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ID1100402000

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    Plenarprotokoll 11/4 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 4. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 18. März 1987 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Bahr 51 A Einspruch des Abg. Stratmann gegen den Ausschluß am 12. März 1987 51 A Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl, Bundeskanzler 51 B Beschlußfassung über das Verfahren für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen — Drucksachen 11/53, 11/55 — Kleinert (Marburg) GRÜNE (zur GO) 73 C Dr. Bötsch CDU/CSU (zur GO) 74 C Aussprache zur Regierungserklärung Dr. Vogel SPD 74 B Dr. Waigel CDU/CSU 88 C Frau Schoppe GRÜNE 98 D Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi 102B Roth SPD 111 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 115B Ebermann GRÜNE 117 D Dr. Biedenkopf CDU/CSU 120C Dr. Mitzscherling SPD 124 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 127 D Sellin GRÜNE 131 B Spilker CDU/CSU 132 D Vizepräsident Frau Renger 120 C Nächste Sitzung 134 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 135 *A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 135 * C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März .1987 51 4. Sitzung Bonn, den 18. März 1987 Beginn: 10.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amling 20. 3. Böhm (Melsungen)* 18. 3. Egert 19. 3. Frau Eid 20. 3. Gröbl 18. 3. Grünbeck 20. 3. Grunenberg 20. 3. Kittelmann ** 18. 3. Klein (München) 20. 3. Kolb 20. 3. Lemmrich ** 18. 3. Lenzer * 20. 3. Linsmeier 18. 3. Frau Dr. Martiny-Glotz 20. 3. Reddemann ** 18. 3. Dr. Scheer ** 18. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Seehofer 20. 3. Strauß 20. 3. Frau Trenz 20. 3. Dr. Wieczorek 20. 3. Frau Zutt 20. 3. Anlage 2 Amtliche Mitteilung Der Präsident des Bundesrates hat mit Schreiben vom 13. März 1987 mitgeteilt, daß der Bundesrat in seiner Sitzung am 13. März 1987 der vom Deutschen Bundestag am 18. Februar 1987 beschlossenen Weitergeltung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß nach Artikel 53 a des Grundgesetzes Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes zugestimmt hat.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Waltraud Schoppe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Unkenrufe von vor vier Jahren, in denen Sie uns ja prophezeit haben, wir seien nur eine Modeerscheinung, die bald wieder verschwunden sein werde, haben wir uns hier doch stattlich vermehrt. Gucken Sie sich das an: von 28 auf 44. Die drei Millionen Wähler, die uns gewählt haben, sind nicht gerade diejenigen gewesen, die einer Jugendsünde huldigten oder die man zu den Verirrten zählen kann. Der Wahlerfolg meiner Partei ist das Resultat der Krise des Gesellschaftsmodells eines hemmungslosen Industrialismus, der, als freie Entfaltung der Persönlichkeit getarnt, einen Machbarkeitswahn von Technik und Ökonomie verfolgt, der in der Produktion von Reichtum den einzigen Garanten für eine mögliche Zukunft sieht und der, Herr Bundeskanzler, die Schöpfung gefährdet.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: So ist es!)

    Ihr politisches Handeln, Herr Bundeskanzler, reduziert sich in diesem Machtzusammenhang darauf, die enormen Folgeprobleme, die aus dieser bloß industrialistisch verstandenen Moderne entstanden sind, zu



    Frau Schoppe
    finanzieren, zu verwalten und herunterzuspielen, wie wir heute morgen gehört haben.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wer trotz Waldsterben, trotz chemischer Verseuchung und nach Tschernobyl nicht die Konsequenzen zieht, andere Maßstäbe in der Politik zu setzen, erweist sich als Handlanger von Industrie- und Kapitalinteressen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren so stark geworden sind, stellen nun die Frage nach den Maßstäben Ihrer Politik, und das ist Ihnen unbequem. Deshalb versuchen Sie, die Menschen einzuschüchtern und die sozialen Bewegungen zu kriminalisieren.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Und hier im Parlament stellen wir GRÜNEN die unbequemen Fragen.
    Welche Maßstäbe, frage ich mich, haben Sie, wenn Sie Waffen in die Länder der Dritten Welt verkaufen und wenn Johnny Klein z. B., ein erklärter Freund des Apartheidregimes in Südafrika und ein Feind jeglicher Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, zum Entwicklungshilfeminister ernannt wird?

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Wir sind diejenigen im Parlament, die die unbequemen Fragen stellen. Wir fragen nach Ihren Maßstäben. Deshalb hat Herr Seiters gesagt: Sie gehören nicht hierher. Das nämlich ist der wahre Grund.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Das Projekt der Moderne steht weltweit auf dem Prüfstand; übrigens nicht nur in den kapitalistischen, sondern auch in den real-sozialistischen Ländern, wie man an den Bemühungen von Gorbatschow erkennen kann. Die Moderne, verstanden nur als verselbständigte Technik und verantwortungslose Ökonomie, verwandelt sich für uns alle mit Ihrer Politik in eine Fortschrittsfalle. Weil die Menschen unter den Segnungen des Fortschritts — wie Sie das nennen — leiden, suchen sie nach Auswegen, Umwegen und neuen gesellschaftlichen Visionen.

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Welchen Roman lesen Sie denn da vor?)

    Die sozialen Bewegungen haben sich das Wissen über diese Ursachen der Krisen des Industrialismus selbst angeeignet. Mit diesem Wissen suchen sie die Antworten auf die drängenden Fragen nach einer anderen, menschenwürdigen Gesellschaft. In diesen Bewegungen, wo kein Zwang besteht, Politik als erfolgreich verkaufen zu müssen, werden die Bilder, Umrisse und Strukturen einer anderen politischen Kultur und Gesellschaft entwickelt.
    Wir GRÜNEN sind Teil dieser Bewegungen. Wir nehmen die Kritik, die Vorstellungen und die Resultate aus diesen Bewegungen, auch wenn sie oft widersprüchlich sind, ernst. Wir machen nicht den Versuch, diese Bewegungen zu integrieren, weil wir sonst unsere eigene Radikalität und unsere soziale Phantasie zerstören würden.
    Weil Sie, meine Damen und Herren von der SPD — Herr Vogel, Sie haben ja vorhin auch von den sozialen Gruppen gesprochen — , an Ihrer Vorstellung vom beherrschbaren, wohlgeordneten Industrialismus festhalten, machen Sie immer wieder den Versuch,

    (Zuruf von der SPD: Das hat Herr Vogel nicht gesagt!)

    die Kraft der sozialen Bewegungen dadurch zu zerbrechen, daß Sie sie einfach in Ihren Laden hineinziehen. Und Sie, Herr Kohl, und Ihre Freundinnen und Freunde auf der Rechten versuchen, die sozialen Bewegungen durch Drohungen einzuschüchtern. Beide Konzepte möchte ich als eine Politik der Denkverbote bezeichnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie alle müssen zur Kenntnis nehmen, daß der Ort des Wissens heute viel eher bei den Menschen selbst und in ihren sozialen Zusammenhängen zu finden ist als beispielsweise hier im Parlament.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Herr Kohl, das muß ich Ihnen einmal sagen: Wenn Ihre Rede heute morgen auf mich den Eindruck von bleierner Mittelmäßigkeit gemacht hat, dann liegt das weniger an Ihrem Schreiber als daran, daß Sie sich mit Ihrer Politik und mit Ihrer Ideologie nicht mit den wirklich spannenden Diskursen in der Gesellschaft auseinandersetzen wollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Genauso ist es!)

    Kommen wir einmal zu ein paar Tatsachen. Sie wissen doch ganz genau: Wenn in der Bundesrepublik noch kein Atomkraftwerk hochgegangen ist, dann liegt es nicht daran — wie Sie gesagt haben — , daß unsere Sicherheitsvorstellungen höchste Ansprüche erfüllen. Vielmehr ist es der pure Zufall, daß hier noch keins hochgegangen ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    In Ihrer Regierungserklärung verlieren Sie kein einziges Wort über die verstrahlten Lebensmittel, über das Molkepulver. Sie sagen nichts über die Entsorgung des Atommülls. Die Kuppel des Reaktors in Stade bröckelt. Bei Nukem in Hanau haben neun Arbeiter Plutonium eingeatmet. Trotzdem behaupten Sie ernsthaft, die Nutzung der Atomenergie sei verantwortlich. Das ist ja wohl das letzte.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wenn Sie, Herr Kohl, von Zukunft reden, dann frage ich mich unter diesen Umständen, angesichts der Probleme, vor denen wir stehen und die Sie nicht lösen: Was meint der Mann damit eigentlich? Sie sagen ja nichts Konkretes darüber, wie Sie mit den Folgen der Gentechnologie, mit dem Müll und mit der ganzen Umweltzerstörung fertig werden wollen.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Der Mann weiß nichts!)

    Die Produktionsprozesse in unserem Land sind nach wie vor zerstörerisch. Das zeigt die Rheinverseuchung, das zeigt das Waldsterben, und das zeigt z. B. die schleichende Vergiftung des Trinkwassers. Das



    Frau Schoppe
    Risikopotential, das die Chemieindustrie in sich birgt, ist heute nicht kontrollierbar. Wenn Sie glauben, es reicht, mit Wasserrecht, Abfallgesetz und Immissionsschutzgesetz immer nur hinterher reparieren zu wollen, werden sich die Risiken weder für die Menschen noch für die Natur verringern.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die Mehrheiten hier in Bonn befinden sich im Würgegriff der Chemieindustrie. Wie anders sonst ist es zu verstehen, daß von § 17 des Chemikaliengesetzes bisher noch nicht einmal Gebrauch gemacht wurde?

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Der Zielkonflikt zwischen betriebswirtschaftlicher Optimierung und Umweltverträglichkeit wird in aller Regel gegen die Erfordernisse der Umweltverträglichkeit entschieden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Vom Verursacherprinzip, von Produktionsauflagen und Produktionsverboten, von Entgiftung und einer prinzipiellen Auseinandersetzung darüber, welche Produkte die Menschen eigentlich brauchen, ohne daß dadurch die gesellschaftlich freie Entscheidung über den Konsum zerstört würde, von all solchen Ansätzen zu einer anderen Umweltpolitik haben Sie offensichtlich noch nie etwas gehört.
    Ihre Sprüche, Herr Kohl, über die bäuerlichen Traditionen gehen mir ja zu Herzen. Aber ich sage Ihnen eines: Das, was Sie hier erzählen, glaubt Ihnen in den Dörfern kein Mensch mehr.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Tatsache ist, daß immer mehr Bauern ihre Höfe aufgeben müssen. Sie verlieren damit nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern auch das Recht auf ein Stück selbstbestimmte Arbeit. Damit lassen Sie es zu, daß mit dem Beruf des Bauern für uns alle wieder ein Stück mehr an Möglichkeiten von selbstorganisierter Arbeit in einem überschaubaren Betrieb verlorengeht.
    Dann zu den Frauen. Ich erinnere mich noch gut an den Wahlkampf, in dem viel über die Frauen geredet wurde. Was ist als einziges Konkretes dabei herausgekommen? Ein Beratungsgesetz, das die Frauen bevormundet, das die Frauen diszipliniert und das dazu führen wird, daß sich der Zeitpunkt des Schwangerschaftsabbruchs verzögert. Damit nehmen Sie eine Gesundheitsgefährdung der Frauen in Kauf. Was unterstellen Sie eigentlich den Frauen? Wir brauchen nicht Ihre Sitten, wir brauchen nicht Ihre Moral. Frauen entscheiden immer verantwortungsbewußt darüber, ob sie das Kind behalten. Aber sie entscheiden genauso verantwortungsbewußt, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich will nicht versäumen, auf die Volkszählung einzugehen. Dabei gibt es unterschiedliche Aspekte. Ich will einen vortragen, der mir wichtig ist. Volkszählung ja oder nein, dabei geht es um die grundsätzliche Frage, wie das Grundrechtsgefüge durch den unkontrollierten gesellschaftlichen und vor allem staatlichen
    Gebrauch neuer Datentechnologien verändert worden ist. Es geht mir nicht nur darum, die neuen Technologien als Überwachungstechnologien zu verteufeln. Ich versuche im Gegenteil, positiv zu bestimmen, welche neuen Rechte und Grundrechte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für jeden einzelnen Bürger begründen kann. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 ist der Begriff des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unbestimmt geblieben. Seine Präzisierung darf auf keinen Fall den Juristen oder den Politikern allein überlassen werden, sondern muß in der direkten Auseinandersetzung zwischen den Souveränen, allen Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik, und der Bundesregierung genau ausgestaltet werden.
    Im Grunde handelt es sich bei der Auseinandersetzung um die Volkszählung um eine antiautoritäre, barrikadenkampfähnliche Situation von Grundrechtsschöpfung.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Staatlicher Datenherausgabezwang steht gegen die Freiwilligkeit auf seiten der Bürger, Selbstbestimmung der individuellen Identität gegen den obrigkeitsstaatlichen Kontrollanspruch der Behörden. Die von ihnen bekämpfte Boykottbewegung ist der massenhafte und mit soviel Vergnügen vorgetragene Anspruch der Menschen nach viel mehr Mitentscheidung in der Sphäre des Politischen. Menschen verlangen mit dem Boykott der Volkszählung nach mehr Demokratie für uns alle.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich sehe, ich habe nur noch eine Minute; o Gott, o Gott.


Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Abgeordnete, Sie haben noch etwa neun Minuten Redezeit.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Waltraud Schoppe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Gut, dann kann ich die Steuerpolitik noch mit hineinnehmen.
    Zur Steuerpolitik haben Sie 1983 Ihre Absicht erklärt, Steuern als ein Lenkungsinstrument für eine ökologische Wirtschaft einzusetzen. Sie betonten, daß es sich für die Chemieindustrie nicht mehr lohnen sollte, umweltgefährdend zu produzieren. Betrachte ich mir unter diesem Gesichtspunkt die neue Regierungserklärung, kann ich nur sagen: Nichts, NullEmission. Sie verzichten ausdrücklich darauf, Steuern als ein klassisches Instrument staatlicher Politik zur strukturellen Steigerung der gesellschaftlichen Entwicklung einzusetzen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Sie haben die Steuerpolitik auf eine Morgengabe für Ihre Wirtschaftsklientel reduziert.

    (Conradi [SPD]: Bestechung!)

    Verteilungspolitisch kommt dabei heraus, daß Sie den Spitzenverdienern einen Mercedes vor die Tür stellen, während sich die Mehrheit der Steuerzahler lediglich ein paar Tüten Pommes frites mehr erlauben kann.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Warum diskriminieren Sie BMW?)




    Frau Schoppe
    Wirtschaftspolitisch ist das Ganze nicht nur unfruchtbar, sondern fatal, weil auch völlig unklar bleibt, wie Sie diese Steuersenkung finanzieren wollen.

    (Zuruf von der FDP: Warten Sie mal ab!)

    Beziehen Sie die neuesten Prognosen der Wirtschaftsinstitute ein, die klar und deutlich davon ausgehen, daß die Bundesrepublik in ein neues Konjunkturtief hineingeht, was die staatlichen Einnahmen in den nächsten Jahren noch zusätzlich verringern wird, dann wird der Sinn Ihrer Steuerpläne noch fragwürdiger.
    Weiter reden Sie von einem Kassensturz 1989, als dessen Folge Sie zusätzliche Leistungen für Familien, Alte und sozial Benachteiligte austeilen wollen. Beim Kassensturz — das sage ich Ihnen jetzt schon voraus — werden Ihnen die Millionen fehlen, statt Verbesserungen wird bei denen, die wirklich materielle Unterstützung brauchen, weiter gespart werden. Das kennen wir ja schon.
    Ich wollte noch kurz auf die Sicherheitspolitik eingehen. In der Außen- und Sicherheitspolitik — das hat die Debatte in der Aktuellen Stunde gezeigt — halten Sie an der Ideologie der Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit fest. Für mich ist die beste Sicherheitspolitik ein vertrauensvolles Miteinander aller Völker. Ihre Vergleiche, Herr Kohl, zwischen Gorbatschow und Goebbels, Ihre Diskussionen, die in dem Ausspruch „Schlesien ist unser" gipfelten, und der SDI-Vertrag haben das Verhältnis zur Sowjetunion so stark beeinträchtigt, daß wir froh sein können, daß es trotz Ihrer Politik heute zu Verhandlungen über den Abzug von Mittelstreckenraketen kommt.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der FDP: Wegen!)

    Ich habe noch eine Frage an Herrn Wörner, der allerdings nicht da ist. Aber ich will Ihnen das auch sagen: Ich möchte mal wissen, was eigentlich an den Gerüchten dran ist: Wenn die landgestützten Mittelstreckenraketen hier abgezogen werden, dann wird eventuell im Bereich der -flugzeuggestützten Cruise Missiles nachgerüstet. Dies läuft als Gerücht herum, und diese Frage möchte ich gerne von Herrn Wörner beantwortet haben. Der soll mal hier auf den Tisch legen, woran bei ihm und in der NATO gebrütet wird. Wir haben ein Recht darauf, informiert zu werden, und zwar schnell.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Ronneburger [FDP]: Sie sollten nicht so viel auf Gerüchte hören!)

    Wer, meine Damen und Herren — das ist doch die Frage — , wird die Krisen der Zeit bewältigen? Die Sozialdemokratie ist immer noch die Partei des Fortschritts und der Staatsfixiertheit. Die SPD war — und wenn ich den Streit um Nukem und Alkem betrachte, ist sie es immer noch — eine Partei, die nur gezwungenermaßen zu den Folgeproblemen des Industrialismus Stellung bezieht. Meine Damen und Herren von der SPD, vor allem an Ihnen wird es liegen, ob es gelingt, eine Alternative zum Kohlschen Immobilismus in Regierungshandeln umzusetzen.

    (Conradi [SPD]: Der Meinung sind wir auch!)

    Sie müssen sich bereit finden, sich aus der starren Logik Ihrer Menschheitsbeglückungspolitik von oben zu lösen. Sie können so den Weg mit freimachen für massenhafte Kritik und eine nicht länger nur beunruhigende Idee des Fortschritts, in dessen Zentrum dann der sich selbst verwirklichende einzelne stehen kann. Auf einer solchen Grundlage wäre eine Zusammenarbeit möglich. Ich muß hier nicht betonen, daß aus dieser Position einer Bereitschaft zu Koalitionen auf keinen Fall folgt, daß die GRÜNEN als prinzipienlose Mehrheitsbeschaffer à la FDP zu mißbrauchen sind.

    (Gattermann [FDP]: Herr Präsident, das war eine Beleidigung! Bitte rügen!)

    Ich glaube, dieses Gerücht hat Hessen widerlegt: Mit den GRÜNEN jedenfalls ist der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft nicht zu machen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Der Ausstieg aus der Kernenergie ebenso wie der Verzicht auf den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf sind unverzichtbare Forderungen der Politik der GRÜNEN.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung. Die Regierung, Herr Kohl, hat in den letzten vier Jahren verstärkt versucht, ihre konzeptionelle Ideenlosigkeit dadurch zu überdecken, daß Sie an die alten deutschen Tugenden, Disziplin, Pflichtbewußtsein, Opferbereitschaft und nationale Loyalität, appelliert haben. Heute morgen ging es übrigens viel um Sinn, es ging um Sinnhaftigkeit, Sinn des Lebens. Ich habe das Gefühl: Je schlimmer die Probleme in dieser Gesellschaft werden, um so mehr kommen Sie mit dieser Ideologie von Geborgenheit, von Wärme und von Sinnhaftigkeit und Sinn. Unter diesem Aspekt wäre dann die Rede heute morgen sinnvoll gewesen.
    Zugleich haben Sie versucht, wie Hans Mommsen das im „Merkur" im letzten Jahr so schön gekennzeichnet hat, die Rekonstituierung einer 1 000 Jahre alten deutschen Geschichte jenseits des Nationalsozialismus herbeizureden. Dieser Versuch, das Herunterspielen des deutschen Faschismus und zugleich das — auch von Ihnen nicht energisch widersprochene — Wiederaufleben antisemitischer Grundgedanken in der Öffentlichkeit haben das Ziel — ich zitiere meinen früheren Kollegen, den berühmten Hans-Christian Ströbele —,

    (Gattermann [FDP]: Berüchtigten!)

    „... das Erinnern und die Fähigkeit zu trauern, bei den Menschen in der Bundesrepublik als Bedingung für eine demokratische Entwicklung zu zerstören." Unser grünes Projekt ist eindeutig auf die Einsicht festgelegt, daß jeder nach-faschistische deutsche Staat ohne die radikale Kritik an den 12 Jahren verbrecherischer Geschichte keine Chance hat, eine fortschrittliche Zukunft zu begründen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Meine Fraktion wird unsere Anträge zur Wiedergutmachung für die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus und für die Zwangsarbeiter sowie zur Streichung der Gesundheitsgesetze wieder einbringen, und wir werden unsere Kritik an den Plänen der



    Frau Schoppe
    Regierung für historische Museen in Berlin und Bonn fortsetzen.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Daß das Entwickeln einer . demokratischen Alternative zum Scheitern des politischen Liberalismus — — Oh, Moment, ich fange noch einmal an.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Falsche Seite! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Seien Sie hier mal still, stellen Sie sich hier erst einmal hin und reden.

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das macht der nie! — Dr. Vogel [SPD]: Habt ihr euch vielleicht noch nie versprochen? Herr Gott, so etwas Kindisches! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Das macht der nie, da hat er Angst, bleibt sitzen und quaddelt aus dem Hintergrund. — Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich weiß, daß das Entwickeln einer demokratischen Alternative zum Scheitern des politischen Liberalismus im Faschismus ebenso wie eine demokratische Alternative zum Zerbrechen aller Hoffnungen auf Sozialismus im Stalinismus entscheidend davon abhängt, daß es uns gelingt, aus dem Erinnern eine lebenswerte Zukunft zu entwickeln.

    (Gattermann [FDP]: Können Sie das noch einmal vorlesen? Das habe ich noch nicht verstanden!)

    — Sie können es ja nachlesen, Herr Kollege. Beim dritten Mal versteht es dann auch der letzte. —

    (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Der weiß gar nicht, was das ist!)

    Adorno hat das in seinen „Minima Moralia " für mich sehr überzeugend beschrieben:
    Das Grauen des Faschismus ist das der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge. Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe.
    Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Beifall bei den GRÜNEN)