Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zuerst einmal möchte ich nachdrücklich bekräftigen, was der Herr Abgeordnete Purps hier ausgeführt hat. Es ist schon ein Unding, daß der drittgrößte Haushalt, der Verkehrshaushalt, zu so später Stunde hier behandelt wird. Das hat sicherlich auch berechtigte Gründe. Dieser Haushalt ist in der Öffentlichkeit nicht vorzeigbar, ohne daß die Menschen, die es betrifft, davon nicht auch berührt wären.
Es gibt trotzdem Gruppen, die mit dem Haushalt des Verkehrsministers eigentlich sehr zufrieden sein müßten. Da ist zuerst einmal die Straßenbaulobby. Die kann mit dem Verkehrsminister sehr zufrieden sein. Von 1982 bis 1987 ist der Mittelansatz für den Straßenbau um 550 Millionen DM, also über eine halbe Milliarde DM, angehoben worden. Es wird auch weiterhin jede Menge neuer Autobahnen geben: 2 400 Kilometer Autobahnen, 6 000 Kilometer Bundesstraßen, die demnächst über unsere schöne Landschaft hinweggegossen werden.
Zweitens kann die Lkw-Lobby zufrieden sein. Sie konnte, seit der Minister regiert, ihren Anteil von 80,4 Milliarden Tonnenkilometer erhöhen auf 91,6 Milliarden Tonnenkilometer im letzten Jahr. Weiterhin kann über hohe Steigerungsraten auch die Pkw-Lobby zufrieden sein. Immerhin ist, seit der Herr Verkehrsminister regiert, der Bestand an Pkw um weitere 3 Millionen gewachsen.
Außerdem hat es bei den Pkw-Fahrten eine Zunahme von 4 % gegeben, in diesem Jahr erstmals seit langen Jahren wieder eine Erhöhung der gefahrenen Kilometer, eine Erhöhung des Energieverbrauchs. Seitdem der Minister regiert, hat es in den letzten vier Jahren 200 000 Tonnen reale Erhöhung der Stickoxidemissionen und 15 000 Tonnen Erhöhung der Rußemission gegeben, nur aus dem Pkw-Bereich, den Lkw-Bereich noch gar nicht einmal hinzugerechnet.
Das sind die Nutznießer Ihrer Verkehrspolitik: Straßenbaulobby, Lkw-Lobby, Pkw-Lobby.
Dann kommen wir auf die zu sprechen, von denen hier leider nur sehr selten geredet wird, das sind die von Ihrer Politik betroffenen Menschen. Das sind all die Menschen, die vom Autoverkehr betroffen sind, auch wegen des ausufernden Lärms. Das ist die bedrohte Umwelt. Das ist der Wald, der weiter stirbt. Das sind die Kinder, deren Freiheit in ihrem Lebensraum immer weiter eingeschränkt wird.
Das sind die älteren Menschen, deren Freiheit eingeschränkt wird, weil sie sich in manchen Bezirken nicht mehr trauen, über die Straße zu gehen. Das sind die Fußgänger, die im Straßenverkehr mehr und mehr bedroht sind. Das sind auch die Fahrradfahrer, die immer wieder Leidtragende des motorisierten Verkehrs sind.
Meine Damen und Herren, es hat von 1983 bis 1985 140 000 — man stelle sich einmal diese Zahl vor — verletzte Fußgänger gegeben. 6 000 Fußgänger kamen im Straßenverkehr ums Leben. Es sind 2 000 Fahrradfahrer getötet und 180 000 Fahrradfahrer verletzt worden. Das sind die Zahlen. Das ist das Leid. Das sind die Menschen, über die hier im Parlament leider Gottes so gut wie überhaupt nicht geredet wird.
Hinzu kommt die Deutsche Bundesbahn als Leidtragende. Hier entwickelt sich geradezu der „Neue Heimat"-Skandal der Bundesregierung. Um es ganz deutlich auszudrücken: Die Bundesbahn ist mit über 38 Milliarden DM verschuldet. Die Verschuldung soll bei dieser Entwicklung bis 1990 auf 50 Milliarden DM anwachsen. Die Bundesregierung hat bei der Entschuldung überhaupt nichts getan. Ganz im Gegenteil, die Verkehrsanteile haben sich weiter verlagert zugunsten des Individualverkehrs und weiterverlagert zugunsten des Straßengüterfernverkehrs. Wir haben jetzt schon eine dramatische Entwicklung im Bereich des Güterverkehrsaufkommens bei der Deutschen Bundesbahn. Hier hat die Bundesregierung überhaupt nichts getan, und hier ist zu erwarten, daß wir etwas noch wesentlich Dramatischeres erleben als bei der Neuen Heimat, nämlich den Zusammenbruch des größten Verkehrsunternehmens der Bundesrepublik überhaupt.
Diese Entwicklung soll auch in den nächsten Jahren weitergehen. Die sogenannte Tarifreform bei der Deutschen Bundesbahn, hinter der sich nichts anderes verbirgt als eine verschleierte Tariferhöhung, eine Fahrpreiserhöhung, soll dazu führen, daß 3,3 % — so sagt der Bundesbahnvorstand selber — weniger Reisende auf der Schiene fahren. Diese werden demnächst also auf den Pkw umsteigen.
Im Güterverkehr ist es so, daß wir entgegen den Planungen schon in diesem Jahr einen Mindererlös von 500 Millionen DM haben. Das ist eine dramatische Entwicklung, die durch die Liberalisierung auf europäischer Ebene weiter vorangetrieben werden wird.
Während Ihrer Regierungszeit, Herr Minister, wurden bei der Deutschen Bundesbahn 50 000 Ar-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 250. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. November 1986 19531
Senfft
beitsplätze vernichtet. Wissen Sie, was das heißt, Herr Minister: 50 000 vernichtete Arbeitsplätze? Das heißt, daß 50 000 jungen Menschen eine anständige Chance verweigert wurde, einen Beruf in einem Zweig zu ergreifen, in dem es normalerweise einen Zuwachs geben muß. Die Bundesbahn darf nicht schrumpfen, sie muß wachsen. 50 000 Arbeitsplätze wurden vernichtet.
Bitte erzählen Sie von der Bundesregierung uns nichts mehr davon, daß es Ihnen um die Arbeitsplätze geht. Es geht Ihnen lediglich darum, die Interessen der Straßenbau- und Automobillobby hier zu vertreten, es geht Ihnen nicht um die Arbeitsplätze.
Wir haben unter dem Strich weniger Reisezüge, wir haben unter dem Strich weniger Bundesbahnstrecken, wir haben bei der Bundesbahn einen radikalen Schrumpfkurs. Wir haben insgesamt gesehen eine für Natur, Umwelt und die betroffenen Menschen negative Entwicklung im Verkehrsbereich. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund dafür, daß diese Debatte zu so später Stunde geführt wird und nicht während der Fernsehzeit.
Unter dem Strich betrachtet bleibt festzustellen, daß eine grundlegende ökologische Wende notwendig ist, eine grundlegende ökologische Wende hin zu mehr Fahrradverkehr, hin zur Unterstützung derjenigen, die kurze Strecken noch zu Fuß gehen, hin zur Unterstützung derjenigen, die öffentliche Verkehrsmittel — Busse, Straßenbahn und die Deutsche Bundesbahn — benutzen.
Wir brauchen ein radikales Umdenken im Verkehrsbereich, das endlich einmal auch die negativen Folgeschäden berücksichtigt und zu politischem Handeln zugunsten der ökologisch sinnvollen Verkehrsträger führt.
Weil dies meine letzten Ausführungen hier sind, möchte ich meine persönliche Auffassung zu diesen Problemen insgesamt darlegen. Ich glaube, es ist ein Irrtum, wenn man davon ausgeht, daß die freie Raserei auf unseren Straßen mit dem vorhandenen Autcbestand und bei einer weiteren Zunahme des Pkw-Verkehrs auf die Dauer für die Umwelt tragbar sein wird. Das möchte ich hier kraß in Frage stellen. Das ist eine Illusion.
Es wird sich herausstellen, daß das einzige realitätsorientierte Konzept eine verkehrspolitische Wende sein wird.
Zum Schluß noch eine persönliche Betrachtung dessen, was wir hier als GRÜNE erfahren haben. Wir sind vor vier Jahren hier eingezogen und haben — wie in sehr wenigen Bereichen in dieser krassen
Form — im verkehrspolitischen Bereich in allen Fraktionen — einige Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion ausgenommen — eine vollkommene Verankerung des Beton- und Asphaltdenkens, was den Verkehr angeht, vorgefunden. Das Betrübliche nach den vier Jahren unserer Arbeit ist eigentlich, daß wir feststellen müssen: Mit einer ähnlichen Haltung, die ich bei den anderen Fraktionen in gleichen Konstellationen vermerken kann, werden wir die vierjährige Arbeit beenden.
Das zeigt unter dem Strich gesehen, daß ein Umdenken in Ihren Fraktionen leider nicht möglich ist. Das betont wieder einmal die Notwendigkeit, daß in den nächsten Deutschen Bundestag — davon bin ich auch überzeugt — mehr GRÜNE einziehen müssen und werden. Wir werden mit dazu beitragen, daß hier endlich eine ökologische Wende im Bereich der Verkehrspolitik erfolgt.