Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einer der wichtigsten Stützpfeiler in den Fundamenten unserer Bundesrepublik ist die gemeinsame Front gegen jede Art von Nazitum und Faschismus, ist auch der Kampf gegen Antisemitismus. Deshalb waren Globke und Oberländer eine so schwere Hypothek auf den Gründungsjahren unseres Landes.
Deshalb sind die Tausenden von Bürgern aus allen Parteien, die sich in der Aktion Sühnezeichen und in vielen anderen Einrichtungen, in unzähligen Gruppen in den Ruinen der Vernichtungslager und in Israel engagiert haben, ein Gütezeichen unserer Republik.
Wir erleben zur Zeit das, was Hans Maier, der große deutsche Jude und Geisteswissenschaftler, vorgestern in einem Fernsehgespräch die „neue Verdrängung" genannt hat.
Wir sind heute morgen nicht zu einer feierlichen
Stunde zusammengekommen, sondern zu einem
höchst politischen Ereignis. Wir wollen das gezündelte Feuer dieser zweiten Verdrängung austreten, möglichst alle gemeinsam.
Wir wollen — weder die eine noch die andere Partei — hier keine pauschalen Verurteilungen anderer politischer Parteien vornehmen. Das hat auch niemand gemacht; das ist auch nicht die Absicht dieser Aktuellen Stunde.
Aber wir wollen, daß das makabre Geistesspiel, das makabre Gesellschaftssspiel beendet wird: Man tut eine Äußerung, sie erweist sich hinterher als gefährlich, man zieht sie zurück, zieht sich vielleicht zurück, j a, wird zum Rücktritt geschleppt, und dann ist der Mann aus dem Verkehr, aber die Äußerung in den Köpfen der Menschen.
Vielleicht hatte der Bundeskanzler ja nicht Unrecht, als er vor einigen Tagen — anders als heute morgen — meinte, so wie Fellner sich geäußert habe, dächten viele, j a, er hat wohl gesagt, die Mehrheit der Bürger.
Ich glaube es nicht, aber gerade dann wäre es sein wichtiger Beitrag zu einer politischen Kultur gewesen, diesen Bürgern die Wirkungsweise der politischen Todesseuche Antisemitismus zu erläutern. Wer hier leichtfertig mit der Ansteckungsgefahr umgeht — das zumindest sollten alle Deutschen wissen —, der kommt auch als Deutscher darin um.
Vor einigen Wochen haben wir in Hamburg einen toten jungen Türken zum Flugplatz geleitet. Er war wegen seiner Zugehörigkeit zu einem anderen Volk erschlagen worden. Die Anrufe, die meine Frau bekommen hat, nachdem in der Zeitung stand, daß ich mit zum Flugplatz gegangen war, zeigten: Der Rassismus ist immer noch virulent in unserem Lande.
Wir sind zusammengekommen, um von unserer Verantwortung zu sprechen,
und zwar, Herr Kollege, hier im Deutschen Bundestag. Deswegen begrüßen wir diese Aktuelle Stunde, anders als einige meiner Vorredner heute morgen, die diese Aktuelle Stunde abgelehnt haben.
Hier im Deutschen Bundestag, wo denn sonst in der Bundesrepublik Deutschland, muß die Einheit der Demokraten gegen Rassismus und Antisemitismus kristallklar zutage kommen.
Hier geht es nicht um falsche oder richtige Wortwahl, Herr Bundeskanzler, hier geht es nicht um
15422 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 201. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. Februar 1986
Duve
kieselglatte Bekenntnisse, Herr Kollege Klein, oder wichtige Bescheinigungen durch den Regierungschef des Staates Israel. Hier geht es um unsere eigene demokratische, antinazistische und antirassistische Substanz.
Das pathetische glatte Ersatzwort, die Joker-Formel, die überall paßt, wie die Feierlichkeit von Plastiknelken, die kann hier heute morgen nicht unsere Sache sein. Hier müssen die Fragen klar gestellt und beantwortet werden.
Denn nur so haben die Lehrer, die sich an den Schulen mit aufkommenden antisemitischen Meinungen junger Menschen auseinandersetzen müssen, eine Chance, pädagogisch mit dieser Sache umzugehen. Nur wenn Journalisten hinter sich die Abgeordneten in Bund und Ländern wissen, können sie sich mit den ungeheuerlichen Anrufen und schon längst nicht mehr anonymen Leserbriefen und Hetzbriefen auf ihre Artikel auseinandersetzen.
Dirk Koch hat im „Spiegel" in einem bemerkenswerten Artikel vom Ende der Scham gesprochen, ihm ist aus der Bevölkerung mit erstaunlichen, offenen, namentlich gezeichneten Briefen geantwortet worden.
Unser Bundespräsident hat in all seinen Äußerungen eindrucksvoll gezeigt, daß er sich mit uns gegen die zweite deutsche Verdrängung, gegen die Flucht aus der geschichtlichen Verantwortung stemmt. Tun wir Parlamentarier es ihm gleich. Wir haben eine Chance, nutzen wir sie.