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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Freitag, den 20. März 1987 Inhalt: Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Dregger CDU/CSU 253 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 260 B Mischnick FDP 264 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 269 B Rühe CDU/CSU 271 B Dr. Ehmke (Bonn) SPD 275 A Diepgen, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 284 A Dr. Mechtersheimer GRÜNE 286 C Genscher, Bundesminister AA 289 C Präsident Dr. Jenninger 257 B Nächste Sitzung 294 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 295* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. März 1987 253 6. Sitzung Bonn, den 20. März 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amling 20. 3. Frau Beck-Oberdorf 20. 3. Clemens 20. 3. Cronenberg (Arnsberg) 20. 3. Frau Eid 20. 3. Eylmann 20. 3. Francke (Hamburg) 20. 3. Dr. Göhner 20. 3. Dr. Götz 20. 3. Gröbl 20. 3. Grünbeck 20. 3. Dr. Grünewald 20. 3. Grunenberg 20. 3. Jungmann 20. 3. Klein (München) 20. 3. Kolb 20. 3. Dr. Graf Lambsdorff 20. 3. Lenzer * 20. 3. Frau Dr. Martiny-Glotz 20. 3. Frau Odendahl 20. 3. Frau Pack 20. 3. Porzner 20. 3. Reuschenbach 20. 3. Dr. Rumpf * 20. 3. Seehofer 20. 3. Dr. Solms 20. 3. Spilker 20. 3. Frau Trenz 20. 3. Vosen 20. 3. Dr. Wallmann 20. 3. Weiermann 20. 3. Dr. Wieczorek 20. 3. Wissmann 20. 3. Würtz 20. 3. Zumkley 20. 3. Frau Zutt 20. 3. Zywietz 20. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nein.
    Dresden — ich erinnere an den Zweiten Weltkrieg — war hinsichtlich der Verluste nicht weniger schlimm als Hiroschima. Inzwischen haben die sogenannten konventionellen Waffen beträchtlich an Zerstörungskraft zugenommen. Daß der Westen sich mit atomarer Teilabrüstung einverstanden erklärt hat, bevor im konventionellen Bereich Fortschritte erzielt oder auch nur in Aussicht sind, ist ein Risiko, das er mit der isolierten Null-Lösung eingeht. Die NATO-Militärs, insbesondere General Rogers, aber auch amerikanische Politiker, die mit der Sicherheitslage Europas vertraut sind — es gibt ja solche; ich nenne Henry
    Kissinger und Sam Nunn — , haben darauf hingewiesen. Wie auch immer man dieses Risiko bewertet und gegenüber der Chance abwägt, die der Abrüstungsprozeß von Reykjavik hoffentlich eröffnet — es ist ja immer in der Politik eine Frage des Abwägens —, steht jedenfalls fest, daß die atomare Komponente der europäischen Verteidigung nicht verzichtbar ist, solange die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in Europa anhält. Das ist allgemeine Bündnismeinung, die von keinem unserer Partner in Zweifel gestellt ist.
    Ein Zweites kommt hinzu: Je mehr amerikanische Systeme von Europa abgezogen werden, um so wichtiger werden die französischen und britischen Systeme auch für die nicht atomar bewaffneten europäischen NATO-Partner. Wie die Abschreckungswirkung dieser französischen und britischen Systeme auch für die Partner wirksam gemacht werden kann, die nicht über Atomwaffen verfügen, ist eine Frage, die erörtert werden muß. Grundsätzlich meine ich: Unsere Aufgabe als Europäer kann es nicht sein, eine Entwicklung zu bremsen, die die Weltmächte mit der Reduzierung ihrer Waffensysteme in Europa eingeleitet haben.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Wir Europäer müssen diese Entwicklung mit dem Ziel der Risikobegrenzung begleiten, d. h. sie im Interesse Europas beeinflussen. Das geht nur, wenn wir Europäer ein gemeinsames Konzept haben und es gemeinsam vertreten.
    Ich wiederhole meine Forderung aus der ersten Bundestagsdebatte nach Reykjavik: Bonn, Paris und London sollten für die Abrüstungsgespräche der Weltmächte eine gemeinsame europäische Position erarbeiten, selbstverständlich in Abstimmung mit unseren anderen NATO-Partnern.
    Vorgestern habe ich in der „Welt" gelesen, der Präsident der EG-Kommission, Delors, habe im ständigen NATO-Rat in Brüssel durch seinen Vorschlag Kopfschütteln erregt, ein Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs mit dem Ziel einzuberufen, eine gemeinsame europäische Antwort auf die Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion zu formulieren. Wenn dieser Bericht zutreffen sollte, kann ich nur sagen: Meine Sympathie für Delors und nicht für die Bedenkenträger!

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

    Im Kreml sitzt kein alter Mann mehr, sondern ein Generalsekretär voller Vitalität und Beweglichkeit. Jetzt müssen auch die Europäer beweglicher und entschlußfreudiger auf der Grundlage gemeinsamer Positionen werden, die laufend miteinander abgestimmt und fortentwickelt werden. Es genügt nicht mehr, daß die Europäer nur reagieren und die Weltmächte untertänigst bitten, man möge sie doch konsultieren.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Haben Sie das dem Kanzler schon gesagt?)

    Wir müssen selbst aktiv sein, vorausschauend und
    konstruktiv. Dafür gibt es Hindernisse. — Herr



    Dr. Dregger
    Ehmke, Sie sollten wirklich keine unqualifizierten Zwischenrufe machen; das möchte ich Ihnen mal sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Jawohl, Herr Oberlehrer!)

    Ich weiß — auch das sollten Sie wissen —, Frankreich hat bisher mehr Wert darauf gelegt, in seiner nationalen Entschlußfreiheit nicht beeinträchtigt, als an den Gesprächen der Weltmächte beteiligt zu werden. Dafür gab es sogar einleuchtende Gründe. Aber in der vor uns liegenden Phase möglicherweise schneller Positionsveränderungen der Weltmächte verlieren diese Gründe meines Erachtens an Gewicht. In dieser Phase müssen wir Europäer darauf drängen, daß nicht mehr nur über Europa, sondern auch mit Europa verhandelt wird.
    Der französische Premierminister Chirac hat am 2. Dezember vor der Westeuropäischen Union die Erarbeitung einer europäischen Sicherheitscharta gefordert und dazu bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Wir sollten diese Gedanken aufnehmen — ich weiß, daß das der Fall ist — , aber wir sollten sie auch fortentwickeln. Warum sollte eine von den Europäern gemeinsam formulierte europäische Sicherheitspolitik nicht von einem der europäischen Staats- und Regierungschefs am Verhandlungstisch der Weltmächte vertreten werden?
    Skepsis und Hoffnung, meine Damen und Herren, Herr Außenminister, müssen sich in dieser Zeit des Wandels die Waage halten. Um ein Element der Hoffnung hinzuzufügen, möchte ich sagen: Wenn Gorbatschow keine offensiven Ziele verfolgt, was auf absehbare Zeit wahrscheinlich ist, wenn er den Entwicklungsrückstand seines Landes im zivilen Bereich aufholen will, was er wohl muß, wenn er die Weltmachtrolle seines Landes auf Dauer bewahren will, was auch von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seines Landes abhängt, dann muß auch die Sowjetunion, wenn sie sich rational verhält, an einer Verminderung der Rüstungslasten interessiert sein, auch im konventionellen Bereich. Meine Damen und Herren, ich gebe zu, das sind vier „Wenns" ; aber sie nicht zu nennen würde bedeuten, eine unrealistische Aussage zu machen. Aber trotzdem ist diese Aussage nicht ohne Hoffnung.
    Die langfristige Perspektive, auf die ich mich jetzt konzentrieren möchte, die über den Tag hinausweist, für die Zukunft Europas muß über die Sicherheitspolitik hinwegführen. Sicherheitspolitik kann Sicherheit schaffen, was sicherlich viel ist, aber sie kann die schlimme Lage Europas nicht verbessern. Die Alternative zum geteilten Europa von heute ist ein wiedervereinigtes Europa, das zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten wird. Deutschland, auch ein wiedervereinigtes Deutschland, allein wäre zu schwach, eine solche Aufgabe zu erfüllen. Aus dem europäischen Mächtesystem ist inzwischen ein Weltmächtesystem geworden, in dem außereuropäische Mächte die Hauptrolle spielen. In diesem Weltmächtesystem kann nicht ein einzelnes europäisches Land, sondern nur Europa als Ganzes Mitte sein.
    Was bedeutet diese Zukunftsperspektive für die Sowjetunion, auf die es vor allem ankommt? Ein in Nationalstaaten gegliedertes vereinigtes Europa, das ja nur auf föderaler Grundlage, nicht als Einheitsstaat entstehen kann, könnte der Sowjetunion technisch und ökonomisch ein wertvoller Partner sein. Dieses Europa wäre zwar defensivfähig, aber es wäre nicht offensivfähig; denn als föderales Gebilde wäre ja das Ganze auf die Zustimmung der Teile angewiesen. Es wäre kein zentralistischer Militärblock, der für die Sowjetunion zur Gefahr werden könnte. Ein solches Europa könnte es der Sowjetunion erleichtern, ihre innere Entwicklung voranzutreiben und eine defensive Weltmachtrolle wahrzunehmen.
    Diese Überlegungen führen zu drei Schlußfolgerungen für die deutsche und europäische Politik:
    Erstens. Es dient nicht dem Frieden, die Einheit Deutschlands und Europas, die auch ihren Niederschlag in unserer Verfassung gefunden hat, aufzugeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Fortsetzung der Teilung bedeutet Fortsetzung der militärischen Konfrontation der Weltmächte mitten in Europa.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Abrüstung würde diese Konfrontation mildern, aber nicht beenden.
    Fortsetzung der Teilung bedeutet zudem die Verletzung der elementaren Interessen der Völker Mitteleuropas, insbesondere Ostmitteleuropas, die von der Teilung mehr betroffen werden als die Völker Ostoder Westeuropas.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Zweitens. Die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas rückt die Weltmächte auseinander, nicht nur militärisch, sondern auch politisch. Ein wiedervereinigtes Europa, das ein wiedervereinigtes Deutschland einschließt, wäre für alle europäischen Staaten akzeptabel. Die Einheit Deutschlands und die Einheit Europas schließen sich nicht aus, sie bedingen einander. Das hatte Adenauer schon erkannt; das ist die große Idee, die er damals hatte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dritte Schlußfolgerung: Die Europäische Gemeinschaft muß mehr zustande bringen als den Binnenmarkt und die Währungsunion, so wichtig diese sind. Die Europäische Gemeinschaft muß auch sicherheitspolitisch zur Einheit und auf diese Weise zur politischen Union werden, um dann die Einheit ganz Europas als Mitte zwischen den Weltmächten anstreben zu können.
    Meine Damen und Herren, das ist eine Perspektive, nicht mehr und nicht weniger. Sind Perspektiven in der Deutschland-, Außen- und Sicherheitspolitik entbehrlich?

    (Frau Unruh [GRÜNE]: Hüten Sie Ihre Zunge?)

    Ich glaube nicht. In der Politik ist es gefährlich, ohne Perspektive zu sein und auf die Initiative der anderen immer nur reagieren zu können. Ohne Zukunftsper-



    Dr. Dregger
    spektive werden wir unsere Jugend für ein Europa verlieren, von dem diese keine Vorstellung mehr besitzt, für ein Europa, das sich öffnet, das die Teilungsgrenze überwindet, das die Einheit in Vielfalt und in Freiheit verwirklicht. Die Zeit für die Verwirklichung dieser Perspektive mag noch nicht reif sein, obwohl sie vielleicht näher ist, als mancher denkt. Aber diese Perspektive wird an Kraft gewinnen, je mehr sich die Völker Europas ihrer historischen und kulturellen Gemeinsamkeit über die Teilungsgrenze hinweg bewußt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Diese Teilungsgrenze, die eine erstarrte Kriegsordnung darstellt, ist keine historische und keine kulturelle Grenze. Auch Polen — das ist auch die Meinung der Kommunisten — gehört zu Mitteleuropa und zum abendländischen Europa. In meinem Gespräch mit dem Vizemarschall des polnischen Sejm, Rakowski, hat er dies mit Nachdruck unterstrichen.
    Meine Damen und Herren, diese Perspektive wird daher an Kraft gewinnen, je mehr sich die Völker Europas ihrer historischen und kulturellen Gemeinsamkeit bewußt werden und den jetzigen Zustand der Teilung als unwürdig empfinden; und das ist er doch.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die deutsche Frage hatte immer und hat auch heute eine europäische Dimension.

    (Zuruf von der SPD: Aber Sie haben keine Antwort!)

    Darin stimme ich mit dem Kollegen Glotz überein. Aber anders als der Bundesgeschäftsführer der SPD sagen wir nicht: Europa statt Deutschland; wir sagen: Europa und Deutschland,

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sagt der doch gar nicht!)

    Deutschland in Europa, mit Europa und für Europa. Die Interessen Deutschlands und Europas stimmen heute wieder überein, wie in langen Perioden unserer gemeinsamen Geschichte. Es hieße die schlimmen Folgen der zwölf braunen Jahre nicht zu überwinden, sondern sie zu verewigen, wenn wir Deutschen jetzt für uns und damit unvermeidlich auch für Europa aufgeben wollten, was zu den unveräußerlichen Rechten der Menschen und der Völker gehört, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Daran halten wir für das deutsche Volk und für alle Völker Europas und der Welt fest.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Herta Däubler-Gmelin


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Dregger, Sie sind sich auch heute wieder treu geblieben.

    (Demonstrativer Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das spricht für den Mann!)

    Sie sind sich heute treu geblieben;

    (Dr. Vogel [SPD]: Verstehen Sie das als Lob?)

    Sie wurden auch heute nicht müde, immer wieder und in schwärzesten Farben auszumalen, wie verdammenswert jede politische Gruppierung ist, die es wagt, sich außerhalb der CDU/CSU zu betätigen. Das tun Sie immer, in jeder Ihrer Reden hier im Bundestag, Herr Kollege Dregger, und das wird durch ständige Wiederholungen weder richtiger noch glaubhafter; es zeigt höchstens Ihre Realitätsferne, die auch von Rede zu Rede zunimmt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Aber ich verstehe, warum Sie, Herr Kollege Dregger, das heute tun: Es paßt Ihnen zur Zeit besonders gut ins Konzept; denn es lenkt davon ab, daß Sie mit Ihren Koalitionsvereinbarungen, mit Ihrer Regierungserklärung und mit Ihrer Ministerliste ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind, und darüber, meine Damen und Herren, wollen wir jetzt wieder reden.
    „Mausgrau" — so wurden Ihre Koalitionsvereinbarungen bewertet. Keineswegs nur die Presse hat kritisiert, sondern es waren auch Kollegen aus Ihren eigenen Reihen. Was sagte der Kollege Grünbeck? „Wachsweich", so hat er Ihre Koalitionsvereinbarungen genannt. Er hat hinzugefügt, diese böten „in weitesten Teilen keinerlei Perspektive für eine Regierungsarbeit in den nächsten vier Jahren".

    (Dr. Vogel [SPD]: Bravo, Grünbeck!) Recht hat der Mann, Herr Dr. Dregger!


    (Beifall bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    Die Regierungserklärung von Kanzler Kohl charakterisieren die Zeitungen als „vertane Chance", obwohl sie ironisierend bestätigen, daß er eigentlich alles erwähnt hat, was für irgendwen von irgendeinem Belang sein könnte.
    Und Ihre Minister? Dazu heißt es: mehr Minister, viel mehr Staatssekretäre, mehr Mittelmaß. Das ist das Urteil.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Mehr Frauen!)

    Ihre Rede, Herr Kollege Dr. Dregger, war nicht nur in einigen Teilen komisch. Sie zeigt zugleich — und das ist das Erschreckende — , wie hilflos Konservative den wichtigen Fragen unserer Zeit gegenüberstehen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Vor einigen Tagen haben mir Schüler, die hier im Bundestag zu Gast waren, gesagt, was ihrer Meinung nach von einem guten Regierungsprogramm erwartet werden soll. Sie haben gesagt, das müsse so etwas sein wie ein Fahrplan für die Regierungspolitik, nicht ganz so dick und detailliert wie der von der Deutschen Bundesbahn, aber doch wenigstens so deutlich, daß man daraus erkennen könne, in welche Richtung die wichtigen Züge fahren.



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    Ich finde, das ist eine gute Erklärung. Nur, Ihr Regierungsprogramm erfüllt diese Erwartungen keineswegs. Sie geben unklare Richtungssignale. Und schon heute gibt es — sozusagen als Bestätigung dieser Feststellung — die ersten Stimmen aus Ihren Reihen mit ihren anderen Auffassungen und unterschiedlichen Interpretationen, die das eine oder andere zurechtrücken wollen. „Hirsch warnt die CSU vor neuen Forderungen" heißt es da, und natürlich geben die CSU- oder CDU-Mitglieder das in gleicher Weise zurück.
    Die Regierungserklärung und Ihr Programm setzen auch die Prioritäten, also — um in meinem Bild zu bleiben — die Vorfahrtsignale, falsch.
    Nehmen wir den Bereich der Rechts- und Innenpolitik. Ihre konkreten Vereinbarungen sind doch nichts anderes als eine ziemlich willkürliche Ansammlung von Regelungen. Sie sind lediglich geeignet, Ihre ideologisierte rechte Randgruppenklientel zu befriedigen. Meine Damen und Herren, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß Sie mit der Erhöhung von irgendwelchen Strafrahmen, die sowieso schon hoch genug sind, die Sorgen und die Probleme der Bürger auf diesem Gebiet auch nur entfernt ansprechen!

    (Beifall bei der SPD)

    Die fragen doch nach etwas ganz anderem. Die fragen danach, warum unsere Gesetze immer komplizierter und undurchschaubarer werden und was Sie dagegen tun. Fehlanzeige. Sie ärgern sich, daß es immer länger dauert und immer teurer wird, bis sie zu ihrem Recht kommen. Auch dazu sagen Sie nichts. Und sie fordern immer lauter, daß endlich Schluß sein muß mit der Ungerechtigkeit, die wir beispielsweise bei Wirtschafts- und Umweltstraftaten erleben, daß nämlich der kleine Sünder sofort belangt wird, während Großverschmutzer des Rheins, wenn überhaupt, nur mit Hängen und Würgen vor den Kadi geschleppt, geschweige denn schnell verurteilt werden können.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wie gesagt: Absichtserklärungen in Hülle und Fülle, aber wo bleiben dazu eigentlich Ihre konkreten Verabredungen? Wir haben unsere Vorstellungen auf den Tisch gelegt, und wir werden sie in den nächsten vier Jahren anmahnen.
    Wir werden Sie auch beim Datenschutz nicht in Ruhe lassen, meine Damen und Herren. Ich bedaure es Herr Dr. Dregger, gerade wegen der Probleme mit der Volkszählung und mit dem Mißtrauen in der Bevölkerung, das die GRÜNEN ausnutzen, daß nicht wenigstens Sie heute die Gelegenheit ergriffen haben, in deutlichen Worten das gestörte Verhältnis Ihrer Regierung zum Datenschutz endlich in Ordnung zu bringen.

    (Beifall bei der SPD)

    Die falschen und rechtsstaatlich bedenklichen Boykottaufrufe abzulehnen reicht nicht aus. Bußgelder und Repressalien anderer Art anzukündigen reicht auch nicht. Erfolg kann die Volkszählung vom 25. Mai nur haben, wenn die Probleme, die in einigen Bundesländern noch bestehen, in Ordnung gebracht werden und wenn auch Ihrer Bundesregierung endlich klar wird, daß der Datenschutz den überragenden Rang einnehmen muß, den er im Zeitalter der Computer und des gläsernen Menschen braucht. Sie haben diese Chance verstreichen lassen.
    Noch eines: Gerade Sie, Herr Dr. Dregger, sprechen von Menschenrechten. Wer zwar mit dem Zeigefinger auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern hinweist — und das vielfach zu Recht —, aber 2,5 Millionen Arbeitslose in unserem eigenen Land in diesem Zusammenhang nicht einmal der Erwähnung für wert hält, der hat nichts begriffen

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU)

    und, meine Damen und Herren, der ist auch nicht glaubwürdig. Wer den Spitzensteuersatz für Superverdiener senkt, aber so halbherzig und wenig entschlossen wie Sie gegen Arbeitslosigkeit vorgeht, wer Hilfen für Kohle und Stahl nicht oder kaum vorsieht und den vielen tausend Menschen — jetzt haben wir gerade von der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg gehört — , die dort von Arbeitslosigkeit bedroht sind, damit jede konkrete Zukunft verweigert, der, Herr Dr. Dregger, läßt Regierungsmacht zum Mittel der Befriedigung von Interessentenwünschen und zum Instrument der Machterhaltung verkommen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie reden viel von Zukunft. Das war schon im Wahlkampf eines der am meisten mißbrauchten Worte Ihrer Kampagne. Ihr Regierungsprogramm setzt diese schlechte Tradition fort. Sie müssen aber doch auch bemerken, daß die Menschen heute wacher sind als früher. Sie wissen mehr. Sie lassen sich nicht mehr so leicht ein X für ein U vormachen. Sie wollen heute mitbestimmen. Auch Sie müssen doch erkennen, daß das Demokratieverständnis endgültig passé ist, das Max Weber in seinem Bericht über sein berühmtes Gespräch mit General Ludendorff am Ende des Ersten Weltkrieges zitiert. Ludendorff soll, so Weber, damals gesagt haben:
    In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Und der sagt dann: Haltet den Mund und pariert!
    Das funktioniert heute nicht mehr, auch dann nicht, wenn einige Konservative das immer noch nicht bemerkt haben. Unsere Nachbarn, denen geht es so wie uns. Sie lassen sich durch Fachleute, etwa durch Ingenieure, gerne erklären, wie eine Maschine funktioniert. Sie können und wollen sich aber dann selber ein Urteil darüber bilden, ob sie diese Maschine wollen und ob sie sie brauchen.
    Meine Damen und Herren, die Politik kommt bei den Bürgern erst dann wieder aus ihrer Glaubwürdigkeitslücke heraus, wenn die Fragen, die sie bewegen und berühren, auch in die Regierungsarbeit einfließen. Das aber fehlt bei Ihnen.
    Lassen Sie mich dazu einige Worte sagen:
    Maschinen ersetzen mehr und mehr menschliche Arbeitskraft. Aber wo sind Ihre konkreten Pläne für



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    mehr Mitbestimmung und Arbeitsplatzsicherung? Wir mahnen sie an.

    (Beifall bei der SPD)

    Vom Umweltschutz reden auch Sie immer häufiger. Aber wie wollen Sie denn Umweltschutz gegen mächtige Interessenlobbies durchsetzen?

    (Rühe [CDU/CSU]: Wir haben im Unterschied zu Ihnen etwas getan!)

    Ihr Regierungsprogramm enthält doch bestenfalls Absichtserklärungen, sonst nichts.
    Wie soll Ihre Politik konkret mithelfen, den immer schärfer werdenden Konflikt zwischen den „schrecklich Hungrigen und den Übersatten" in unserer Welt
    — um ein Wort von Willy Brandt aufzugreifen — zugunsten der Hungrigen aufzulösen oder wenigstens abzumildern? Hier haben Sie doch nichts konkret vereinbart, da ist bei Ihnen doch Fehlanzeige, Herr Dr. Dregger. Dabei wissen wir doch alle, daß Wege gefunden werden müssen, die hier weiterhelfen. Auch Bundespräsident von Weizsäcker hat bei der Übergabe der Ernennungsurkunden an die Mitglieder des Kabinetts ausdrücklich darauf hingewiesen.
    Meine Damen und Herren, Schritte in diese Richtung wären ein Beitrag zu einer Politik der Zukunftssicherung.

    (Beifall bei der SPD)

    Das wäre eine Politik für das Leben, wie Albert Schweitzer sie schon vor Jahrzehnten eingefordert hat. Wir mahnen sie heute an.
    Bürokratisierungsmaßnahmen, wie Sie sie erst mit Ihrem Beratungsgesetz zu § 218 vorhaben, mit dem Sie doch bloß, wie die „Frankfurter Rundschau" zu Recht feststellt, Frauen in Schwangerschaftskonflikten unter zusätzlichen psychischen Druck setzen wollen, erfüllen diese Anforderungen nicht, sie verfälschen auch Albert Schweitzers Forderung.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Unsere Utopie, unsere Vorstellung von einer sozialen Ordnung ohne Ausbeutung, ohne Erniedrigung, ohne Not für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der die freie Entwicklung eines und einer jeden die Bedingung ist für die freie Entwicklung aller
    — so Willy Brandt vor drei Tagen — und von einem Deutschland, Herr Kollege Dregger, mit einem politisch neuen und sozialen Inhalt, in dem die Menschen auch wirklich auf allen Gebieten über ihr eigenes Schicksal mitbestimmen können, so sagte das Kurt Schumacher vor 25 Jahren

    (Rühe [CDU/CSU]: Halten Sie sich daran!)

    — das tun wir, keine Sorge — , unsere Vorstellung von der Welt, in der wir leben wollen, fordert uns immer wieder heraus, unsere Vorstellungen und unsere Antworten auf neue Herausforderungen zu präzisieren. Deswegen tun wir das auch. Und auch dann, wenn es nicht immer leicht ist und Auseinandersetzungen hervorruft, die Sie, Herr Dregger, dann zu hämischen Bewertungen veranlassen. Aber, Herr Dr. Dregger, nicht nur wir sind gefordert, sondern wir mahnen derartige Antworten, d. h. eine Politik der Zukunftssicherung auch bei Ihnen an, und das erfordert klare Aussagen, auch zur Technik.
    Demokratie, Wissenschaft und Technik passen doch nur so weit zusammen, wie Wissenschaft und Technik auch in politische Verantwortung eingebunden sind.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Dr. Dregger, der Verweis auf Fachleute, der Verweis auf Spezialkommissionen, wie Ihre Regierungserklärung sie etwa zum Problem der Gentechnik enthält, die reichen heute nicht mehr aus. Sie müssen sich entschließen, z. B. „nein" zu sagen zur künstlichen Befruchtung im Reagenzglas,

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    „nein" zu sagen zur Leihmutterschaft, egal, in welcher Ausprägung. Sie müssen „nein" sagen, und zwar endgültig und eindeutig, zu Experimenten mit Embryonen, auch wenn das mächtige Interessengruppierungen unter den verschiedensten Motivationen nicht wollen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wenn Sie das tun, dann können wir hier im Parlament gemeinsam den besten Weg und auch den am schnellsten durchzusetzenden Weg in diese Richtung suchen. Wir sind dazu bereit.
    Herr Dr. Dregger, Zukunftssicherung verlangt heute auch ein klares „Nein" zur Plutoniumwirtschaft und ein ebenso klares „Ja" zur schnellstmöglichen Ablösung der Atomenergie, weil diese einfach nicht beherrschbar ist. Das sehen wir doch auch in diesen Tagen wieder, man muß es nur zur Kenntnis nehmen wollen: Die Entscheidung für die Plutoniumtechnik, also die Entscheidung für Alkem, Kalkar und Wakkersdorf würde die Gefahren und Unsicherheiten dieser Technik doch den kommenden 5 000 Generationen — ich wiederhole: mindestens 5 000 Generationen — auflasten. Diese Entscheidung würde gleichzeitig, wenn Sie sie heute träfen, schon heute allen diesen zukünftigen Generationen endgültig die Möglichkeit nehmen, Entscheidungen über ihre Energieversorgung und viele andere Fragen selber zu treffen. Ist das eigentlich Ihr Verständnis von Demokratie, Herr Kollege Dregger, meine Damen und Herren? Unseres ist es nicht.
    Gerade in diesen Tagen hat die zuständige US-Kontrollbehörde Alarm geschlagen, daß dort Plutoniumfabriken Grundwasser und Boden so verseucht haben, daß — wie sie sagen — das vielleicht nie wieder zu korrigieren sein wird und möglicherweise Hunderte von Jahren behördlicher Kontrolle und Überwachung erfordert. Wollen Sie hier eigentlich so etwas auch verantworten? Das können Sie doch gar nicht. Sie können das doch weder planen noch kontrollieren noch sicherstellen, obwohl die Zeit von 150 Jahren, so lange sie ist, in den Zusammenhängen, in denen wir reden, nur eine sehr, sehr kurz bemessene Frist darstellt. Sie können das nicht verantworten.

    (Beifall bei der SPD)




    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    Zukunftssicherung, demokratische Verantwortung: Wenn Sie wirklich wollten, was Sie sagen, dann hätte Ihre Regierungserklärung Angebote enthalten müssen; Angebote an Wissenschaft und Technik, an Bürger und Parteien. Und sie hätte die Bereitschaft enthalten müssen, im Bundestag gemeinsam mit uns nach Wegen aus dieser gefährlichen Technik zu suchen und diese Wege zu beschließen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir bedauern, daß das nicht der Fall ist.
    Lassen Sie mich noch einen Punkt anschneiden. Sie, Herr Kollege Dr. Dregger, zählen sich zu dem konservativen Flügel der Regierungsmehrheit. Wie sehr Auffassungen in Ihrem Lager auseinandergehen, haben die Verhandlungen gezeigt. Sie, Herr Dr. Dregger, gehören sicher nicht — nicht, daß Sie mich da mißverstehen — zu den Opportunisten, die lediglich nach den Stimmen aus dem rechtsradikalen Lager schielen.

    (Seiters [CDU/CSU]: Da gibt es bei Ihnen genügend!)

    Von denen gibt es sehr viele, Herr Seiters. Und wenn Sie sich schon zu Wort melden, dann spreche ich Sie ganz besonders an. Sie treiben als schreckliche Vereinfacher mit Hilfe des Themas AIDS und dem skandalösen Umgang mit Minderheiten, Ausländern und Asylproblemen, den Rechtsradikalen die Stimmen geradezu zu. Auch Sie sollten erkennen, daß das eine Gefahr ist.
    Aber daneben steht auch fest: Die Erklärungen, die Forderungen, die Feststellungen der Konservativen reichen heute einfach nicht mehr aus, Herr Dr. Dregger. Das zeigt sich überall, in der Wirtschaftspolitik besonders deutlich. Die Rezepte der Konservativen sind überall und sichtbar gescheitert: in den USA, in Frankreich und in England. Wollen Sie es mit Ihrer geradezu besessenen Marktideologie eigentlich wirklich darauf ankommen lassen

    (Zuruf des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

    — hören Sie zu, Herr Dr. Dregger — , daß auch bei uns in der Bundesrepublik durch „Industrieruinen ganze Landstriche veröden, sozusagen als Museumsstücke einer besseren Vergangenheit", wie Dieter Wild in seinem gerade für Konservative lesenswerten Essay letzte Woche im „Spiegel" mit Blick auf England bissig festgestellt hat? Wir wollen das nicht. Deswegen bestehen wir weiterhin auf der Änderung der von Ihnen vorgesehenen Wirtschaftspolitik.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie argumentieren unermüdlich, immer wieder mit der Autorität des Staates, die gestärkt werden muß. Kollege Eyrich aus Baden-Württemberg weist mit Recht darauf hin, daß eine Gesellschaft gemeinsame Werte braucht und daß jeder wissen muß, was Recht und Unrecht ist; das liegt im Sinne des Grundgesetzes. Dem stimmen wir ausdrücklich zu.
    Aber merken Sie eigentlich nicht, wie hohl das klingt, wenn Ihre Klagen und Beanstandungen zwar in Richtung auf Blockierer, etwa in Mutlangen, ausgesprochen werden, keineswegs aber in Richtung auf den bayerischen Ministerpräsidenten, der ja bekanntlich den Brenner-Blockierern ermutigend auf die Schulter klopfte? Merken Sie eigentlich nicht, wie hohl diese konservative Klage über die Verluderung des Rechtsbewußtseins wirken muß, wenn zwar der Volkszählungsboykott — und das zu Recht — angeprangert wird, Sie aber keineswegs davor zurückschrecken — ich habe Ihre Rede von diesem Pult noch im Ohr, Herr Dr. Dregger — , gegen jeden demokratischen Stil und auch gegen verfassungsrechtliche Gepflogenheiten eine Amnestie für Steuerhinterzieher zu fordern, als es um Parteispenden ging, nachdem die Gerichtsverfahren gerade erst in Gang gekommen waren?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, welche Auswirkungen es auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung haben muß, wenn sofort nach der Verurteilung eines geschätzten Kollegen zu einer Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung — und, Herr Kollege Engelhard, in diesem Fall unwidersprochen durch den Justizminister — darüber diskutiert wird, wer ihm diese Strafe zahlt?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Dem neuen Vorsitzenden des Richterbundes, Herrn Pelz, ist das sehr wohl aufgefallen. Er betonte zu Recht:
    „Ich finde es wirklich nicht gut, wenn Vertreter einer demokratischen Partei in aller Öffentlichkeit ein Verhalten ankündigen, das auf eine strafbare Handlung hinauslaufen könnte."
    Und recht hat er.
    Wie gesagt: Rechtsbewußtsein hochhalten, das heißt, daß dies gegenüber Boykottaufrufen der GRÜNEN genauso gelten muß wie gegenüber Verhalten anderer Parteien, auch gegenüber Ankündigungen der FDP. Alles andere ist ein taktischer Umgang mit dem Recht, den wir ablehnen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein weiterer Punkt: Es führt nicht nur zu einer unerträglichen Verfälschung unserer Geschichte, sondern auch zu einer Verluderung des Rechtsbewußtseins sondergleichen, wenn die deutsche historische Verantwortung für den Mord an Millionen Menschen jüdischer Herkunft ihrer Unvergleichlichkeit beraubt, wenn sie herabgestuft oder verwischt werden soll, wenn — und Willy Brandt führte das vor einigen Tagen aus — Gewaltmaßnahmen gegen diese Opfer mit dem Schein der Legalität umkleidet werden sollen. Wissen Sie, Herr Dr. Dregger, ich denke, in diesem Punkt sollten alle Parteien einig sein. Deutsche Politik der Gegenwart darf nicht den Eindruck erwekken, als akzeptiere sie solche Thesen oder Entwicklungen. Und sie werden in dem derzeit laufenden Historikerstreit geäußert.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich hätte klarstellende Worte dazu gerne in der Regierungserklärung des Kanzlers gehört. Herr Dr. Dregger, ich hätte es auch begrüßt und von Ihnen eigentlich auch erwartet — vielleicht bin ich naiv —,



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    wenn Sie das hier deutlich gemacht hätten. Beides vermissen wir.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist eine Beschönigung, wenn Sie das „naiv" nennen!)

    Daß das so ist, Herr Dregger, das hat — auf Ihre Zwischenrufe muß ich das leider feststellen — wohl seinen Grund. Bedauerlich. Damit wäre auch erklärt, warum ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang fehlt. Das ist vor diesem Hintergrund besonders peinlich. Wiedergutmachungsleistungen hatte die Bundesregierung den letzten noch lebenden Opfern der Nazis versprochen, den Sinti, den Roma und den anderen Gruppen, den Zwangssterilisierten, die so schwer gelitten haben. Wo bleibt denn eigentlich die Einlösung dieser Versprechen, Herr Dregger?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ist es Zufall, daß Verschleppungsmanöver bekanntwerden, daß Sie sich dazu aber nicht äußern? Herr Dr. Dregger, hier gibt es unerträgliche Verzögerungen. Ich denke, das können auch Sie sich nicht leisten. Das geht nicht. Die Opfer können auch nicht mehr warten. Ich meine, jemand aus den Reihen der Bundesregierung oder den Reihen der CDU/CSU/FDP-
    Mehrheitskoalition sollte heute die Gelegenheit ergreifen, dazu noch klärende Worte zu sagen.
    Lassen Sie mich ein Wort vom Anfang aufgreifen: Ihre Rede, Herr Kollege Dregger, hat in eindrucksvoller Weise unterstrichen, wie hilflos Sie den Anforderungen und Aufgaben unserer Zeit gegenüberstehen. „Weiter so" reicht einfach nicht mehr aus. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie scheitern. Wir werden Sie in den nächsten Jahren immer wieder auf Ihre Verantwortung hinweisen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD — Seiters [CDU/CSU]: Mit Willy Brandt?)