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Metadaten
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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/4 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 4. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 18. März 1987 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Bahr 51 A Einspruch des Abg. Stratmann gegen den Ausschluß am 12. März 1987 51 A Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl, Bundeskanzler 51 B Beschlußfassung über das Verfahren für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen — Drucksachen 11/53, 11/55 — Kleinert (Marburg) GRÜNE (zur GO) 73 C Dr. Bötsch CDU/CSU (zur GO) 74 C Aussprache zur Regierungserklärung Dr. Vogel SPD 74 B Dr. Waigel CDU/CSU 88 C Frau Schoppe GRÜNE 98 D Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi 102B Roth SPD 111 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 115B Ebermann GRÜNE 117 D Dr. Biedenkopf CDU/CSU 120C Dr. Mitzscherling SPD 124 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 127 D Sellin GRÜNE 131 B Spilker CDU/CSU 132 D Vizepräsident Frau Renger 120 C Nächste Sitzung 134 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 135 *A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 135 * C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März .1987 51 4. Sitzung Bonn, den 18. März 1987 Beginn: 10.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amling 20. 3. Böhm (Melsungen)* 18. 3. Egert 19. 3. Frau Eid 20. 3. Gröbl 18. 3. Grünbeck 20. 3. Grunenberg 20. 3. Kittelmann ** 18. 3. Klein (München) 20. 3. Kolb 20. 3. Lemmrich ** 18. 3. Lenzer * 20. 3. Linsmeier 18. 3. Frau Dr. Martiny-Glotz 20. 3. Reddemann ** 18. 3. Dr. Scheer ** 18. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Seehofer 20. 3. Strauß 20. 3. Frau Trenz 20. 3. Dr. Wieczorek 20. 3. Frau Zutt 20. 3. Anlage 2 Amtliche Mitteilung Der Präsident des Bundesrates hat mit Schreiben vom 13. März 1987 mitgeteilt, daß der Bundesrat in seiner Sitzung am 13. März 1987 der vom Deutschen Bundestag am 18. Februar 1987 beschlossenen Weitergeltung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß nach Artikel 53 a des Grundgesetzes Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes zugestimmt hat.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Ich empfinde das, Herr Präsident, als Zeichen der Sympathie, daß Sie mir die rote Farbe zeigen.

    (Heiterkeit)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Abgeordneter Dr. Vogel, das war nicht rot, das war gelb.

(Erneute Heiterkeit)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident, wenn Sie erlauben, ich könnte Ihnen hier einen sehr guten Augenarzt empfehlen, der für Farbenblindheit ausgezeichnete Rezepte verfügbar hat.

    (Fortgesetzte Heiterkeit)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich dennoch über 3 Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger für die GRÜNEN entschieden haben, ist aus meiner Sicht ein Zeichen dafür, wie viele Menschen in unserem Volk die einfache Fortschreibung aller bisherigen Entwicklungslinien für unerträglich, ja, für lebensgefährlich halten.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Das stimmt!)




    Dr. Vogel
    Wir alle — auch Sie, Herr Bundeskanzler — wären gut beraten, das nicht zu verteufeln oder mit Ausgrenzung zu beantworten, sondern die Mahnung dieser 3 Millionen Stimmen — so interpretiere ich das — zu verstehen. Darin liegt ja gerade die Überlegenheit unserer politischen Ordnung gegenüber anderen Ordnungen, daß sich solche Mahnungen in aller Öffentlichkeit und, wenn sie genügend Unterstützung finden, hier im Parlament artikulieren können. Das ist eine Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung gegenüber anderen Gesellschaftsordnungen!

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre künftige Haltung auf dem Gebiet der Entspannungspolitik und der inneren Liberalität werden wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Sie wissen genau, daß Sie für Ihre Wahlaussagen auf diesen Gebieten in diesem Hause jederzeit eine Mehrheit finden, sei es für die Bejahung der politischen Bindungswirkung der Ostverträge, sei es für die Ablehnung jeder Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts, um nur zwei Beispiele zu nennen. Um so härter werden wir jede Konzession anprangern, die Sie den Scharfmachern in der Union zugestehen. Erste Anzeichen dafür, daß Sie einmal mehr von dem abgehen werden, was Sie vor der Wahl zugesagt haben, sind bereits erkennbar.
    Die GRÜNEN werden sich entscheiden müssen, ob sie eine Protestbewegung, eine Bewegung des fundamentalen Nein, bleiben oder durch Übernahme von politischer Verantwortung, durch die Bereitschaft, auch Kompromisse einzugehen, und durch berechenbares Verhalten zur Durchsetzung umfassender Reformkonzepte beitragen wollen.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Wir sagen ja!)

    Ein für uns entscheidender Prüfstein ist dabei Ihre Haltung gegenüber dem Gewaltmonopol des Staates und gegenüber verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzen. Um es klipp und klar zu sagen: Gewaltanwendung ist für uns Sozialdemokraten als Mittel der Politik genauso unannehmbar wie ein Aufruf von Abgeordneten, verfassungsgemäß zustande gekommene Gesetze zu boykottieren.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Dr. Briefs [GRÜNE]: Und wie ist das mit dem Hamburger Kessel?)

    Wir sehen durchaus, daß über beide Fragen in Ihren eigenen Reihen eine Auseinandersetzung geführt wird. Im Interesse unseres Volkes, im Interesse aller, die davon überzeugt sind, daß wir vieles ändern müssen, um uns eine lebenswerte Zukunft zu bewahren, wünschen wir, daß diese Auseinandersetzungen zu einem positiven. Ergebnis führen; denn ein Sieg der sogenannten Fundamentalisten würde die notwendigen Änderungen der Strukturen, würde Reformen nicht erleichtern, sondern geradezu blockieren. Die Reaktionär-Konservativen könnten sich in diesen Jahren nichts Besseres erhoffen!

    (Beifall bei der SPD)

    Übrigens, meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler, weil ich von Gewaltanwendung gesprochen habe: Wir halten es auch für unannehmbar, wenn auf Veranstaltungen des Bauernverbandes in
    Anwesenheit namhafter Unionspolitiker Nachbildungen von Menschen, etwa die der Herren Narjes, Heereman und Pfeiffer, verbrannt werden. Es fällt auf, daß Sie, Herr Bundeskanzler, bei Ihren Ausführungen über die Verwerflichkeit der Androhung und der Ausübung von Gewalt dazu heute morgen geschwiegen und dazu kein einziges Wort gefunden haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sie haben vor der Wahl, Herr Bundeskanzler, große Probleme, die offen zutage lagen oder sich schon deutlich abzeichneten, verdrängt. Sie haben alle Fakten, die nicht in Ihr strahlendes Zukunftsbild paßten, tabuisiert und diese Manipulation dann Optimismus, ja sogar Zuversicht genannt. Mehr noch: Sie haben jeden, der diesen Manövern, der diesem stupiden „Weiter so" widersprach, als Miesmacher, als Katastrophenpropheten denunziert. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie merken es doch in diesen Tagen und Wochen: Die Probleme lassen sich nicht verdrängen, sie brechen immer weiter auf, und diese Probleme verlangen Antwort.
    Vor der Wahl haben Sie unaufhörlich vom stabilen Aufschwung und der ungebrochenen Konjunktur gesprochen, die noch lange andauern werde. Jetzt räumen selbst Ihre engsten Parteigänger in den wissenschaftlichen Instituten, in den Banken, in den Verbänden ein, daß sich die Konjunktur abflacht und die Anzeichen für einen näherrückenden möglichen Abschwung nicht mehr zu übersehen sind. Der Verfall des Dollarkurses, der Rückgang der Exporte, die sinkenden Auftragseingänge, das sind nur einige der Alarmzeichen. Wollen Sie, Herr Bundeskanzler — und da würden Sie sich intellektuell unter Wert verkaufen —,

    (Zurufe von der SPD)

    behaupten, das alles sei Ihnen erst nach dem 25. Januar sichtbar geworden und zur Kenntnis gelangt?
    Vor der Wahl haben Sie immer wieder erklärt, die Arbeitslosigkeit gehe zurück; der Trend sei ungebrochen. Zehn Tage nach der Wahl — ganze zehn Tage, eine Dekade —, mußte Herr Franke, der Präsident der Bundesanstalt in Nürnberg, einräumen, daß die Zahl der Arbeitsuchenden im Januar 1987, also während Ihrer Wahlkampagne um fast 280 000 Männer und Frauen gestiegen ist. Im Februar hat sich diese Situation so gut wie nicht verändert. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt damit im fünften Jahr Ihrer Regierung mit fast 2,5 Millionen Arbeitslosen — es wäre gut, Sie hätten diese Zahl heute morgen wenigstens einmal genannt — unverändert auf Rekordniveau,

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    und das, meine Damen und Herren — und das sage ich mit Sorge — nach einer Zeit des Aufschwungs. Wollen Sie uns im Ernst erzählen, diese Entwicklung der Arbeitslosigkeit sei Ihnen neu?
    Hat es etwa erst der Mahnwache der Stahlarbeiter auf dem Bonner Münsterplatz bedurft, um Sie auf die Krise der Stahlindustrie aufmerksam zu machen, die inzwischen für die betroffenen Regionen geradezu dramatische Formen angenommen hat? Hat Sie die



    Dr. Vogel
    Werftenkrise oder die alarmierende Entwicklung bei der Kohle auch am Abend des 25. Januar oder kurz danach überrascht?
    Vor der Wahl, Herr Bundeskanzler, haben Sie die Bauern beschwichtigt. Herr Kiechle wagte sogar in einem gedruckten, dem Haus zugeleiteten Bericht die Behauptung, die Bauern hätten doch gut verdient. Jetzt wird deutlich, daß in den nächsten 20 Jahren die Hälfte der noch vorhandenen Familienbetriebe zugrunde gehen wird, wenn die Politik des „Weiter so" fortgesetzt wird.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Herr von Heeremann, Bauernverbandspräsident und CDU-Abgeordneter in einer Person,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das ist, glaube ich, beim DGB und SPD-Abgeordneten auch manchmal der Fall!)

    erhebt nicht nur gegen Brüssel, sondern gegen Sie und gegen Herrn Kiechle in Person die bittersten Vorwürfe — allerdings bezeichnenderweise erst nach dem 25. Januar. Vorher hat auch Herr Heeremann über die wahre Lage der Bauern geschwiegen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ähnlich ist es doch mit der Umweltsituation. Vor der Wahl starteten die chemische Industrie wie auch andere Unternehmensverbände mit Blick auf den Wahltermin eine millionenschwere Anzeigenkampagne unter der Devise: „Lieber Fisch, lieber Fluß", die dartun sollte, wie herrlich weit es Ihre Politik und die Industrie bei der Reinhaltung der Luft, des Bodens und der Gewässer doch gebracht hätten. Diese Kampagne wurde allerdings schon vor dem 25. Januar an der Sandoz-Katastrophe und den folgenden Rheinvergiftungen zunichte. Die Irrfahrten der hochverstrahlten Molkeprodukte kontrastierten nach der Wahl ebenso kraß mit ihren eigenen Beschwichtigungsfeldzügen nach der Katastrophe von Tschernobyl und den Versprechungen des Herrn Wallmann.
    Nein, Herr Bundeskanzler, das Bild, das Sie vor den Wahlen entworfen haben, war nicht realistisch. Dieses Bild sollte beschwichtigen, ja, ich befürchte sogar, es sollte täuschen. Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt: „Alle politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht aus Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. " — Das Wort gilt noch immer. Ihre Wahlkampagne war ein Musterfall politischer Kleingeisterei, nicht politischer Aktion.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wie dem auch sei, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Die Probleme liegen auf dem Tisch, und sie erheischen Antworten. Wo sind jetzt Ihre konkreten Antworten? Bleiben Sie beim „Weiter so", oder haben Sie wenigstens in den Wochen seit dem 25. Januar neue und bessere Antworten gefunden? Es sieht nicht danach aus.
    Die sogenannten Koalitionsverhandlungen sind selbst von Ihren publizistischen Gönnern und Helfern ein Trauerspiel genannt worden. Ihre Regierungserklärung hat diesen Eindruck nicht widerlegt, sie hat ihn eher noch verstärkt. Sie ist eine in ihrer Rekordlänge weitschweifige Sammlung von allgemeinen Sätzen und von zahllosen, mitunter sehr beliebig anmutenden Details. Ein Zukunftsentwurf, von dem Inspiration ausgeht, ist und war die Regierungserklärung des heutigen Vormittags nicht.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Dann haben Sie aber nicht zugehört!)

    Gewiß, Herr Bundeskanzler, in einigen Punkten sind Sie konkrét geworden: etwa bei der Senkung des Spitzensteuersatzes. Das hat zwar in den quälenden Wochen der Koalitionsverhandlungen Tage um Tage und Stunden um Stunden gedauert; aber dann haben Sie es zustande gebracht, was Herr Blüm — dort sitzt er — zu Recht einen Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer genannt hat.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, Sie können sagen, was Sie wollen, und noch so lange, auch zweieinhalb Stunden lang, um den Kern der Sache herumreden: 25 000 DM — 25 000 DM! — weniger Steuern pro Jahr für den, der als Verheirateter 300 000 DM pro Jahr verdient, und rund 1 000 DM weniger für den Normalverdiener. Das ist und bleibt empörendes Unrecht.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Und wenn man bedenkt, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen — hier sind die Rentner mit eingeschlossen — seit 1982 bereits von 66 % auf 58 % gesunken und der entsprechende Anteil des Einkommens aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen in der gleichen Zeit von fast 34 % auf 42 To gestiegen ist mit der Folge, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen den niedrigsten Stand seit vielen, vielen Jahren erreicht hat, der Anteil der Unternehmenseinkommen und Vermögenseinkommen aber den höchsten Stand, dann ist das, was Sie vorschlagen, nicht nur ein Unrecht, sondern dann ist das geradezu eine soziale Provokation.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Daß Sie, Herr Blüm, nach den starken Reden, die Sie vor den Sozialausschüssen gehalten haben, dem zustimmen, daß Sie in einer Regierung bleiben, die das vorschlägt, das — so sage ich Ihnen voraus — kostet Sie bei den Arbeitnehmern den letzten Rest von Reputation, den Sie noch gehabt haben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Herr Kollege Blüm, wenn jemand — lassen Sie mich das sagen — vier Jahre lang Darstellungs- und Wirkungsmöglichkeiten gehabt hat wie Sie und dann in seinem Wahlkreis ganze 29 % erreicht, dann, Kollege Blüm, ist das ein Zeichen für den Reputationsverlust, den der „alte " Blüm, den wir noch kannten, erlitten hat.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie froh, daß Sie selber nicht antreten mußten!)

    Sehr konkret, Herr Bundeskanzler, sind Sie auch bei der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Hier wollen Sie — so habe ich das heute morgen aus



    Dr. Vogel
    Ihrem Munde gehört — die Arbeitnehmer und ihre Organisationen erneut schwächen, diesmal — darauf läuft doch die Sache hinaus — durch die Schaffung eines konkurrierenden Betriebsrats für die leitenden Angestellten und durch die Förderung von Splittergruppen, die Sie sonst nicht entschieden genug verdammen und kritisieren können. Ich sage: Ist die Spitzensteuersatzsenkung ein Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer — frei nach Blüm — , dann ist das, was Sie mit dem Betriebsverfassungsgesetz vorhaben, ein Tritt in die Kniekehlen der Arbeitnehmer und eine erneute Herausforderung der Gewerkschaften.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Konkret ist weiter, daß Sie alle Verbesserungen sozialer Leistungen — das scheint der Punkt zu sein, in dem sich dann auch Herr Stoltenberg einmal durchgesetzt hat — auf das Ende der Legislaturperiode, auf 1990 verschieben, also auch die Verbesserungen, die Sie hier angekündigt haben, z. B. die Verbesserungen des Erziehungsgeldes, des Kindergeldes und — man höre — auch die notwendigen strukturellen Verbesserungen der Kriegsopferversorgung, die Sie noch im Dezember 1986, also wenige Wochen vor der Wahl, dem Reichsbund und anderen Verbänden versprochen haben und die Sie jetzt — in etwas umständlichen Formulierungen — bis auf das Jahr 1990 vertagen. Das haben Sie in Ihrer Regierungserklärung wohlweislich nicht in klaren und verständlichen Wendungen mitgeteilt.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Verschwiegen war das! )

    Konkret ist, daß Sie die Reform des § 218 nun doch wieder durch ein Beratungsgesetz in Frage stellen wollen, das im Ergebnis staatliche Einflußnahme dort zur Geltung bringen will, wo nur Vertrauen und eine Einstellung weiterhelfen können, die sich ohne Zwang und ohne Druck bildet. Nur so ist Schutz des werdenden Lebens möglich.

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der GRÜNEN)

    Anderes in Ihrer langen Erklärung von heute morgen ist nur scheinbar konkret. So erklärte Herr Blüm nach den Koalitionsverhandlungen, die Fortdauer der Montan-Mitbestimmung sei nunmehr gesichert. In seiner gepflegten Ausdrucksweise, die auch den Adel der Sprache erkennen läßt, hat Graf Lambsdorff das als eine freche Verfälschung bezeichnet.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben mit beiden Herren nähere Kontakte und näheren Umgang. Ich frage Sie: Wer von diesen beiden Herren — Herr Blüm oder der Graf — ist nun eigentlich der freche Fälscher? Der eine Satz, den Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung gefunden haben, läßt das wohlweislich offen.
    Um es deutlicher zu machen: Wenn Sie mich fragen würden, wer von den beiden frech ist, könnte ich mir selber eine Antwort ausdenken. Aber wenn es darum geht, festzustellen, wer der Fälscher ist, dann sind Sie gefragt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das meiste in Ihrer Erklärung erschöpft sich aber in allgemeinen Redewendungen, in vielen Formelkompromissen oder auch in Vertagungen. Nehmen wir einmal als Beispiel die Außenpolitik. Im Wahlkampf gab es da eine lärmende Auseinandersetzung zwischen den Herren Strauß und Genscher. War das eigentlich alles nur Theater?

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Ja, natürlich!)

    Jetzt tun die Schaukämpfer, bei denen man vorher meinte, sie wollten sich gegenseitig an die Ressorts oder an die Gurgel oder sonstwohin, mit freundlichem Lächeln so, als wenn überhaupt nichts gewesen wäre. Alle seien doch schon immer für eine realistische Entspannungspolitik, sagen die Herren,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Bei Ihnen nicht!)

    und alle seien für eine aktive Friedenspolitik. Das läßt doch alles wieder offen. Herr Bundeskanzler, wofür sind Sie denn nun eigentlich?

    (Beifall bei der SPD)

    Was gilt denn, Herr Bundeskanzler? Sind Sie nun für oder gegen die politische Bindungswirkung der Ostverträge? Hat Herr Rühe, wie Sie am 6. Februar 1985 gesagt haben, auch in Ihrem Namen gesprochen, oder hat Herr Dregger recht, der sagt, das sei nur die Privatmeinung des Herrn Rühe, darum brauche man sich gar nicht zu kümmern? Was gilt denn nun? Ist die Oder-Neiße-Grenze politisch endgültig oder nicht? Oder sagen Sie den Vertriebenen auf ihren Versammlungen das eine und den anderen bei anderer Gelegenheit das andere? Was gilt denn?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, gibt es in der DDR nun Konzentrationslager, oder war das, um mit Herrn Geißler zu sprechen, nur ein Black-out?

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Sind Sie, Herr Bundeskanzler, für oder gegen offizielle Kontakte mit der Volkskammer der DDR?

    (Feilcke [CDU/CSU]: Jetzt ist keine Fragestunde!)

    Noch eine Frage: Wollen Sie — wie Herr Strauß — Waffen auch in Spannungsgebiete exportieren, etwa in die Golfregion, oder wollen Sie die Rüstungsexporte einschränken, wie wir das zu unserer Freude gelegentlich aus den Reihen der FDP hören?
    Nach Ihren heutigen Erklärungen und Ausführungen bleibt auch die Frage offen: Sind Sie jetzt eigentlich für oder gegen schärfere Maßnahmen zur Überwindung der Apartheid? Sollen wir weiter als die letzten Bundesgenossen von Botha gelten, oder sollen wir als die gelten, die mit der breiten Mehrheit der Vereinten Nationen klar Farbe bekennen und Position beziehen?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich fürchte, es muß sich wohl wieder jeder selbst einen Vers darauf machen. Wie wir das gewohnt sind, werden wir zu jedem Thema zwei Verse hören, den einen von dem Außenminister hier, den anderen von dem Neben-Außenminister in München. Der hat übrigens — schade daß Herr Diepgen nicht mehr da ist —



    Dr. Vogel
    in einem Anflug neuer Erkenntnis den Berlin-Status dieser Tage zu einer heiligen und entbehrlichen Kuh erklärt.
    Wenn Sie das alles im unklaren lassen, Herr Bundeskanzler, dann mag das spekulative Geister anregen. Den deutschen Interessen — das weiß Ihr Außenminister — tut eine solche Unklarheit, eine solche Unberechenbarkeit der deutschen Außenpolitik in wichtigen Fragen empfindlichen Abbruch.

    (Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Ich habe das Gefühl, Sie mögen den Kanzler nicht!)

    — Sie sind ein ungewöhnlicher Schlaumeier!

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Wenn ich bis heute, Herr Feilcke, an Ihrer Intelligenz gezweifelt hätte — mit dieser Äußerung haben Sie jeden Zweifel ausgeräumt.

    (Heiterkeit bei der SPD — Dr. Waigel [CDU/ CSU]: Aber so locker war er schon lange nicht mehr!)

    Ebenso unklar ist, was Sie auf dem Gebiet der inneren Sicherheit vorhaben. Hier haben Sie doch in Ihren Verhandlungen eigentlich nur beschlossen und Sie haben — ich kann mir vorstellen, daß das nicht angenehm ist — vortragen müssen, das FDP und CSU unter duldender Zuschauerrolle der CDU ihren Dauerstreit fortsetzen, beide übrigens auch im wohlverstandenen eigenen Wählerinteresse. Das läßt aber befürchten, daß die bestehenden Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gewalt und Kriminalität deshalb nicht ausgeschöpft werden, weil Herr Zimmermann und andere Protagonisten schärferer Gesetze gar nicht an dem Nachweis interessiert sind, daß die geltenden Gesetze bei richtiger Anwendung völlig ausreichen. Da geht es vielmehr, wie Herr Strauß in schöner Offenheit mitgeteilt hat, um vorweggenommene Schuldzuweisungen für neue Anschläge.

    (Beifall bei der SPD)

    Ist die Regierungserklärung auf solchen Gebieten unklar, aber redselig, so ist sie auf anderen Gebieten auffallend schweigsam, so insbesondere dort, wo es um die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geht. Das Wort Massenarbeitslosigkeit kommt in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht vor. Den Begriff der Arbeitslosigkeit verwenden Sie immerhin an drei Stellen.
    Eine staatliche Verantwortung lehnen Sie im Ergebnis selbst da ab, wo ganze Regionen in Arbeitslosigkeit zu versinken drohen. Das ist keine Panikpropaganda. Wir wissen aus dem Mund von Stahlarbeitern, daß etwa in Hattingen eine Arbeitslosenquote von 30 % und mehr droht. Die Menschen in Hattingen oder Oberhausen, die heute für ihre Arbeitsplätze demonstrieren, an der Küste und an der Saar, in Peine, in Salzgitter, in Sulzbach-Rosenberg, das der Erwähnung in Ihrer Rede infolge bestimmter Initiativen teilhaftig geworden ist, oder in Nordhorn, das nicht erwähnt wurde, werden das mit Erbitterung hören. Denen hilft auch die sogenannte Qualifikationsoffensive nicht, die übrigens nur mit einem neuen Etikett
    versieht, was wir Sozialdemokraten in vielen Anträgen schon lange konkret gefordert haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Und was soll man sich eigentlich, Herr Bundeskanzler, unter dem vorstellen, was Sie heute morgen zur Kohle gesagt haben? Von der Zusage, daß Sie den Kohlepfennig in diesem Frühjahr erhöhen werden, einer Zusage, die Sie noch am 26. November 1986 vor der Mitgliederversammlung der Wirtschaftsvereinigung Bergbau gegeben haben, war heute in Ihrer langen Erklärung nichts zu hören, kein Wort. Was Sie ausgeführt haben, heißt doch für jeden Kenner der Materie im Klartext, daß Sie die Kohleförderung abbauen, weitere Zechen schließen und, was ich besonders bedenklich finde, die Notlage der Kohle als Druckmittel für die Zustimmung zum weiteren Ausbau der Atomkraft benützen wollen,

    (Beifall bei der SPD)

    für einen Ausbau — das wissen doch die Bergleute ganz genau — , der dann die Kohle noch weiter aus der Grundlast und in der Folge alsbald auch noch aus der Mittellast verdrängt, so daß eine Spirale nach unten immer weiter in Gang bleibt.

    (Zuruf von der FDP: Das ist doch nicht wahr!)

    Ihre einzige politische Antwort von Belang ist der Hinweis auf die von Ihnen beabsichtigten Steuersenkungen. Daß es sich dabei um eine empörende Benachteiligung der Normalverdiener handelt, habe ich schon dargetan. Es bleibt aber auch völlig offen, wie Sie den Ausfall von rund 45 Milliarden DM jährlich eigentlich ausgleichen wollen.

    (Zurufe von der FDP)

    — Graf Lambsdorff, reden Sie mal lieber mit dem Blüm!

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das ist für Sie immer noch Herr Blüm! Wo sind wir denn?)

    Niemand, Herr Bundeskanzler, glaubt Ihnen, daß Sie die Kraft aufbringen, in nennenswertem Umfang Subventionen abzubauen. Das versprechen Sie schon seit Jahren, während gleichzeitig unter Ihrer Verantwortung allein die Steuersubventionen seit 1982 um 50 % gestiegen sind. Es bleibt doch zur Deckung nur die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die zusätzliche Besteuerung der Weihnachtsfreibeträge

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Oder beides!)

    oder der Nacht- und Feiertagszuschläge und der Personalrabatte.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Oder alles zusammen!).

    Und das, Herr Bundeskanzler, meinten Sie wohl, als Sie heute morgen sibyllinisch von Umschichtungen oder von einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sprachen. Diese sich schon anbahnenden Dekkungen machen die Sache noch ungerechter und nehmen ihr überdies die nachfragesteigernde Wirkung; denn auf diese Weise nehmen Sie nicht den Spitzenverdienern, wohl aber den Normalverdienern mit der



    Dr. Vogel
    einen Hand das wieder weg, was Sie ihnen mit der anderen kärglich genug in Aussicht gestellt haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Die naheliegende Frage, ob die Summen, die über die Korrektur der sogenannten heimlichen Steuererhöhungen hinausgehen, nicht besser und wirksamer von der Gemeinschaft selbst für Investitionen, etwa zum Schutz oder zur Wiederherstellung der Umwelt oder zur Verbesserung der Gemeindefinanzen oder zum Abbau sozialer Ungerechtigkeiten, eingesetzt würden, hat Sie offenbar überhaupt nicht beschäftigt. Auch von der durchgreifenden Steuervereinfachung, die Sie einmal angekündigt haben, ist nicht mehr die Rede; davon ist nichts übriggeblieben.
    Das alles ist nicht solide, das sind ungedeckte Wechsel, die Sie auch zu Lasten der Länder und Gemeinden auf die Zukunft ziehen.
    Nicht ohne Grund reden ausgerechnet Sie, Herr Bundeskanzler, auf einmal — man höre und staune — einer Erhöhung der Neuverschuldung das Wort. Ausgerechnet Sie, Herr Bundeskanzler! Das ist ein Offenbarungseid, insbesondere des Herrn Stoltenberg,

    (Bundesminister Dr. Stoltenberg: Das habe ich schon im Dezember gesagt!)

    der nur deswegen noch im Amt ist, weil Herr Strauß trotz Ihres liebenswürdigen Angebotes das Amt nicht übernehmen wollte.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Stoltenberg, bisher als Säule des Kabinetts gefeiert, jetzt durch den Mund seines Kanzlers nur mehr zweite Wahl! Das hätte sich Herr Stoltenberg noch vor zehn Tagen nicht träumen lassen!

    (Beifall bei der SPD)

    Die Regierungserklärung war nicht nur ermüdend und blaß, sie läßt auch nicht erkennen, auf welchen Grundlagen, auf welchem Gesamtprogramm sie eigentlich beruht. Im Gegensatz dazu haben wir Sozialdemokraten für unsere Politik einen Gesamtentwurf erarbeitet.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Das ist ja nicht wahr! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Den die Wähler nicht wollten!)

    Er findet sich in den Beschlüssen, die wir im August vergangenen Jahres in Nürnberg gefaßt haben und in dem im Anschluß daran in Offenburg verabschiedeten Programm für diese Legislaturperiode.

    (Seiters [CDU/CSU]: Da war doch noch der Herr Rau! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Aus ihnen — den Beschlüssen und dem Programm — ergeben sich unsere alternativen Konzepte für die fünf aktuellen Schwerpunkte der deutschen Politik, nämlich für die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die Wiederherstellung und Bewahrung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Friedens, die Erneuerung unseres Verhältnisses zur Umwelt und zur Natur,
    die Verteidigung und Bewahrung der inneren Liberalität und schließlich die Sicherung des Friedens.

    (Pfeffermann [CDU/CSU]: Da war doch noch etwas! — Dr. Jobst [CDU/CSU]: Nur darüber, wer das bezahlen soll, sagen Sie nichts!)

    Für jeden dieser Schwerpunkte haben wir bereits konkrete Vorlagen eingebracht. Meine Kolleginnen und Kollegen werden zu den einzelnen Sachgebieten im Laufe der Debatte noch ausführlich Stellung nehmen.

    (Seiters [CDU/CSU]: Die Besten für Deutschland!)

    Ich konzentriere mich deshalb auf einige der wesentlichen Fragen.
    An erster Stelle steht für uns auch in dieser Legislaturperiode die Überwindung der Arbeitslosigkeit. Sie, Herr Bundeskanzler, haben vor vier Jahren versprochen, die Arbeitslosigkeit werde bis 1985 auf eine Million zurückgehen. Das war ein leeres Versprechen. Sie haben es in der Zeit des Aufschwungs, in der Zeit der drastisch fallenden Ölpreise nicht gehalten. Heute haben Sie wieder Hoffnungen erweckt. Die werden Sie in der Zeit abflachender Konjunktur erst recht nicht erfüllen und verwirklichen können.
    Ihre Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit haben bisher versagt;

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wie ist das mit Ihren Rezepten?)

    sie werden auch in Zukunft nichts bewirken. Sie setzen nach wie vor nahezu allein auf quantitatives Wachstum und meinen, die schon beschlossenen und die für 1988 und 1990 angekündigten weiteren Steuersenkungen würden das Wachstum selbst bei nachlassender Konjunktur in Gang halten. Ich habe schon dargelegt, warum diese Rechnung nicht aufgehen kann.
    Massenarbeitslosigkeit — und hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen Ihnen und uns — ist für uns nicht nur ein privates Problem der Betroffenen oder ein Problem der Wirtschaft. Massenarbeitslosigkeit ist vielmehr auch eine politische und gesellschaftliche Herausforderung ersten Ranges, die unsere ganze Gemeinschaft auf längere Sicht geradezu vergiften kann.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Deshalb bedarf es zu ihrer Überwindung einer ähnlich großen Gemeinschaftsanstrengung, zu der wir als Volk nach dem Krieg in Zeiten nationaler Armut bei der Eingliederung der Flüchtlinge und der Behebung der Wohnungsnot fähig waren. Kernstück dieser Gemeinschaftsanstrengung ist die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft, ist unser Projekt Arbeit und Umwelt, das jährlich 20 Milliarden DM zur Wiederherstellung zerstörter und zum Schutz bedrohter Umwelt verfügbar macht

    (Feilcke [CDU/CSU]: Woher nehmen?)

    und schon im ersten Jahr mehrere 100 000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Das ist für uns ebenso ein Akt



    Dr. Vogel
    der Solidarität mit den Arbeitslosen wie die weitere Arbeitszeitverkürzung und die Verstärkung der Investitionskraft der Gemeinden durch die Verbesserung ihrer Einnahmen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir werden Sie Punkt für Punkt mit unseren konkreten Vorschlägen konfrontieren. Im einzelnen wird es dabei um die Stärkung der kommunalen Finanz- und Investitionskraft, um die Modernisierung und finanzielle Konsolidierung der Bundesbahn, nicht um die Privatisierung — das klang bei Ihnen heute morgen ziemlich deutlich heraus — der Bundespost, sondern um die Erweiterung des Angebots öffentlicher Dienstleistungen, um die steuerstundende Investitionsrücklage für das Handwerk, von der heute morgen auch nicht die Rede war, und darum gehen, die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Außerdem werden wir zur Unterstützung des Kampfes der Gewerkschaften um die 35-StundenWoche erneut eine Initiative für ein modernes Arbeitszeitgesetz ergreifen.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie, meine Damen und Herren, werden uns dann erklären müssen, warum Sie eigentlich noch immer an einer gesetzlichen Regelarbeitszeit von 48 Wochenstunden und an einer exzessiven Überstundenregelung festhalten wollen. Wir halten dieses Festhalten an einem Gesetz aus dem Jahre 1938 für — um mit Ihren eigenen Worten zu sprechen — dumm, absurd und töricht.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Dr. Waigel [CDU/CSU]: Warum haben Sie es in Ihrer Regierungszeit nicht abgeschafft?)

    Wir versichern den Gewerkschaften auch von dieser Stelle aus unsere Solidarität.
    Sagen Sie nicht, unsere Vorschläge verstießen gegen die Marktwirtschaft. Wir bejahen den Markt als Instrument der Informationsverarbeitung, des wirtschaftlichen Einsatzes der vorhandenen Mittel, des Wettbewerbs und der Steuerung von Angebot und Nachfrage. Aber wir erheben den Markt nicht zum Götzen, dem beliebige Opfer darzubringen sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir kennen die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Marktes. Wir wissen und haben es in der Erfahrung beobachten können: Der Markt ist blind für die sozialen und regionalen Folgen seiner Entscheidungen. Deshalb bedarf er fester Rahmenbedingungen und auch korrigierender Eingriffe, wann und wo Schäden nicht anders abzuwenden sind. Ganz abgesehen davon, daß die Marktgesetze beim Stahl in Europa zu unseren Lasten außer Kraft gesetzt sind, bekräftige ich deshalb für die Sozialdemokraten: Was immer die Logik des Marktes besagt — das Aus für die Kohle, den Stahl und den Schiffsbau wird es mit uns Sozialdemokraten nicht geben.

    (Beifall bei der SPD)

    Und wo Anpassungen notwendig sind, müssen sie von der Gemeinschaft sozial und regional erträglich gestaltet werden.
    Wir überlassen die Betroffenen nicht einfach ihrem Schicksal. Und lassen Sie mich das hier mit Freimut sagen: Wir lassen die Stahlarbeiter auch nicht eine Woche lang unbeachtet auf dem Bonner Münsterplatz stehen. Wir sprechen mit ihnen über ihre Not: auf dem Münsterplatz und gestern auch hier in unserer Fraktionssitzung. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch Sie, Herr Bundeskanzler, falls Sie es nicht inzwischen getan haben, ein unmittelbares Gespräch mit diesen gutwilligen Menschen führen würden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir fordern eine nationale Stahlrunde unter Ihrem Vorsitz — die Sache ist wichtig genug, daß Sie in Person den Vorsitz übernehmen — , ein Konzept, das die Stahlstandorte in ihrem Kern erhält, ein Programm für diese Standorte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur", aus der Sie, meine Herren, übrigens Hattingen noch bis vor kurzem streichen wollten — erst eine energische Intervention von nordrhein-westfälischer Seite hat die Verdrängung von Hattingen aus der Regionalen Gemeinschaftsaufgabe wenigstens zeitlich hinausgeschoben — , eine energische Intervention gegen die exzessiven Subventionen in anderen europäischen Ländern und die volle Ausschöpfung der Mittel des EG-Sozialfonds, die bisher an bundesrepublikanischen Vorschriften und nicht an Brüssel gescheitert ist. Ebenso fordern wir die Fortsetzung der Kohlevorrangpolitik.
    Ohne die nachhaltige Senkung der Arbeitslosigkeit ist soziale Sicherheit nicht zu gewährleisten. Sie zu gewährleisten, ist für den Sozialstaat ein Verfassungsgebot. Sie, Herr Bundeskanzler und Ihre Koalition, haben sowohl die soziale Gerechtigkeit als auch den sozialen Frieden nachhaltig beschädigt.
    Über die Verfassungsmäßigkeit der von Ihnen durch die Änderung des § 116 AFG herbeigeführten Eingriffe in die Koalitionsfreiheit und in die Ansprüche der Arbeitnehmer gegen die durch ihre Beiträge und nicht aus der Steuerkasse finanzierte Bundesanstalt in Nürnberg — Ansprüche, von denen das Bundesverfassungsgericht sagt, daß sie Eigentumscharakter haben — wird auf unseren Antrag das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Schon jetzt hat diese von Ihnen durchgesetzte Maßnahme im übrigen zu einer deutlichen Verhärtung zwischen den Tarifparteien und auf seiten der Arbeitnehmer zu einer verständlichen Verbitterung geführt. Herr Breit und Herr Fehrenbach werden Ihnen das bei der letzten Begegnung überzeugend dargelegt haben.
    In anderen Fällen werden wir Sie hier im Parlament zwingen, das von Ihnen begangene Unrecht zu korrigieren oder noch einmal vor aller Öffentlichkeit zu verantworten: Das Unrecht an den Arbeitnehmerkindern, denen Sie das Schüler-BAföG gestrichen haben. Oder das bittere Unrecht gegenüber den älteren Müttern, denen Sie, was immer Sie hier auch sagen, zu einem großen Teil noch immer das Babyjahr vorenthalten und von denen viele es auch nicht mehr erleben werden.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Warum haben Sie es nicht eingeführt?)




    Dr. Vogel
    Oder das Unrecht, das Sie mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz vor allem Hunderttausenden von Frauen angetan haben, die nur auf Zeit eingestellt werden und deshalb keinerlei Kündigungsschutz besitzen, noch nicht einmal im Falle der Schwangerschaft.
    Zu den großen Problemen der sozialen Sicherung liegen unsere Konzepte bereits auf dem Tisch. Zur Rentenreform haben wir einen ausformulierten Entwurf vorgelegt, der Beiträge, Bundeszuschüsse und Rentenleistungen in ein langfristiges Gleichgewicht bringt. Ebenso haben wir zur Reform des Gesundheitswesens und zur Einführung einer Grundsicherung konkrete Vorstellungen entwickelt. Auf allen drei Feldern wie auch hinsichtlich des Pflegekostenrisikos, das immer mehr alte Menschen bedrückt und ihnen den Lebensabend vergällt, sind nunmehr Sie am Zuge. Wir haben Ihre Erklärungen gehört. Wir harren der Konkretisierung.
    Für unsere Umweltpolitik bleibt die Einsicht maßgebend, die der Herr Bundespräsident vor kurzem so umschrieben hat: Nur wenn wir die Natur um ihrer selbst willen schützen, wird sie uns Menschen erlauben zu leben. — Unsere konkreten Initiativen zur Aufnahme des Staatsziels Umweltschutz in das Grundgesetz, denen Sie sich jetzt nach jahrelangem Sträuben endlich anschließen wollen, unsere Vorschläge zur Einführung der Verbandsklage und für eine umweltfreundliche Chemiepolitik entsprechen dieser Einsicht, ebenso das Programm „Arbeit und Umwelt". Dieses Programm macht im übrigen deutlich, daß die Schaffung und die Sicherung von Arbeitsplätzen und der Schutz der Umwelt einander nicht widersprechen oder gar ausschließen. Richtig ist das Gegenteil. Der Schutz und die Wiederherstellung der Umwelt schaffen Arbeit. Umgekehrt sind auf Dauer nur umweltfreundliche Arbeitsplätze sicher. Das wissen die betroffenen Arbeitnehmer — etwa in der Chemie — selbst am besten. Deshalb verfängt der Versuch, sie gegen umweltschützende Maßnahme zu mobilisieren, immer weniger.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Sie haben heute morgen bei der Nutzung der Atomkraft „weiter so" gesagt und werten die damit verbundene Gefahr als ein Restrisiko, das man vernachlässigen könne. Wir hingegen sind in einem langen und schwierigen Lernprozeß zu der Erkenntnis gelangt, daß die Atomkraft nur noch für eine bestimmte und begrenzte Übergangszeit als Energiequelle verantwortet werden kann. Denn spätestens seit Tschernobyl steht in unserem Bewußtsein, daß das sogenannte Restrisiko der Atomkraft durchaus real ist, daß es im Falle seines Eintritts — das ist das Neue — Schäden verursacht, die weder eine zeitliche noch eine räumliche Grenze kennen und deshalb alle bisherigen Katastrophenerfahrungen der Menschheit weit übersteigen und daß es deswegen von fehlbaren Menschen, die weder eigenes Versagen noch Materialfehler oder Irregularitäten des Verfahrens mit völliger Sicherheit ausschließen können, nicht verantwortet werden kann.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir haben konkrete Vorstellungen entwickelt, wie wir, entsprechende Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt, im Zeitraum eines Jahrzehnts zu einer sicheren Energieversorgung ohne Atomkraft gelangen können.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Und so lange können Sie es verantworten!)

    Diese Vorstellungen sind nicht wissenschafts- oder technologiefeindlich, wie Sie ständig behaupten. Im Gegenteil: Wir Sozialdemokraten haben Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, zu unseren Ingenieuren und zu unseren Facharbeitern. Wir trauen ihnen zu, daß sie die gewaltigen Reserven der Energieeinsparung nutzen und alternative Arten der Energieerzeugung entwickeln können, wenn wir nur unsere Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, das Folgende sage ich jetzt mit einer betonten Nachdenklichkeit: Wenn es um neue militärische Technologien, wenn es um immer tödlichere Waffen oder Systeme geht, dann ist alles möglich, dann ist kein Aufwand zu hoch, dann ist keine Frist zu kurz. Von der ersten gelungenen Atomspaltung von Hahn, Meitner und Straßmann im Jahre 1938 bis zum Abwurf der ersten Atombombe hat es ganze sieben Jahre gedauert. Wir weigern uns, zu akzeptieren, daß Wissenschaft und Technik zu solchen Anstrengungen nur auf militärischem, nicht aber auf zivilem Gebiet fähig sein sollten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Alle Anstrengungen im eigenen Land sind vergeblich, wenn der Frieden nicht gewahrt bleibt. Die Bewahrung des Friedens und die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist nach unserem Grundgesetz oberste Richtschnur für unser gesamtes staatliches Handeln.
    Wir bejahen das Atlantische Bündnis, nicht um seiner selbst willen, sondern als ein Mittel zur Bewahrung des Friedens. Ebenso bejahen wir die Bundeswehr. Auch sie ist für uns ein Mittel der defensiven Kriegsverhütung und findet darin ihre Rechtfertigung, aber auch die Grenzen ihres Auftrags.
    Wir anerkennen das Engagement derer, die den Wehrdienst absolvieren oder den Dienst in der Bundeswehr als Beruf gewählt haben. Wir anerkennen ebenso mit Dank das Engagement derer, die auf Grund ihrer Gewissensentscheidung Zivildienst leisten.

    (Beifall bei der SPD)

    Das Bündnis beruht auf einer Übereinstimmung der Verbündeten darüber, wie eine Gesellschaft verfaßt, wie die Machtausübung des Staates gegenüber seinen Bürgern begrenzt sein soll. Diese Übereinstimmung ist auch das Fundament unserer freundschaftlichen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Das Bündnis hat für uns einen hohen Wert. Es bedeutet aber keine Preisgabe der Souveränität, keinen Verzicht auf die Geltendmachung unserer nationalen Interessen und keine Verpflichtung, allen Ansichten



    Dr. Vogel
    und Initiativen der jeweiligen US-Administration kritiklos und womöglich noch mit Beifall zu folgen.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb sage ich: Nicht wenige Entwicklungen der amerikanischen Politik erfüllen uns mit Sorge. Das gilt unverändert für das gigantische Leistungsbilanzdefizit. Das gilt für die Handhabung der Nah-Ost-Politik, bei der die Kriterien dafür, wann bei vergleichbaren Sachverhalten Luftangriffe befohlen und wann Raketen oder andere Waffen geliefert werden, nicht mehr deutlich zu erkennen sind.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

    Das gilt für die Interventionspolitik in Mittelamerika. Und das gilt auch für die Schwächeerscheinungen, die sich infolge der Iran-Affäre im Verlauf der zweiten Amtszeit des Präsidenten bemerkbar machen.
    Im Bündnis widersprechen wir der Fortsetzung des atomaren Rüstungswettlaufs und seiner Ausdehnung auf den Weltraum. Wir fordern einen unverzüglichen und umfassenden Atomteststopp und bedauern, daß das anderthalbjährige Moratorium der einen Seite nicht genutzt worden ist, um hier tatsächlich zu einem Durchbruch zu kommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir unterstützen die sofortige Verwirklichung der Null-Lösung. Ihre Behauptung heute morgen, Herr Bundeskanzler, Sie hätten wesentlich dazu beigetragen, daß die Null-Lösung jetzt eine Chance habe, ist schon deswegen wenig eindrucksvoll, weil die lautesten Gegner der Null-Lösung, weil diejenigen, die sie umfaßt, um jeden Preis verhindern wollen, doch in Ihren eigenen Reihen, insbesondere in den Reihen der CSU, sitzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein konstruktiver Beitrag zur Verminderung der Bedrohung durch taktische Atomwaffen ist der atomwaffenfreie Korridor. Wird er nämlich verwirklicht, erreicht die Masse der Kurzstreckenraketen nur noch das eigene Territorium, nicht mehr aber das eines anderen Staates. Es ist auch deshalb immer schwerer zu begreifen, warum Sie diesen Vorschlag nicht aufnehmen und zum Gegenstand ernsthafter Verhandlungen mit der DDR-Führung machen.

    (Beifall bei der SPD)

    Seit dem Harmel-Bericht vom Dezember 1967 — und hier stimme ich Ihnen zu — hat sich das Bündnis dafür entschieden, die Politik der Kriegsverhütungsfähigkeit mit einer Politik der Entspannung zu verknüpfen. Die von uns, vor allem von Willy Brandt und — ihn darf ich an seinem heutigen Geburtstag ausdrücklich erwähnen — Egon Bahr eingeleitete erste Phase der Entspannungspolitik war überaus erfolgreich.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie hat die Lebensverhältnisse der Menschen in beiden Teilen Europas, insbesondere aber in den beiden deutschen Staaten, in einem Maß verbessert, das zu Beginn der 70er Jahre fast unvorstellbar gewesen wäre.

    (Beifall bei der SPD)

    Selbst die Aktivitäten der Stahlhelm-Abteilung und Ihre eigenen Fehlleistungen wie etwa dieser schlimme Vergleich haben die von uns Sozialdemokraten gegen Ihren erbitterten Widerstand in Gang gesetzte Dynamik dieses Prozesses nicht nachhaltig beeinträchtigen können.
    Nunmehr ist die Zeit reif für eine zweite Phase der Entspannungspolitik. Veränderungen in der Sowjetunion bieten dafür eine zusätzliche Chance. Es bleibt abzuwarten, ob Ihre heutigen Ausführungen ausreichen, um die Hindernisse zu beseitigen, mit denen Sie selbst im Herbst letzten Jahres diese Chance zunächst einmal verbaut und verbarrikadiert haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß es so sein möge. Es liegt doch in unserem nationalen Interesse, diese Chance für eine breitere wirtschaftliche Zusammenarbeit, für einen stärkeren kulturellen Austausch, für eine intensivere Begegnung der Menschen und für eine immer größere Durchlässigkeit der Grenzen zu nutzen. Wir haben doch dabei nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Der Abbau von Feindbildern und der friedliche Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen werden sich zugunsten der Menschenrechte und zugunsten der Stabilisierung in Europa auswirken.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das gilt vor allem auch für unser Verhältnis zu Polen, mit dem der von Willy Brandt eingeleitete Versöhnungsprozeß weiter voranschreiten muß.
    In einer neuen Phase der Entspannungspolitik müssen auch die Beziehungen der beiden deutschen Staaten weiter ausgebaut werden. Ansatzpunkte dafür gibt es genug. Sie haben die wichtigsten genannt. Ich nenne außerdem den Dialog über die Friedenssicherung in Mitteleuropa und über abgestimmte Initiativen zur Vertrauensbildung und zur Abrüstung unter Wahrung der beiderseitigen Bündnisloyalität. Entscheidend ist und bleibt dabei für uns die Lebenssituation der Menschen: daß sie öfters reisen können, daß die in Helsinki vereinbarte Freizügigkeit langsam genug, aber doch Fortschritte macht, daß — ich glaube, dies ist ein ganz wichtiger Punkt — mehr und mehr Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Städte und Landschaften der DDR aus eigener Anschauung kennen,

    (Beifall bei der SPD)

    daß wir den Stolz der Menschen dort auf ihre Leistungen verstehen und respektieren, daß wir bei aller Ablehnung der dortigen Gesellschaftsordnung lernen, daß nicht alles in der DDR schlechter, manches nur anders, manches auch besser als bei uns ist; das ist wichtig.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Um einen weiteren Fortschritt zu erreichen, müssen wir aber auch auf die Wünsche der DDR eingehen, deren Erfüllung weder dem Grundgesetz noch unseren wohlverstandenen Interessen widersprechen. Daß es bei der Erfassungsstelle Salzgitter, und bei der Festlegung der Elbegrenze Spielräume gibt, hat vor kurzem — ich darf mich auf ihn berufen — der rhein-



    Dr. Vogel
    land-pfälzische Ministerpräsident bestätigt. Wir sollten diese Spielräume in unserem Interesse nutzen. Damit könnte die Mauer, deren völlige Beseitigung unser Ziel bleibt, wieder ein Stück durchlässiger werden. Damit stärken wir zugleich die Gemeinschaft der Geschichte, der Kultur, der Sprache und der Gefühle, d. h. aber die nationale Gemeinschaft, die uns in beiden deutschen Staaten unverändert verbindet und die zu pflegen und zu bewahren uns die Präambel des Grundgesetzes aufgibt, eine Position, die niemand von uns in Frage stellt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Übrigens beobachten wir mit Schmunzeln, wie sich hohe Repräsentanten Ihrer Partei voller Eifer und bis an die Grenze der Beflissenheit darum bemühen, ihren Gesprächsrückstand mit der DDR-Führung aufzuholen. Wie wir am vergangenen Wochenende beobachten konnten, kommt es bei diesen Versuchen mitunter zu regelrechten Stauungen. Aber wir sind überzeugt: Frau Wilms wird die Sache jetzt in Ordnung bringen und für eine bessere Koordinierung sorgen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Bötsch [CDU/ CSU]: Das ist sehr uncharmant, Herr Vogel!)

    Ein Brennpunkt der deutsch-deutschen Beziehungen und der Ost-West-Beziehungen ist und bleibt Berlin. Namens meiner Fraktion erneuere ich unsere Bereitschaft zur Kooperation in Fragen, die Berlin betreffen. Zwei Probleme der Stadt stehen jetzt im Vordergrund: die Bewältigung der neuerdings auch in Berlin wieder steigenden Arbeitslosigkeit und die dauernde Sicherung der Altbaumieter, deren Schutz sonst vom Jahre 1988 an auslaufen würde. Wir werden Ihnen dazu alsbald einen konkreten Vorschlag unterbreiten.
    Eine weitere Entscheidung, so meinen wir Sozialdemokraten, ist überfällig, nämlich die über die Einladung des Regierenden Bürgermeisters zum Staatsakt der DDR aus Anlaß des 750jährigen Stadtjubiläums. Herr Diepgen sollte diese Einladung jetzt ohne Rücksicht auf den Widerstand, der sich in der CDU bis in den Berliner Senat hinein bemerkbar macht, unverzüglich in aller Form annehmen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das kann dann durchaus mit der Rechtsverwahrung hinsichtlich des Vier-Mächte-Status verbunden werden, die Richard von Weizsäcker anläßlich des Besuches artikulierte, den er als Regierender Bürgermeister dem Staatsratsvorsitzenden schon 1983 abgestattet hat.
    In der Forderung nach einem starken und handlungsfähigen Europa stimmen wir überein. Die Handlungsfähigkeit muß sich allerdings zunächst einmal bei der Lösung des Problems bewähren, das die Gemeinschaft seit Jahren vor sich herschiebt, ich meine: bei der Reform der europäischen Agrarpolitik.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    In Wahrheit, meine Damen und Herren, handelt es
    sich dabei schon lange nicht mehr um Politik, sondern
    um einen handfesten Skandal, der zum Sprengsatz der Gemeinschaft werden kann, wenn wir ihn nicht überwinden.

    (Beifall bei der SPD)

    Dieser Skandal verschlingt immer höhere Milliardenbeträge, zuletzt, 1986, 47 Milliarden, davon rund 15 Milliarden aus unserem EG-Beitrag, damit Produkte, für die keinerlei Bedarf besteht, zunächst erzeugt, dann mit hohen Kosten eingelagert und schließlich mit noch höheren Kosten auf dem Weltmarkt abgesetzt, verschenkt oder sogar vernichtet werden.
    Diese Politik beraubt Europa der Mittel, die es für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für die Behebung der Stahlkrise und für die regionale Strukturförderung dringend benötigt, und sie ruiniert unsere bäuerlichen Familienbetriebe in immer rascherem Tempo.
    Die Kommission, zu der ja immerhin auch Ihr Parteifreund Narjes gehört, bemüht sich um eine Änderung dieser Politik. Dabei mögen der Kommission im einzelnen bei ihren Vorschlägen Fehler und Irrtümer unterlaufen; aber zur Grundrichtung ihrer Vorschläge — Verminderung der Produktion, Einfügung stärkerer Marktelemente, direkte Einkommensübertragungen — gibt es nach unserer Überzeugung keine vernünftige Alternative.

    (Beifall bei der SPD)

    Es ist doch sinnlos, Herr Bundeskanzler, ja kontraproduktiv, wenn Sie Herrn Kiechle dagegen frontal anrennen und von Kriegserklärungen reden lassen oder Ihrem Parteifreund Narjes mit der Abberufung drohen. Das hilft den deutschen Bauern nicht und führt uns auch innerhalb der EG nur in die totale Isolierung, die dann auch Sie nicht mehr durchbrechen können.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir werden jedenfalls einer Fortsetzung eines solchen politischen Kurses und weiteren mengenorientierten Subventionen, in welcher Form auch immer, entschieden widersprechen, flächenbezogene Hilfen und direkte Einkommensübertragungen hingegen unterstützen. Unterstützen, weil unsere Gesellschaft und unsere Kulturlandschaft wohl auf Agrarfabriken, nicht aber auf die bäuerlichen Familienbetriebe und die bäuerliche Lebensform verzichten kann. Sie wäre ärmer, wenn es dies nicht mehr gäbe.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Auch von der Agrarpolitik abgesehen droht der Gemeinschaft nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte ein Zustand der Ermattung, indem die Enttäuschung oder die alltäglichen Streitigkeiten und Unzulänglichkeiten den Fortgang des Einigungsprozesses lähmen. Dem dürfen wir nicht nachgeben. Im Gegenteil: Wir brauchen gerade jetzt eine europäische Initiative, die das wirtschaftliche, das geistige und das historische Gewicht Europas gegenüber den beiden Weltmächten zum Tragen bringt, die ja zunehmend mit sich selber beschäftigt sind. Gerade jetzt in dieser Phase hätte Europa die Chance, nicht länger nur Objekt der Interessengegen-



    Dr. Vogel
    Sätze der Weltmächte zu sein. Es könnte endlich ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen einfordern, die sein eigenes Schicksal betreffen. Es kann auf die Dauer nicht richtig sein, daß die beiden Weltmächte in Genf über unser Schicksal verhandeln, und Europa sitzt dort nicht mit am Tisch.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Dazu bedarf es des engsten Einvernehmens mit Frankreich, dazu bedarf es eines überparteilichen Ansatzes, der über die herkömmlichen Fronten hinweg allen kooperationswilligen Kräften die Beteiligung ermöglicht. Für meine Fraktion wird Kollege Ehmke am Freitag dem Deutschen Bundestag das Konzept einer solchen Initiative vortragen.
    Eine solche europäische Initiative ist nicht das einzige Thema, bei dem uns eine Zusammenarbeit über die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg in diesem Hause mit dem Ziel geboten und möglich erscheint, daß wir über die Fraktionsgrenze hinweg zu einer gemeinsamen Antwort kommen.
    Diese Gemeinsamkeit haben wir beispielsweise bisher — und ich danke dafür — bei den Bemühungen um die Rettung unserer im Libanon entführten Landsleute praktiziert. Wir appellieren — und ich nehme an, Sie alle schließen sich dem an — auch bei dieser Gelegenheit an alle, die dazu etwas beitragen können, alles zu tun, damit diese und alle übrigen Geiseln aus dem Libanon zu ihren Familien zurückkehren können.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Dabei wissen wir aus den Erfahrungen der 70er Jahre, die wir ja auch gemeinsam bestanden haben, daß Anschlägen dieser Art nur durch eine Haltung begegnet werden kann, die Festigkeit, Geduld und Klugheit miteinander verbindet, die — wie Helmut Schmidt das seinerzeit formuliert hat — nichts versäumt und nichts verschuldet.
    Es entspricht seit 1949 einer guten Tradition, daß Opposition und Regierung die großen Entscheidungen zur Weiterentwicklung und Reform der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Alterssicherung gemeinsam tragen. Wir sind dazu bereit, diese Tradition im Interesse der großen Teile unseres Volkes, um deren Wohlfahrt es dabei geht, fortzusetzen. Allerdings — ich habe das schon zum Ausdruck gebracht — würde diese Bereitschaft erheblich Schaden leiden, wenn Sie an der Absicht festhalten, uns nach Jahrzehnten den Vorsitz im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu nehmen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir würden es begrüßen, wenn auch in der Ent-spannungs-, der Ost- und der Deutschlandpolitik die Elemente der Übereinstimmung wieder deutlicher hervortreten würden. Das hängt allerdings in erster Linie davon ab, ob sich in den Reihen der Union die Linie der Vernunft durchsetzt oder ob die sogenannte Stahlhelmgruppe die Oberhand behält. Mit deren Positionen — damit da kein Irrtum entsteht — ist für Sozialdemokraten keine Gemeinsamkeit möglich.

    (Beifall bei der SPD)

    Zusammenarbeit erfordert schließlich die große Herausforderung, die wir in ihrer ganzen Tragweite erst in den letzten Wochen und Monaten erkennen. Ich meine die Herausforderung durch AIDS. Wenn wir dieser Herausforderung begegnen wollen, müssen wir zunächst einmal realisieren, daß die durch die neue Krankheit geschaffene Situation nicht nur eine medizinische, sondern auch eine eminent gesellschaftspolitische Dimension besitzt. Dies vor allem deshalb, weil gegenüber der Krankheit auf nicht absehbare Zeit in Ermangelung medizinischer Immunisierungs- und Heilungsmethoden nur nachhaltige Veränderungen menschlichen Verhaltens im Intimbereich, d. h. konkret der Sexualpraktiken, Schutz bieten. Und weil die aktuelle Gefahr besteht, daß die latent vorhandene Neigung zur Diskriminierung von Minderheiten, die von einzelnen konservativen Gruppen ohnehin bei jeder Gelegenheit gefördert wird, hier voll zum Tragen kommt und sich explosionsartig unseres Volkes bemächtigt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und den GRÜNEN)

    Wer Konsens erreichen will, muß jede Hysterie, wie sie leider in den letzten Wochen durch einzelne Massenblätter gefördert worden ist, vermeiden. Er muß den Willen zur persönlichen Verantwortung stärken und vor allem ein gesellschaftliches Klima des Vertrauens darauf erhalten, daß es bei diesen Maßnahmen um Schutz und Hilfe, nicht aber um Verteufelung, Ausgrenzung oder gar um Brandmarkung geht.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Die in Bayern beabsichtigten Repressionsmaßnahmen, die weit ausgedehnten Meldepflichten, Zwangsuntersuchungen in einer Vielzahl von Fällen und Berufs- und Zugangsverbote nicht nur für Risikopersonen, sondern beispielsweise für den gesamten öffentlichen Dienst, werden von uns aus all diesen Gründen mit Entschiedenheit abgelehnt. Diese Repressionsmaßnahmen werden im Falle ihrer Verwirklichung einen Konsens von vornherein unmöglich machen.
    Hingegen erscheint ein solcher Konsens auf der Grundlage der von Frau Kollegin Süssmuth bisher beachteten Ansätze denkbar. Diese Ansätze dürfen jedoch nicht verschüttet werden. Sie bedürfen vielmehr der Weiterentwicklung und der Ergänzung. Wir werden dafür konkrete Vorschläge vorlegen und sind im übrigen jederzeit gesprächsbereit.
    Schon vorweg sollten wir uns jedoch hier in diesem Hause auf eine Enquete-Kommission verständigen, in der sich Politik und Wissenschaft gemeinsam um die Analyse der Gefahren und um die wirksamsten Wege zu ihrer Eindämmung bemühen. Dies wäre auch ein Signal an unser Volk, das dieses Haus über alle Gegensätze hinweg zu einer gemeinsamen Anstrengung in dieser Frage fähig ist.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, wir vermissen in wichtigen Punkten Ihre Antworten auf die Probleme, die heute konkret auf der Tagesordnung stehen. Aber wir vermissen ebenso Ihren Beitrag zur Diskussion der gro-
    86 Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1987
    Dr. Vogel
    ßen Fragen, die über den Tag hinausreichen. Sie sprechen so häufig von der geistig-politischen Krise, in der sich unser Volk befinde,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD!)

    und von der Notwendigkeit der geistig-moralischen Erneuerung. Aber da bleibt vieles verschwommen, da wird keine Orientierung sichtbar. Da wird nicht sichtbar und deutlich, welches Menschenbild und welches Staats- und Gesellschaftsverständnis eigentlich Ihrer Politik zugrunde liegt. Erst recht wird nicht deutlich, ob Ihre Politik das Ausmaß und die Intensität der Gefahren überhaupt erkannt hat, die es zu überwinden gilt und, so füge ich hinzu, zu deren Überwindung unser Volk auch fähig ist, wenn wir sie nur erkennen und aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlüsse ziehen.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Das ist unser Optimismus, Herr Bundeskanzler, unsere Zuversicht, die in der kritischen Rationalität wurzelt und die auf die solidarischen Kräfte unseres Volkes vertraut.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Bei Ihnen schimmert auch in grundsätzlichen Fragen durch alle Ritzen das in seiner Banalität so bedrohliche „Weiter so", das Ihren Optimismus aufgesetzt und mitunter oberflächlich erscheinen läßt. So oberflächlich wie den Umgang mit der Zukunft, die Sie zwar in zierlichem Blau auf Ihre Plakate gemalt haben, weil Sie meinen, so den Begriff der Zukunft okkupieren zu können, vor dessen inhaltlichen Dimensionen Sie aber gerade in Ihrer Erklärung heute morgen zurückgeschreckt sind und kapituliert haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Feilcke [CDU/CSU]: Sie haben doch Ihre Zukunft hinter sich!)

    Wir Sozialdemokraten haben gelernt: Die Macht der Menschen, etwas zu tun und in Raum und Zeit in weite Zukünfte hinein zu bewirken, ist in gewaltiger, ja, in erschreckender Weise über ihre Fähigkeit und Bereitschaft hinausgewachsen, Entwicklungen vorherzusehen, die möglichen Folgen ihres Tuns im voraus zu bewerten und das, wozu sie fähig sind oder fähig werden könnten, auch aus Einsicht zu unterlassen und nicht zu tun. Wir wissen: Die ethisch-moralische Kraft des Menschen hat mit dem unglaublichen Anwachsen seiner Zerstörungs- und Vernichtungskraft bisher nicht Schritt gehalten. Seine Kraft, auch die schädlichen Folgen seines Tuns, die er nicht beabsichtigt, vorauszusehen, steht nicht mehr mit dem gigantischen Ausmaß dieser möglichen Schäden im Einklang.
    Darum sind wir nicht mehr bereit, die technische und die ökonomische Entwicklung unkontrolliert dem Selbstlauf und dem Prinzip des grenzenlosen Wachstums zu überlassen. Sie sagten heute morgen wieder: Fortschritt hatte schon immer seinen Preis. Herr Bundeskanzler, hier liegt ein essentieller Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir sind nicht mehr bereit, diese
    Gleichung nach dem Motto „Weiter so" einfach hinzunehmen und mit dieser Gleichung zu leben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Darum sind für uns auch die bisherigen Strukturen nicht unantastbar, darum sagen wir dort „Nicht weiter so", wo das „Weiter so" in den Abgrund oder zu Ergebnissen führen würde, die mit unserem in Jahrtausenden gewachsenen Menschenbild unvereinbar sind. Zu diesem Menschenbild gehört — jedenfalls für mich — auch die Gottunmittelbarkeit jedes einzelnen Menschen, die es kategorisch verbietet, Menschen zum Objekt zu erniedrigen oder gar noch ungezeugte Generationen in die Jahrtausende hinein der Willkür von ihnen nicht mehr beherrschbarer Prozesse auszuliefern.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Dazu gehört — hier mag es dann Übereinstimmung geben — die Ehrfurcht vor allem Lebendigen, und dazu gehört ebenso, daß sich Menschen nicht für unfehlbar oder allmächtig erklären, auch nicht in der Großtechnologie, sondern daß sich die Menschen ihrer Unvollkommenheit bewußt bleiben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Diese Einsichten führen uns beispielsweise zu der Forderung, die Atomenergie zu überwinden und auf jede Genmanipulation zu verzichten.
    Natürlich brauchen wir auch in Zukunft Kapital für Investitionen, und wir brauchen ebenso die Technik und ihre Weiterentwicklung, aber wir wollen — übrigens im Einklang mit der katholischen Soziallehre —, daß die Arbeit das Kapital in den Dienst nimmt, nicht umgekehrt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir wollen, daß die Technik dem Menschen dient, nicht aber ihn zum Anhängsel macht. Und wir wollen — um es mit den Worten Adornos auszudrücken — eine Gesellschaft, die — jetzt zitiere ich wörtlich — aus Freiheit Möglichkeiten ungenutzt läßt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Um das zu erreichen, brauchen wir mehr Nachdenklichkeit und eine Veränderung des Bewußtseins, zu der uns übrigens gerade beide Kirchen immer wieder auffordern. Wir brauchen mehr Demokratie, mehr Mitwirkung. Wir brauchen die Einbindung von Wissenschaft und Technik in die politische Verantwortung. Wir brauchen — ich drücke es mit meinen Worten aus — mehr weibliche Grunderfahrungen und Denkweisen in der Politik

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    und schon deshalb, nicht nur aus zahlenmäßigen Erwägungen, mehr Frauen in der Verantwortung.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wir brauchen mehr Selbertun, wir brauchen mehr Selbstverantwortung des einzelnen, und wir brauchen die Wiederbelebung des ursprünglichen Genossenschaftsgedankens. Aber wir brauchen ebenso Solidarität, das Füreinander-Einstehen, auch in der Vielfalt



    Dr. Vogel
    der Vereine, Gruppen und Initiativen, auch der Initiativen, die uns hier lästig sind, weil noch nie ein Fortschritt erzielt worden ist, ohne daß es zunächst Gruppen gab, die den Mehrheiten lästig waren;

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    ein Füreinander-Einstehen, das die Sorge für andere eben nicht allein den anonymen Großorganisationen überläßt. Wir hätten gerne genauer gehört, wie Sie zu all diesen Fragen stehen.
    Einer aus Ihren Reihen, der darüber nachgedacht hat, der frühere Leiter der Planungsabteilung im Adenauer-Haus, hat die Ansicht geäußert, daß Sie mit Rezepten von gestern arbeiten, die heute nicht mehr taugen. Herr Biedenkopf artikuliert diese Zweifel ja noch nachdrücklicher. Ich fürchte, diese Herren — auch Herr Biedenkopf — haben recht. Vieles von dem, was Sie sagen und auch heute gesagt haben, läßt Sie als Epigonen der „Reaganomics", als Nachfahren einer konservativen Welle erscheinen, die sich in ihrem Ursprungsland inzwischen schon zu verlaufen beginnt, jedenfalls ihren Höhepunkt dort bereits überschritten hat,
    Als Epigone dieser Strömung erscheinen Sie übrigens auch mit Ihrer Geschichtspolitik, mit der Art und Weise, wie Sie trotz Ihrer gegenteiligen Beteuerungen die Geschichte zur Stabilisierung Ihres Einflusses zu instrumentalisieren und mit Beschlag zu belegen versuchen. Herr Bundeskanzler, es ist doch kein Zufall, daß der Historikerstreit über die Singularität oder die Vergleichbarkeit von NS-Verbrechen mit anderen Geschehnissen gerade in Ihrer Ägide und unter Assistenz des Ihnen doch nicht unbekannten Herrn Professor Stürmer in Gang gekommen ist.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Es ist doch kein Zufall, daß gerade jetzt gefordert wird — übrigens nicht von irgend jemandem, sondern von Herrn Strauß —, mit den „Demutsreden aus allerhöchstem Munde" — wen wird er da wohl gemeint haben? — müsse endlich Schluß sein. Warum eigentlich, Herr Bundeskanzler — und das frage ich in großem Ernst — , sind Sie in Ihrer Regierungserklärung, in der für alles und jedes Platz war, auf die Verfolgten der Gewaltherrschaft, die noch heute auf eine Wiedergutmachung warten, die zumindest auf eine Verbesserung der Härtefallregelung hoffen, mit keinem Wort eingegangen?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Sie sagen zu all dem „Weiter so"? Selbstzweifel sind Ihnen eben fremd.

    (Rühe [CDU/CSU]: Im Unterschied zu Ihnen!)

    Wir erleben zur Zeit, wie Generalsekretär Gorbatschow mit eindrucksvollem Engagement und bemerkenswerter Risikobereitschaft versucht, die erstarrten Strukturen seines Gesellschaftssystems zu lockern und die Rahmenbedingungen dieses Systems in wesentlichen Punkten zu verändern, wie er, der wohl nicht zufällig von dem „Haus Europa" spricht, versucht, sein Land europäischen Grundströmungen stärker zu öffnen. Sie haben das zunächst einmal als Propaganda abgetan. Heute haben Sie diese Beurteilung und Einschätzung erfreulicherweise etwas korrigiert. Und Sie haben angedeutet, daß sich die Sowjetunion anschicke, sich auch Erfahrungen anderer zu eigen zu machen und daraus zu lernen. Das ist sicher richtig. Aber, Herr Bundeskanzler, gibt es denn nicht auch bei uns die Gefahr der Erstarrung? Auch Sie erklären doch Ihnen vertraute Annahmen, etwa die Sachzwänge der Wachstumsphilosphie, die These von der Wertfreiheit des technischen Fortschritts und der Forschung, überhaupt die meisten überkommenen Strukturen für unantastbar. Und Sie leugnen doch mit dem, was Sie heute vorgetragen haben, daß wir uns in einem tiefen Umbruch befinden.

    (Zurufe)

    — Wir können ruhig eine kleine Pause machen. Ich sehe, daß meine Anregungen hier auf fruchtbaren Boden fallen. Das Kabinett berät bereits. —

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Dem entspricht Ihre Neigung, Tatsachen auszublenden, die nicht zu Ihren Annahmen passen, und einzelne, aber auch ganze Gruppen auszugrenzen, als nicht mehr zur Gemeinschaft gehörig erscheinen zu lassen, wenn sie Ihren Annahmen widersprechen. Gruppen, die nicht warten wollen, bis Strukturen zerbrechen, sondern die diese Strukturen vorher ändern wollen. Darum fördert die Politik, die Sie treiben, die Entsolidarisierung. Darum fördern Sie bewußt das sogenannte Lagerdenken. Darum stört es Sie, wenn von den Arbeitslosen, den Armen, den Notleidenden und anderen Minderheiten die Rede ist. Darum grenzen Sie die GRÜNEN sowieso, aber auch einen immer größeren Teil von Sozialdemokraten, Teile der christlichen Kirchen, denen ausgerechnet Sie und Ihre Freunde jetzt immer häufiger empfehlen, sich doch um das Jenseits zu kümmern und ihre Botschaft nicht in die Probleme dieser Zeit hineinzusprechen, und auch wachsende Teile der Gewerkschaften und damit, Herr Bundeskanzler, zugleich — ob Sie wollen oder nicht — große Teile der Jugend aus, um die Sie heute morgen so beredt geworben haben.
    Neuerdings betreiben Sie die Ausgrenzung sogar in den eigenen Reihen. Herr Biedenkopf, den ich als Kollege in unserer Mitte begrüße, kann ein Lied davon singen.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Bei ihm hat schon die unschuldige Bemerkung zur Ausgrenzung genügt, daß die GRÜNEN richtige Fragen gestellt hätten. Schon das hat zur Ausgrenzung genügt.

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sie haben eine Reihe von Kollegen nicht begrüßt! Begrüßen Sie doch mal die Kanalarbeiter bei Ihnen!)

    Mit solchen differenzierenden Gedanken, Kollege Biedenkopf, kommen Sie bei Ihren neuen Kollegen nicht weit. Wie man es machen muß, hat Ihnen der Herr Kollege Seiters gezeigt.

    (Seiters [CDU/CSU]: Nicht verfälschen!)

    Er hat von dieser Stelle aus frei gewählten Abgeordneten zugerufen, was er wohl im stillen auch von



    Dr. Vogel
    Ihnen denkt: Sie gehören nicht hierher ins Parlament.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Abg. Seiters [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Unanständig wie immer, Herr Vogel! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

    Herr Biedenkopf, ich verrate Ihnen, daß das nicht nur der Herr Seiters denkt, sondern daß dies auch der Bundeskanzler denkt.

    (Seiters [CDU/CSU]: Sie verfälschen! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sonst können Sie nichts! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)