Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wörner, die SPD fordert die Überwindung des Systems der atomaren Abschreckung und gegenseitigen Vernichtungsmöglichkeit. Aber wir wissen, daß das eine politische und keine militärisch-technische Aufgabe ist.
Wir haben schon auf unserem Parteitag im Dezember 1979 vor der Militarisierung des Weltraums gewarnt, damals vor allen Dingen an die Adresse der Sowjetunion.
Heute tun wir es auch an die Adresse der USA, weil wir befürchten, daß sich der Rüstungswettlauf in den Weltraum fortsetzen und neue Gefahren schaffen wird.
Eineinhalb Stunden hat der Deutsche Bundestag Zeit, heute über diese Frage zu diskutieren. Eineinhalb Tage hat allein die Anhörung des Auswärtigen Ausschusses gedauert. Da kann man in wenigen Minuten zwar nicht auf alle Unterstellungen reagieren, aber einiges wird man klarstellen können.
Mehrere Tage haben die parlamentarischen Versammlungen der NATO und der Westeuropäischen Union im Oktober und Dezember zu SDI diskutiert und Beschlüsse gefaßt. In beiden Versammlungen sind die Anträge der Sozialdemokraten gegen SDI von der gleichen konservativen Mehrheit abgelehnt worden, die vor drei Jahren für die Durchführung des Rüstungsteils des NATO-Doppelbeschlusses votiert hat.
Aber, während die Haltung der amerikanischen Regierung damals von der Mehrheit ausdrücklich begrüßt und die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen zur Sicherung der nuklearen Risikogemeinschaft zwischen den USA und Westeuropa bedingungslos unterstützt wurde, sind die Beschlüsse zu SDI mit Fragen, Befürchtungen und Bedingungen angefüllt. So wurde im Beschluß der NATO-Versammlung offen — ich zitiere — „die Befürchtung der Abkoppelung" geäußert. Als der Bundeskanzler im Bundestag zum Jahresbeginn forderte, es dürfe keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit im NATO-Bereich geben, gab er derselben Befürchtung Ausdruck. Und wenn Herr Genscher uns heute über ein Radio-Interview wissen läßt, daß er bei der NATO-Außenministerkonferenz dasselbe Problem prüfen lassen wolle, und wenn auch Sie, Herr Dregger, das hier haben durchschimmern lassen, dann frage ich Sie: Was hat Ihre Regierung ein Jahr lang getan, um diese Befürchtung zu entkräften?
Hier geht es um eine zentrale Frage unserer Sicherheit. Ich rede nicht von der Unterstellung gegenüber der einen oder der anderen Weltmacht, einen atomaren Angriffs- und Vernichtungskrieg zu wollen. Beide wollen ihn nicht. Um deutlich zu machen, worum es für uns wirklich geht, muß man ein Bild benutzen. Beide Supermächte wollen nicht zusammenstoßen. Aber wenn es doch zu einem Zusammenstoß kommt, dann dürfen die Europäer in West und Ost nicht zur Knautschzone der gepanzer-
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ten Limousinen ihrer Führungsmächte werden. Um diese Befürchtung geht es.
Die amerikanischen Erfinder und die deutschen Befürworter von SDI beteuern immer wieder, das Ziel von SDI sei ein Schutzschirm gegen Atomraketen sowohl für Nordamerika als auch für Westeuropa. Im Widerspruch dazu bieten sie gleichzeitig für Westeuropa eine kleine Version von SDI an oder fordern von uns die Eigeninitiative eines europäischen Verteidigungssystems gegen sowjetische Kurz- und Mittelstreckenraketen, eine sogenannte EVI.
Der Klarheit wegen haben wir deshalb dem Bundestag zwei Anträge vorgelegt, mit denen wir SDI wie EVI schon in der Forschungsphase ablehnen.
Wir lehnen sie ab, weil wir befürchten, daß diese Forschungen zur Entwicklung von Waffen führen, und weil wir die Erfahrung gemacht haben, daß entwickelte Waffen auch produziert und stationiert werden.
Wir lehnen sie ab, weil sie keinen vollen Schutz gegen Offensivwaffen gewährleisten.
Wir lehnen sie ab, weil sie zu einem neuen Rüstungswettlauf zwischen Ost und West nicht nur „auf Erden", sondern auch „im Himmel" führen werden.
Wir lehnen sie ab, weil sie die Sicherheit Europas und der Bundesrepubik nicht erhöhen, sondern vermindern werden.
Wir lehnen sie ab, weil wiederum für die Illusion einer militärischen Sicherheit Kreativität, menschliche Arbeitskraft, Maschinen und Geld verschwendet werden, die so dringend für die Entwicklung der armen Länder, für die Produktion sozialer Gerechtigkeit, für die Verteidigung unserer Umwelt, also für die Organisation des Friedens gebraucht werden.
Wir lehnen deshalb auch die Beteiligung von Unternehmen und Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik an SDI ab.
Wir haben gute forschungs- und industriepolitische Gründe gegen eine Beteiligung. Der Verkauf der Forschungskapazitäten und -ergebnisse aus unseren Spitzenleistungen an die amerikanische Rüstungsbürokratie — und darum geht es in der Sache — wird auch bei uns zu einer Militarisierung von Zukunftstechnologien führen.
„Militarisierung" ist dabei eine schlichte Umschreibung. Sie beinhaltet: Nichtbeachtung von Umweltaspekten, Verzicht auf sparsamen Energieeinsatz, Vernachlässigung von Kosten, Geheimhaltung und gegebenenfalls Monopolisierung für den Rüstungszweck — dies alles unter dem militärischen Primat des SDI-Projekts. Deshalb wären die Produkte, für die angeblich ein Spin-off-Effekt erzeugt werden soll, dann auch zivil nicht mehr wettbewerbsfähig.
Wer diese Beschreibung zu simpel findet, kann die Feinheiten in dem noch nicht veröffentlichen Gutachten „über den zivilen Nutzen militärisch motivierter Forschung und Entwicklung" nachlesen, das gerade für das Bundesministerium für Forschung und Technologie fertiggestellt worden ist.
Er wird dabei auch zur Kenntnis nehmen müssen, daß das Gutachten den zivilen Nutzen des SDI-Programms für noch geringer hält als bei anderen militärischen Entwicklungen.
Die Bundesregierung, die wegen der Ostgeschäfte der deutschen Industrie nicht in der Lage war, die Interessen unserer zivilen Exportwirtschaft an einem freien Technologietransfer gegenüber der amerikanischen Administration durchzusetzen, kann sich doch nicht ernsthalft einbilden, Herr Mischnick, ausgerechnet bei der militärischen Zielsetzung des SDI-Programms einen gegenseitigen Erkenntnisaustausch und seine zivile Nutzung möglich zu machen.
Ich kann Ihnen aus den Berichten der NATO-Parlamentarierversammlung viele Beispiele dafür nennen, daß dieser Austausch noch nicht einmal für zivile Produkte möglich gewesen ist. Machen Sie sich bei meinen Kollegen Ibrügger und Klejdzinski sachkundig!
Wir warnen aber vor einem Regierungsabkommen vor allem aus politischen Gründen, weil es die politische Zustimmung zu den Zielen des SDI-Programms und zu seinen Motiven bedeuten würde.
Es ist notwendig, dazu einige Fragen zu stellen:
Warum hat der amerikanische Präsident, als das Pershing-Programm noch lief, schon das SDI-Programm verkündet? Warum nach dem sogenannten Solidaritätstest der NATO durch den Doppelbeschluß ein neuer Solidaritätstest? Warum wurde durch SDI das Ende der Abschreckung beschworen, obwohl sie doch gleichzeitig gegen die Friedensbewegung von ihm gerechtfertigt wurde?
Warum wurde der ABM-Vertrag und mit ihm das Vertrauen in Rüstungskontrolle in Frage gestellt, warum eine neue Barriere in das Ost-West-Verhältnis getürmt? Warum soll SDI in der Substanz nicht verhandelbar sein?
Und warum wurde das alles einseitig in Gang gesetzt, ohne die europäischen Verbündeten zu konsultieren, obwohl es eine zentrale Frage der NATO und unserer Sicherheit ist?
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Und wozu die Bereitschaft, ungeheure Summen für SDI zu mobilisieren, während man gleichzeitig mit Haushaltsdefiziten in den USA kämpft?
Gewiß hat das auch wirtschaftspolitische Bedeutung: die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte für Spitzen- und Zukunftstechnologien, die — in ausschließlich amerikanischer Verfügungsmacht — sehr wohl für die USA eine Antwort auf die japanische und europäische Konkurrenz sein kann. Aber die eigentliche Bedeutung liegt im sicherheitspolitischen Bereich.
Das Ende der „extended deterrence" zeichnet sich ab, das Ende der von Nordamerika auf Westeuropa ausgedehnten Abschreckung für alle Eventualfälle. Dies ist eine relative Entwicklung. Ich überzeichne sie, um sie erkennbar zu machen.
Die USA sind nicht länger bereit, gegen ihre existenziellen Interessen im Interesse ihrer Verbündeten die Last einer Abschreckungsdoktrin zu tragen, die schon bei einem konventionellen Krieg in Europa das Risiko der nuklearen Vernichtung Nordamerikas beinhaltet.
Aufklärungssatelliten, eurostrategische Raketen in Ost und West und schließlich SDI machen das Ende dieser Doktrin möglich und verständlich.
Unter diesen Bedingungen sieht man in den USA die Möglichkeit, die Festung Nordamerika sichern und dadurch weltweit zugleich mehr Risiken in Kauf nehmen zu können. Isolationismus und Weltmachtanspruch ergänzen sich. Das mag im Interesse der USA liegen; im Interesse Europas liegt das nicht.
Europa ist zur Selbstbehauptung herausgefordert. Es ist herausgefordert, seine militärische Sicherheit gegenüber der Sowjetunion selbst zu gewährleisten und seine politische Unabhängigkeit zu den USA wiederherzustellen. Wir werden in der westlichen Wertegemeinschaft in dem Maße auch gleichberechtigter Partner der USA werden können, in dem wir uns von der Sowjetunion nicht militärisch bedroht fühlen müssen. Entsprechend — wenn auch nicht gleich — werden wir ein ernstgenommener und zuverlässiger Verhandlungspartner der Sowjetunion sein können. Der westliche Teil Europas kann wieder ein Subjekt der Politik werden. Heute ist das ganze Europa Objekt der Supermächte.
Westeuropa muß in der Zukunft selbst mehr für seine Sicherheit tun als in der Vergangenheit. Aber es muß dabei verhindern, zu einen Schrittmacher im Rüstungswettlauf zwischen Ost und West zu werden.
Hier, wo schon der Grenzgänger zwischen Ost und West eine Atombombe im Rucksack haben kann, ist das „Wegrüsten" der Bedrohung durch sowjetische Offensivwaffen technisch nicht möglich und militärisch wie politisch noch sinnloser als anderswo.
Wenn neue Technologien Geschosse mit Lichtgeschwindigkeit transportieren könnten, müßte der menschliche Verstand wegen fehlender Vorwarnzeiten durch Computer ersetzt werden. Neue Technologien würden neue Bedrohungsreaktionen auf der anderen Seite zur Folge haben. Herr Dregger, Ihre Hoffnungen für den Schutz Europas werden in einem neuen Rüstungswettlauf begraben werden.
Die SPD bleibt auch in bezug auf neue Waffensysteme bei ihrer Zielvorgabe der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit. Sie ist nicht mit Wehrlosigkeit zu verwechseln.
Wenn Sie, Herr Dregger, dazu Fragen haben, stellen Sie sie im Deutschen Parlament und nicht in Moskau oder in Washington. Wir fragen Sie hier, und vor der deutschen Öffentlichkeit haben Sie zu antworten.
Wir schlagen in unserem Antrag, der EVI ablehnt, zugleich eine Stärkung der europäischen Luftabwehr gegen Flugzeuge und die Prüfung der Abwehr von Marschflugkörpern und von modernen Distanzwaffen durch neue konventionelle Technologien vor. Für diese Abwehr könnten reduzierte, aber ausreichende Reichweiten vertrauensbildend auf beiden Seiten wirken.
Bei einem Treffen in Bonn vor 14 Tagen haben die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien der westeuropäischen NATO-Länder das SDI-Programm gemeinsam und einstimmig abgelehnt und eine Politik für eine westeuropäische Sicherheit verlangt. Sie ist ohne die europäische demokratische Linke nicht möglich. Sie ist aber für uns auch unabdingbar. Und wir sind zu ihr berufen, weil wir die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaften gegen die kommunistischen Systeme behaupten wollen und weil wir uns die außenpolitische Selbstbehauptung gegenüber den USA zutrauen.
Wir werden nicht der Versuchung erliegen, uns eines vermeintlichen wirtschaftlichen Vorteils wegen kurzsichtig einer wahrhaft historischen Aufgabe — der Selbstbehauptung Europas — zu entziehen.
Das ist der Vorwurf, den wir der deutschen, aber auch der britischen Regierung machen: Ihre staatliche Unterstützung für die Beteiligung an SDI hat kein anderes Motiv als das des „Wir wollen mit von der Partie sein". Mit dieser Trittbrettfahrermentalität wird sich Europa nicht selbst behaupten können — weder wirtschaftlich noch politisch.
Herr Dregger, wir wollen unseren Einfluß nicht überschätzen. Wir machen die Fahrpläne der Weltpolitik in der Bundesrepublik und im Deutschen Bundestag nicht, aber warum müssen wir auf die
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Züge aufspringen, die andere fahren lassen und von denen Sie selbst nicht wissen, wohin sie fahren?
Welche Garantien haben Sie für die Behauptung von Herrn Kohl, die SDI-Systeme würden von den Amerikanern nicht aufgestellt, wenn die Sowjets mit verstärkten und vermehrten Offensivwaffen antworteten? Welche Garantien haben Sie für die Behauptung, die Amerikaner würden ihre Laboratorien für eine kooperative Rüstungssteuerung mit der Sowjetunion öffnen? Dies wäre ja selbst dann noch sinnvoll, wenn amerikanische und sowjetische Anti-Raketen-Rüstung nicht zu verhindern wäre. Aber wo sind Ihre Garantien? Oder sind es Versprechungen wie die, die Sie von Herrn Weinberger zum Abzug chemischer Waffen erhalten haben und die Sie hier verkündet haben, die aber dann in den USA dementiert worden sind? Wo sind Ihre Garantien?