Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Inhalt unseres Antrages, um es gleich vorweg zu sagen, handelt es sich eigentlich um eine parlamentarische Selbstverständlichkeit,
vor allen Dingen um eine demokratische Selbstverständlichkeit.
Für diesen unseren Antrag, die Zahl der Stellvertreter/innen des Präsidenten zu erhöhen, sprechen mindestens fünf gute, demokratische Gründe.
Grund eins — fangen wir mit dem Einfachsten an, was so schwer zu machen ist — : Was ist eigentlich die Aufgabe eines demokratischen Parlaments? Nach unserer Verfassung ist das Parlament Ausdruck der grundgesetzlich vorgesehenen Teilung der Gewalten in diesem Staat. Das Parlament ist gerade nicht ausführendes Organ der Regierung, sondern soll der Regierung kritisch gegenüberstehen. Es hat neben der Aufgabe der Gesetzgebung — und auch die geht faktisch ja immer mehr in die Hände der Ministerien über — vor allen Dingen die Aufgabe der Kontrolle der Regierung. Jede Regierung, die nicht gründlich kritisiert wird, ist immer in der Gefahr, zu viel Macht und zu viel gefährliche Gewalt anzuhäufen und sogar auch illegal zu handeln. Wir hatten in der Vergangenheit mit der Flick-Affäre genügend Beispiele dafür.
Jetzt frage ich Sie: Wer kann diese Regierung nun eigentlich gründlich und konsequent kontrollieren? Schon der gesunde Menschenverstand sagt, daß dies ganz besonders die Aufgabe der Opposition sein muß. Von daher gäbe es gute und demokratische Gründe — und manche Länder praktizieren dies auch so —, daß der Präsident eines freien Parlamentes von der Opposition gestellt wird, ausdrücklich von ihr. Zumindest ist es ganz und gar undenkbar, daß das Präsidium überwiegend aus Mitgliedern jener Fraktionen zusammengesetzt ist, die sich ihrer Regierung schon subjektiv ganz besonders stark verpflichtet fühlen und darum gerade nicht als das Gremium handeln können, das im Gegenüber zum Regierungshandeln seinen eigentlichen Handlungsauftrag sieht.
Grund zwei: Als im Jahre 1949 der erste deutsche Bundestag zusammentrat, hat der damalige Präsident Erich Köhler in der ihm eigenen Sprache als eine der Hauptaufgaben definiert:
Wir wollen dienen den Armen und Bedürftigen, wir wollen die Selbstsucht in Schranken halten, und wir wollen den Schwachen vor dem Starken schützen.
Er hat damit den unbändigen Willen in der deutschen Bevölkerung damals ausgesprochen, eine ganz neue, freie, demokratische Gesellschaft zu schaffen, in der die Minderheiten von der Mehrheit nicht noch einmal tyrannisiert und unterdrückt werden sollten.
Daraus ergibt sich selbstverständlich, daß die Opposition und damit die Interessenvertretungen der Minderheiten in diesem Parlament von Anfang an eine besondere Bedeutung haben sollten. An diese gemeinsame Überzeugung, die damals unumstritten war, möchte ich Sie auch heute eindringlich erinnern, wenn es um eine so ganz kleine Frage der demokra-
Frau Dr. Vollmer
tischen Kultur geht, wie die, die wir heute diskutieren.
Alles, was nicht gepflegt und weiterentwickelt wird, droht verlorenzugehen oder sich zu verschlimmern. Das trifft ganz besonders auch auf die demokratische Kultur zu. Dabei sind wir, die GRÜNEN, längst nicht nur die Vertreter der Minderheiten, sondern über drei Millionen Wähler haben uns in der letzten Wahl ihre Stimme gegeben. Sie entscheiden heute darüber, ob Sie diese über drei Millionen Wähler zu Wählern zweiter Klasse machen wollen.
Grund drei: In diesen letzten Wahlen hat die Bevölkerung noch einen Willen eindeutig zur Kenntnis gegeben. Sie hat sozusagen ökologisch gewählt. Sie hat durch die Stärkung gerade der kleineren Parteien zum Ausdruck gebracht, daß sie eine Monokultur von zwei großen Parteien ablehnt. Sie hat gerade die kleineren Parteien ermutigen wollen, sich entscheidend in die Politik der großen einzumischen. Es liegt an Ihnen, diese Ermutigung zur Einmischung zu begreifen und danach zu handeln.
Grund vier: Ich möchte mich jetzt an jede einzelne und jeden einzelnen von Ihnen wenden, die Sie heute Ihr Mandat angenommen haben. Im Art. 38 steht über die Abgeordneten, daß sie Vertreter des ganzen deutschen Volkes sind, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Dies gehört zu den größten demokratischen Errungenschaften. Ich bitte Sie deshalb ausdrücklich, diese Gewissensfreiheit einmal ausnehmend zu nutzen. Es kann ja eine Zeit kommen, in der dieser unschätzbare Gebrauch der Gewissensfreiheit unabhängig vom Fraktionszwang für alle von uns und für unsere Bevölkerung in Überlebensfragen äußerst wichtig wird. Solche Freiheiten mutig zu nutzen, muß man früh genug anfangen zu üben. Sie haben heute dazu, finde ich, eine gute Gelegenheit, die nicht durch die Einschwörung in Fraktionsblöcke beengt werden sollte.
Wir werden deswegen auch eine geheime Abstimmung über diese Frage beantragen.
Grund fünf: Wie Sie wissen, schlagen wir Ihnen als Kandidatin der GRÜNEN für die Stellvertreterin des Präsidenten Christa Nickels vor. Nicht nur weil ich sie mag, meine ich, daß Ihnen diese Tatsache Ihre Entscheidung sehr einfach machen sollte. Christa Nickels als Kandidatin ist sozusagen eine vertrauenschaffende Maßnahme in Person.
Sie kennen sie aus ihrer bisherigen Arbeit; Sie kennen sie als eine unabhängige Demokratin mit eigenen Gedanken im Kopf, die sie auch sehr wohl tatkräftig zu vertreten weiß.
So ein Wirbelwind täte dem Kammerton des Präsidiums, denke ich, sehr gut.
Ich wünsche mir deswegen gerade in dieser Frage eine Solidarität auch über die Parteigrenzen hinweg, gerade auch von der Partei, die sich der Liberalität verpflichtet fühlt und insbesondere auch von den Frauen.
Ich bitte Sie als freigewählte Mitglieder dieses Parlaments, dieses Stückchen konkreten zivilen Ungehorsams gegen die vorgefaßten Beschlüsse Ihrer Vormänner und Vorreiter doch einmal zu praktizieren.
Dieses Stückchen Rebellentum würde sicherlich diesem Parlament sehr gut anstehen.
Machen Sie doch einmal, die Sie jetzt so schimpfen,
aus Ihrer Mördergrube ein Herz!
Geben Sie der Freiheitsluft in diesem Parlament doch einmal eine konkrete Chance. Sie würden uns durch eine solche Abstimmung außerordentlich erstaunen,
aber eigentlich würden Sie sich selbst und der Unabhängigkeit Ihrer Entscheidung damit den besten Dienst tun.