Rede von
Waltraud
Steinhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! In den letzten Wochen war viel von gesetzlichem Handlungsbedarf die Rede. Erst in der letzten Woche hat uns die Bundesregierung klarzumachen versucht, daß der Gesetzgeber beim § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes handeln müsse und die gerichtliche Klärung nicht abwarten dürfe. Heute, meine Herren und Damen, geht es wieder um die Frage des gesetzlichen Handlungsbedarfs. Aber heute ist dieser Handlungsbedarf nicht nur eine vorgeschobene Behauptung, sondern heute besteht er tatsächlich.
Wir Sozialdemokraten haben mit unserem Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen ein Thema aufgegriffen, das seit dem 16. November 1982 einer gesetzlichen Klärung bedarf. Seit diesem Tag ist klar, daß die unterschiedliche Berechnung der verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte mit dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist. Wer jedoch geglaubt hatte, daß die Bundesregierung daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen würde, sieht sich arg getäuscht. Nein, der Handlungsbedarf scheint für die Bundesregierung nur da zu bestehen, wo es um die Schwächung der Gewerkschaften geht. Wo aber die Stärkung von Arbeitnehmerrechten gefragt ist, geht sie auf Tauchstation und verweist auf anhängige Gerichtsverfahren.
Die abwartende Haltung der Bundesregierung ist nicht länger tragbar. Auch das Bundesarbeitsgericht hat am 28. Februar 1985 unmißverständlich klargemacht, daß die Entscheidung des Gesetzgebers gefragt ist. Es hat alle anhängigen Verfahren, in denen es auf die Berechnung der verlängerten Kündigungsfristen ankommt, bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ausgesetzt. Meine Herren und Damen von der Koalition, wer diese vom Bundesarbeitsgericht angemahnte Neuregelung weiter hinauszögert, handelt unverantwortlich.
Wir Sozialdemokraten halten es für unerträglich, daß Arbeitsgerichtsprozesse auf Jahre ausgesetzt bleiben sollen, und ausgerechnet Kündigungsschutzprozesse, in denen Klarheit noch notwendiger ist als in anderen Prozessen. Unser Gesetzentwurf greift deshalb die vom Bundesverfassungsge-
15370 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. Februar 1986
Frau Steinhauer
richt beanstandete Regelung auf. Wir wollen die verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte einheitlich berechnen. Wir sind ohnehin für einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff.
Für uns ist es völlig untragbar, einem Arbeiter bis zum 40. Lebensjahr jede verlängerte Kündigungsfrist zu versagen, sie aber einem Angestellten mit gleicher Beschäftigungsdauer bereits mit 30 Jahren zu geben. Diese Unterscheidung mag in eine Welt des 19. Jahrhunderts passen. Ich jedenfalls bedaure, daß die Abschaffung der unterschiedlichen Behandlung von Arbeitern und Angestellten im Kündigungsrecht im Ersten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz nicht vollständig beseitigt wurde. In das ausgehende 20. Jahrhundert paßt jedenfalls eine solche Unterscheidung nicht mehr.
Wir Sozialdemokraten wollen es nicht nur bei dieser eng umgrenzten Korrektur belassen, wir halten die bestehenden Unterschiede im Kündigungsrecht zwischen Arbeitern und Angestellten insgesamt für ein überholtes historisches Relikt. Es gibt keinen einzigen sachlichen Grund, heute noch den Arbeitern kürzere gesetzliche Kündigungsfristen als den Angestellten zuzubilligen. Wer daran festhält, will die letzten Reste einer Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern bewahren. Dies mag in eine berufsständisch gegliederte Gesellschaft passen; zu einer modernen Industriegesellschaft paßt es gewiß nicht.
— Ich habe schon vor einigen Jahren Anfragen gestellt, Herr Louven. Aber hier war man nie zum Handeln bereit.
Wir sehen auch bei der generellen Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten einen drängenden Handlungsbedarf. Immer mehr Juristen bezweifeln, daß die bestehenden Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten noch mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Auch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hält die Regelung für verfassungswidrig und hat deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen. Wer die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 aufmerksam liest, kann überhaupt keinen Zweifel daran haben, wie das Verfassungsgericht über diesen neuen Vorlagebeschluß entscheiden wird.
Was das Gericht dort zur unterschiedlichen Berechnung der Kündigungsfristen ausgeführt hat, gilt gleichermaßen für die unterschiedliche Dauer der Kündigungsfristen. Das Gericht will gerade nicht mehr akzeptieren, daß der Status des Arbeitnehmers als Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Kündigungsfristen genommen wird. Ich kann nur nachdrücklich unterstreichen, was die Verfassungsrichter aufgeschrieben haben: Die historisch gewachsene Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten kann eine unterschiedliche Behandlung vor dem Grundgesetz nicht mehr rechtfertigen. Und mit dem Bundesverfassungsgericht
füge ich noch weiter hinzu: Weder Unterschiede in der beruflichen Mobilität noch in der Bindung an den Betrieb geben irgendeinen sachlichen Grund, um Arbeitern kürzere gesetzliche Kündigungsfristen einzuräumen als Angestellten. Nein, daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. Die noch bestehenden Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten sind ein historisches Relikt, das wir schnellstens beseitigen müssen.
Ich fordere Sie, meine Herren und Damen von der Koalition, deshalb auf, das Problem nicht länger auf die lange Bank zu schieben, wie dies die Bundesregierung möchte und das auch bei Antworten auf verschiedene Anfragen ja immer getan hat.
Auf Grund der Urteile des Verfassungsgerichts, des Bundesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen müssen wir jetzt handeln. Unsere Initiative soll dazu der Anstoß sein. Ich hoffe, Sie sind wie in anderen Fällen auch mal hier bereit, schneller zu beraten, daß Sie nicht Eile nur bei anderen Dingen haben.
Lassen Sie mich abschließend noch die „Süddeutsche Zeitung" vom 11. Oktober 1985 zitieren. Es heißt dort:
Nichts spricht dafür, die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und Angestellten bei den Kündigungsfristen aufrechtzuerhalten. In einer modernen Industrienation, die die letzten Reste der Klassengesellschaft abstreift, sollte der Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten allmählich verschwinden. Die gesellschaftliche und berufliche Mobilität, die ein funktionierendes Bildungswesen und eine sich stetig wandelnde Berufswelt erfordern und hervorbringen, sollte keine künstlichen Unterscheidungen konservieren, die in der kasernierten Arbeitswelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts zufällig entstanden sind.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.