Rede von
Renate
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Dr. Wilms! Ich glaube, wir machen hier einen Fehler. Wir unterhalten uns über Zahlen, und wir unterhalten uns über Statistik. Ich halte Zahlen zwar selbstverständlich für ungeheuer wichtig, aber wir dürfen darüber den Menschen nicht vergessen.
Wir müssen uns davor hüten, Arbeitslosigkeit insgesamt und Jugendarbeitslosigkeit im besonderen zur Statistik verkommen zu lassen. Und wenn hier über Dunkelziffern geredet worden ist: Ist es denn nun wirklich unsere größte Sorge, welche Zahl die richtige ist? Reicht denn nicht die begründete Vermutung aus, daß es noch mehr Jugendliche gibt, als wir annehmen, die ohne Ausbildung sind, daß es eine bedeutende Zahl derer gibt, die resigniert haben, und daß es sehr viele sind, die unter dem bürokratischen Begriff „Altnachfrager" ohne Ausbildung, ohne Chancen sind?
Und denen, Herr Nelle, wollen wir helfen.
Selbst wenn Sie, Frau Dr. Wilms, unsere Zahlen nicht akzeptieren, wenn Sie sich laufend in Prozentsätze retten wollen, bleibt bestehen, daß Sie zuviel versprochen und zuwenig getan haben. Es geht nämlich nicht nur um Zahlen, sondern es geht um Menschen. Es geht um die individuellen Schicksale, die wir nicht wegstecken dürfen und über wie wir auch nicht unterkühlt und abgehoben reden dürfen. Es geht hier um die individuellen Schicksale von Menschen und ihren Familien.
Wir haben uns hier zu fragen, wie eine seit Jahren bestehende Verknappung an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen auf junge Menschen und ihre Familien wirkt. Für die jungen Menschen bedeutet es als erstes schon Ängste während der Schulzeit, schon Anpassung, wenn an und für sich Aufmüpfigkeit gefragt wäre. In diesem Parlament sitzen genügend Väter und sicherlich auch ein paar Mütter. Sie werden festgestellt haben, daß die Unsicherheit der Kinder und ihrer Freunde darüber, was man denn lernen solle, ob es überhaupt eine Sinn habe, um sich greift und die Bereitschaft und der Druck wachsen, unabhängig von Eignung und Neigung irgend etwas, egal was, zu lernen. Haben Sie sich, Frau Wilms, eigentlich schon einmal in die Situation eines Mädchens versetzt, das zum 30., 40., 50. Mal mit großer Hoffnung an den Briefkasten geht,
dort einen Brief aufmacht und anschließend zum 50. Mal eine Absage bekommt und auf manche Antworten überhaupt vergeblich wartet?
Für die Familien bedeuten Ausbildungsplatznot und Jugendarbeitslosigkeit eine beinahe untragbare finanzielle Belastung. Durch Verschlechterung der Anspruchsvoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz für Auszubildende, Hochschulabsolventen und arbeitslose Jugendliche sind viele dieser jungen Menschen ohne eigenes Einkommen, oder sie haben Einkommen, die weit unter den Sozialhilfesätzen liegen. Wissen Sie eigentlich, was es für einen Familienvater oder für eine Familienmutter bedeutet, für eine Tochter ohne Ausbildungsplatz, für einen Sohn, der nach einer Bäckerlehre nicht übernommen wurde, und für eine zweite Tochter, die trotz bester Studienabschlüsse keinen Arbeitsplatz bekommt, zu sorgen, also für drei erwachsene junge Menschen mit — natürlich — Bedürfnissen Erwachsener zu sorgen? Und wenn diese jungen Menschen an und für sich Sozialhilfe beziehen könnten, so hilft ihnen das gar nichts, weil sie ihre Eltern nicht in die Situation bringen wollen, daß das Sozialamt diese Beträge von ihnen zurückholt.
An dieser Stelle sage ich Ihnen: Statt Erziehungsgeld an Zahnarzt- und Unternehmergattinen zu zahlen,
wäre es sinnvoller, so wie das Land NordrheinWestfalen es tut, 1,5 Milliarden DM zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und für Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Wir haben eines erkannt: Wenn man Familien helfen will, wenn junge Menschen den Mut haben sollen, selber Familien zu gründen, dann helfen nicht kurzfristige Leistungen, sondern dann muß die Politik versuchen, existentielle Nöte zu beseitigen. Zu den existentiellen Nöten gehört die Angst, keinen Arbeitsplatz und keinen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Es paßt nicht zusammen, den Geburtenrückgang zu beklagen und gleichzeitig eine Generation ins Abseits zu stellen. Als das Damoklesschwert der Ausbildungsplatzabgabe über den Betrieben schwebte, war das Verhältnis von Ausbildungsplätzen und Nachfrage ausgeglichen. Es gab sogar mehr Ausbildungsplätze als erforderlich.
Wir Sozialdemokraten werden deshalb neben ausreichenden Mitteln für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit unser Konzept der Umlagefinanzierung hier beraten und werden das Erforderliche im Sinne der Familien und ihrer Kinder tun.