Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in der vom Bundessicherheitsrat am 27. März verabschiedeten Stellungnahme und in der Regierungserklärung vom 18. April ihre grundsätzliche Haltung zum SDI-Programm in allen wesentlichen Aspekten dargelegt. Diese Haltung ist unverändert. Die Bundesregierung hat die Forschung insbesondere angesichts der sowjetischen Forschungsanstrengungen und angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion über das einzige funktionsfähige ABM-System verfügt und es modernisiert, für gerechtfertigt erklärt.
Wir begrüßen es, meine Kolleginnen und Kollegen, daß der Auswärtige Ausschuß und der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages Anfang dieser Woche Gelegenheit genommen haben, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung zentrale Fragen zu erörtern, die sich in diesem Zusammenhang stellen.
Mir scheint, daß der Deutsche Bundestag mit seiner Debatte über SDI, die heute durchgeführt wird — es ist die dritte seit dem 18. April 1985 —, ein gutes Beispiel für die Offenheit gibt, mit der auch derart komplexe Themen von allen zuständigen Organen unseres Staates behandelt werden. Wir würden unsere Pflicht versäumen, wenn wir uns nicht sorgfältig darüber Gedanken machten, ob und wie neue technologische Entwicklungen zu größerer Sicherheit auch für uns beitragen können. Deswegen ist ein ebenso schnelles wie schlichtes Nein zu diesem Thema auch keine annehmbare Position.
Meine Damen und Herren, SDI ist derzeit nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Forschungsprogramm. Heute kann noch niemand sagen, ob die dahinterstehende Vision des amerikanischen Präsidenten realisiert werden kann, durch Defensivsysteme einen so weitreichenden Schutz zu gewährleisten, daß nukleare Angriffswaffen schließlich unbrauchbar und überflüssig würden. Viele Berater des Präsidenten und andere Fachleute halten es eher für wahrscheinlich, daß nur ein unvollkommener Schutz erreichbar ist. Beide Auffassungen wirken sich schon heute, lange vor der Realisierung von SDI oder Teilen davon, auf die Strategiediskussion im Nordatlantischen Bündnis aus. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob SDI den Weg zu größerer strategischer Stabilität weisen kann oder nicht. Die strategische Stabilität zwischen West und Ost, die Einheit des Bündnisses in politischer und strategischer Hinsicht sind aber zentrale Bedingungen unserer Sicherheit. Die gültige Strategie der flexiblen Reaktion verbindet die Verteidigungspotentiale der Bündnispartner im Rahmen einer gemeinsamen Abschreckungsstrategie, die trotz unterschiedlicher Bedrohungslage bisher glaubwürdig und friedenserhaltend ist.
Ich möchte aus gegebenem Anlaß klarstellen: Über Fragen, die sich aus der Diskussion unserer Strategie ergeben, muß das Bündnis als Ganzes beraten. Veränderungen unseres politischen und strategischen Sicherheitskonzepts kann nur das Bündnis als Ganzes beschließen.
Dabei wird es um so bedeutsamer, daß die spezifisch europäischen Gesichtspunkte in der WEU besprochen und vorgeklärt werden. Das gilt auch für die entsprechenden Gesichtspunkte des SDI-Programms.
Herr Präsident, meine Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat sich zu den rüstungskontrollpolitischen Aspekten im Zusammenhang mit SDI wiederholt geäußert. Auch hier gelten die Stellungnahmen vom 27. März und die Erklärungen, die der Kanzler und der Außenminister gegeben haben, fort.
— Ich bitte um Nachsicht, daß ich ebenfalls keine Fragen zulassen kann. Die Zeit ist so beschränkt. Das würde eine neue Runde auslösen. Herr Kollege, es tut mir leid. Normalerweise ziehe ich es vor, die Debatte auch mit Frage und Antwort zu führen.
Ich stelle also fest:
Erstens. Der ABM-Vertrag muß strikt eingehalten werden, solange keine bessere Regelung an seine Stelle treten kann. — Die Bundesregierung geht dabei von der Auslegung des ABM-Vertrags aus, die in dem Bericht des Pentagon an den Kongreß vom März dieses Jahres enthalten ist. Die amerikanische Regierung hat eindeutig festgestellt, daß diese Grenzen weiter beachtet werden, unabhängig davon, ob eine andere Auslegung des Vertrages rechtlich möglich wäre. Dies bedeutet natür-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1985 14107
Staatsminister Möllemann
lich auch, daß sich die Sowjetunion an den ABM-Vertrag zu halten hat. Hier gibt es, wie Sie alle wissen, bisher nicht ausgeräumte Zweifel.
Zweitens. Jeder Schritt über den ABM-Vertrag hinaus darf nur nach Konsultationen im Bündnis und nach Verhandlungen mit der Sowjetunion getan werden. Auch hierüber besteht volle Einigkeit mit den USA.
Das Forschungsprogramm leitet keine irreversiblen Entwicklungen ein, sondern es liefert die Basis für vernünftige Entscheidungen.
Drittens. In den Verhandlungen müssen kooperative Lösungen für das Verhältnis zwischen Offensiv- und Defensivwaffen gefunden werden, so daß ein Zustand gefestigter strategischer Stabilität an ihrem Ende steht. Dies ist die Hauptaufgabe und die Chance der Verhandlungen, die seit dem 12. März dieses Jahres in Genf geführt werden und deren Ziele kürzlich durch Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow ausdrücklich bekräftigt wurden.
Wir können den USA nicht raten, wie es die Opposition fordert, jetzt auf ihr Forschungsprogramm zu verzichten. Dadurch würden sie ihre Position in den Verhandlungen sicher nicht stärken.
Vielmehr muß das Programm genutzt werden, um eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu finden und das ist ganz sicher keine Sache von Monaten, sondern von Jahren.
Drastische Reduzierungen der Offensivwaffen sind bereits jetzt möglich.
Wir haben keinen Zweifel, daß sie die Notwendigkeit und den Umfang neuer Defensivsysteme in einem neuen Licht erscheinen lassen würden. Oder anders und einfacher gesagt: Es ist klar, natürlich muß in Genf auch SDI verhandelbar sein.
Meine Damen und Herren, in Brüssel tagen heute die Außenminister der NATO. Im Mittelpunkt ihrer Beratungen steht die Erörterung einer gemeinsamen politischen Strategie der Bündnispartner auf dem Weg zum Washingtoner Gipfel im nächsten Jahr zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow. Es geht um die Fortentwicklung der gemeinsamen Positionen an den bilateralen und multilateralen Verhandlungstischen in Genf, Wien und Stockholm. Die Verhandlungen über die einzelnen Waffensysteme sind wichtig, und keine Waffengattung darf von den Verhandlungen ausgenommen werden. Es geht aber auch — und hier liegt die große Chance der Genfer Verhandlungen — um ein Konzept dauerhafter Friedenssicherung. Das entspricht der Einsicht, daß verläßliche Sicherheit im Zeitalter der Nuklearwaffen nicht nur auf autonomen Entscheidungen der einen oder der anderen Seite beruhen kann, sondern daß auch sicherheitspolitische Kooperation zwischen beiden notwendig ist.
Das ist ein realistisches Konzept. Es ordnet sich in die Harmel-Konzeption des Bündnisses ein, die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit mit der Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit verbindet. Dieses Konzept leugnet ja nicht die politischen Gegensätze zwischen West und Ost. Es leugnet auch nicht die unterschiedlichen Wertordnungen. Aber es basiert auf dem übereinstimmenden Interesse, daß wir gemeinsam das Risiko eines Krieges, und zwar eines jeden Krieges, eines atomaren und eines konventionellen, soweit wie möglich bannen müssen.
Die Frage, ob eine Mitarbeit von deutschen Firmen und Forschungsinstituten am SDI-Forschungsprogramm einer Absicherung durch Regierungsabsprachen bedarf, ist in erster Linie eine Frage technischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Zweckmäßigkeit.
Hierum geht es bei der Entscheidung, die die Bundesregierung in der nächsten Woche treffen will; nicht um eine politische Aussage, die ja bereits am 27. März und am 18. April dieses Jahres gemacht wurde und von der ich gesagt habe, sie gilt unverändert fort.
Bei der anstehenden Frage der Absicherung der Firmenzusammenarbeit durch eine Regierungsabsprache geht es nicht darum, daß sich die Bundesregierung an den SDI-Forschungsprogrammen beteiligt. Das ist wiederholt deutlich gemacht worden. Es ist auch weiterhin nicht beabsichtigt, hierfür Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen.
Die Bundesregierung entscheidet auch nicht über die Beteiligung von Industrieunternehmen an Forschungsprojekten. Diese Entscheidung trifft in unserem freien, marktwirtschaftlichen System jedes Unternehmen in eigener Verantwortung. Es geht jetzt allein darum, zu entscheiden, ob die rechtlichen und technischen Grundlagen für die Zusammenarbeit von deutschen Unternehmen und Instituten mit amerikanischen Unternehmen,
Instituten und Institutionen auf dem Gebiet von Technologie und Forschung ausreichend sind oder ob sie verbessert bzw. aktualisiert werden müssen. Diese Entscheidungen werden wir auf der Grundlage der politischen Überlegungen, die ich beschrieben habe, in sachlich gebotener Weise treffen.
Gestatten Sie mir eine Schlußbemerkung. Herr Kollege Gansel, ich habe nicht ganz begriffen, wie Sie auf der einen Seite eine Menge von Fragen am Schluß Ihrer Bemerkungen stellen konnten, die ich in der Tat für diskussionswürdig halte — alle diese Fragen müssen in den zuständigen Ausschüssen diskutiert werden —, wie Sie diese Nachdenklichkeit auf der anderen Seite aber gleichzeitig dadurch entwerten, daß Sie apodiktisch zu einem speziellen
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Staatsminister Möllemann
Teil der sicherheitspolitischen Debatte jetzt schon alle Antworten glauben geben zu können.
Das zweite, was mir nicht klar geworden ist, ist, daß Sie erklären, Europa müsse künftig mehr für seine eigene Verteidigung tun, daß Sie dann aber im Verteidigungs- und Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages viele Bemühungen, die konventionelle Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr und der westlichen Partner zu stärken, mit Kritik belegt, Kürzungsanträge gestellt und nicht einen einzigen Ausgabevorschlag gemacht haben, der auf eine Stärkung hinausläuft. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen.