, am Ende eine andere sein wird als die von heute, eine offenere, nicht eine Demokratie in unserem Verständnis, sondern eine offenere, verglichen mit der Sowjetunion von heute.
    Da komme ich auf das zurück, was ich eingangs gesagt habe: Das liegt auch in unserem Interesse. In unserem Interesse liegt auch, daß sich durch wirtschaftliche Zusammenarbeit die Lebensverhältnisse in allen Staaten des Warschauer Paktes verbessern.
    Wenn wir von unseren deutschen Mitbürgern in der DDR und von unseren europäischen Mitbürgern reden, wollen wir das ja nicht als eine Sonntagsrede verstanden wissen, sondern wollen, daß sich auch ihre materiellen Lebensbedingungen verbessern, so wie wir durch Bestehen auf den Verpflichtungen der Schlußakte von Helsinki wollen, daß sich die menschenrechtliche Lage verbessert. Beides gehört zusammen, und beides macht Europa stabiler!

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb wäre es eine gefährliche Politik, wenn wir in dem, was dort geschieht, ein Zeichen der Schwäche sehen würden, wo man noch nachhelfen muß, um die anderen noch schwächer zu machen. Das würde bei einem System sowjetischer Prägung eine ganz andere Reaktion auslösen. Nein, es ist wichtig, daß wir uns hier weiter an dem orientieren, was wir immer getan haben, an der Notwendigkeit der Verteidigungsfähigkeit, daß wir aber den Willen zur Kooperation zeigen, weil wir weder eine technologische noch eine wirtschaftliche noch eine kulturelle Spaltung Europas wollen.
    Das ist das, was die Grundidee der Schlußakte von Helsinki ist, nämlich den Weg zu einer europäischen Friedensordnung zu öffnen, in der die Völker Europas auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen zwar im Wettbewerb, aber auf der Grundlage von mehr Vertrauen miteinander leben können.
    Herr Kollege Ehmke, ein Rat für Vertrauensbildung wird Vertrauen nicht schaffen, aber vertrauensbildende Maßnahmen können dann auch eine Grundlage dafür bieten, ein besseres Krisenmanagement — wenn ich den Audruck einmal aufnehmen darf — in Europa zu schaffen. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen vorangehen. Mehr Sicherheit durch Vertrauensbildung, konventionelle Stabilität schaffen, was bei zurückgehender Bedeutung der atomaren Waffen immer bedeutender wird, das, meine Damen und Herren, ist ein großes Ziel zusätzlicher Stabilität zwischen West und Ost, und hier haben gerade die europäischen Partner Frankreich und Deutschland entscheidende Beiträge geleistet.
    Die Bundesregierung wird, angetreten unter dem Ziel, die Schöpfung zu bewahren und die Zukunft zu gestalten, hier ihre Verantwortung erkennen, ihre Verantwortung auch für neue kooperative Lösungen im Sicherheitsbereich und in allen Bereichen der Zusammenarbeit. Herr Kollege Dregger und Herr Kol-



    Bundesminister Genscher
    lege Rühe haben das hier erwähnt. Denn wir haben — ich wiederhole es — als Volk keine andere Chance, als den Weg der guten Nachbarschaft und der Einbettung unserer nationalen Interessen in die Interessen des geteilten Europa zu gehen. Deshalb möchte ich den GRÜNEN sagen: Wer die Einheit der deutschen Nation aufgibt, gibt auch die Einheit Europas auf.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind am Ende der Aussprache über die Regierungserklärung und damit auch am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. April 1987, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.