Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung erklärt den Handlungsbedarf unter anderem damit, daß die Erfahrungen der Tarifrunde des Jahres 1984 der wesentliche Anlaß seien. Ich würde gern unter dem Gesichtspunkt, ob das, was hier jetzt kommt, die Messe lohnt, den Ablauf des Jahres 1984 beleuchten. Denn die Menschen im Lande sollen ja verstehen, worum es geht.
Die IG Metall hat 1984 eine Arbeitszeitforderung gestellt. Darauf hat Gesamtmetall ablehnend geantwortet. Es kam das nach meiner Ansicht aufheizende Argument als Antwort, ehe eine Minute Arbeitszeitverkürzung zustande käme, wolle man lieber vier Wochen streiken. So die Auskunft von Gesamtmetall im Frühjahr.
— Es ist schon richtig so. Sie wissen schon, was ich meine. Sie müssen das bitte schön bewerten: Ehe eine Minute Arbeitszeitverkürzung kommt, lieber vier Wochen Streik.
Dies hat die Tarifbewegung auf beiden Seiten kräftig aufgeheizt. Dann ist gestreikt worden — mit mittelbaren Auswirkungen —. Am Schluß ist unter Einschaltung des Schlichters, und zwar unseres Freundes Georg Leber, ein Kompromiß zustande gekommen.
Was ich will, ist zunächst einmal, klarzumachen, ob auf der Basis unseres rechtspolitischen Hintergrundes, auf der Basis des § 116 und der Neutralitätsanordnung, der soziale Konsens und die Tarifautonomie und die Auseinandersetzung in der Tarifpolitik, die Streikfähigkeit, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht nicht vollständig gewahrt sind.
Gerade der Ablauf des Jahres 1984 mit der Kompromißfindung am Ende zeigt, daß dies beispielhaft gegenüber allen anderen Jahren und allen anderen Ländern in der Welt ist.
Meine Frage für die gesamtpolitische Debatte ist also: Woher nehmen Sie nun eigentlich den Anlaß, ausgerechnet aus dem Ablauf des Jahres 1984 zu begründen, das sei alles in Unordnung, da müsse nun die Sache mit einer neuen gesetzlichen Regelung geändert werden?
Ein weiterer Punkt: Sie sagen, es gehe um die Neutralität. Nun ist j a Neutralität für, so will ich einmal sagen, breite Schichten der Bevölkerung, die sich nicht unbedingt politisch oder verbandspolitisch betätigen, zunächst einmal etwas Schönes; das halten die auch alle für eine wunderschöne Sache. Nur möchte ich doch sagen, daß zur Tarifautonomie und zu dem Ringen der Tarifvertragsparteien selbstverständlich parteiliches Verhalten, und zwar auf beiden Seiten, gehört. Die Frage ist, ob Ihr dauernder Neutralitätsappell im Grunde nicht ein Appell an unpolitisches Verhalten ist; mag sein, daß Sie das wünschen.
Nun, es geht dabei um einen ganz anderen Punkt. Wir sagen Ihnen, Sie wollen damit die Streikfähigkeit der Gewerkschaften treffen. Ich stimme mit Ihnen zwar überein, daß Sie das Streikrecht per Gesetz nicht ändern.
Aber es ist etwas ganz anderes, ob man den Weg durch die Hintertür geht und die Streikfähigkeit der Gewerkschaften ad absurdum führt, ohne de iure in die Sache einzugreifen.
Ich gebe zu, das ist die vornehme Art,
und ich weiß auch, daß das in der Bevölkerung schwieriger darzustellen ist. Aber über einen Punkt gibt es doch keinen Zweifel: Sie wollen die Streikfähigkeit, die Verhandlungsfähigkeit und die Stärke der Gewerkschaften mit einer einengenden Forderung im Gesetz treffen.
Und nun will ich untersuchen, wen das, was Sie machen, alles betrifft. Es geht nicht allein um die Frage — das muß man auch nach draußen deutlich machen —, daß die organisierten Arbeitnehmer hier getroffen werden, wenn sie bei mittelbarer Auswirkung eines Arbeitskampfes keine Zahlung des Arbeitsamtes für ihren Arbeitslosenbeitrag erhalten. Auch alle unorganisierten Arbeitnehmer und deren Familien kommen in die gleiche Lage. Verdeutlichend will ich doch hinzufügen, daß alle Arbeitnehmer — Arbeiter wie Angestellte, ob organisiert oder nicht organisiert — Arbeitslosenbeiträge zahlen. Sie treffen also alle Arbeitnehmer. Wenn Sie glauben sollten, Sie treffen nur die Gewerkschaften, irren Sie sich. Deswegen wird uns auch breite Mobilisierung gelingen, weil Sie alle treffen, egal, ob sie in der Gewerkschaft sind oder nicht.
Und dazu will ich Ihnen in bezug auf Neutralität und Absicht der Schwächung noch sagen: Nach unserer Auffassung ist die Gewerkschaft in einem freien Land die solidarische Summe von einzelnen,
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1985 13985
Rappe
deren Einzelvertretung in dem Ringen um gesellschaftspolitische Verbesserungen nicht gesichert ist und auch nicht gesichert werden kann. Die Gewerkschaft ist die solidarische Zusammenfassung dieser einzelnen Interessen. Wenn Sie die Fähigkeit der Gewerkschaften treffen wollen,
treffen Sie die solidarische Einbindung und Kraftentfaltungsmöglichkeit für alle einzelnen.
Nun — in aller Ruhe — einen Schritt weiter: Wenn. Sie sagen — einige von Ihnen —, das sei nicht so. Dann wollen wir noch einmal an den ersten Gedanken dieser Sache herangehen.
Unsere Auffassung bleibt in dieser ganzen Auseinandersetzung sicher unverrückbar: daß wir keine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes wollen. Ich will Ihnen noch einmal sagen, warum, damit Sie unsere Denkwelt versuchen zu verstehen.
Wenn das Gesetz verändert wird, werden manche unter Ihnen — sicher nicht alle — damit wissen, daß sie den ersten Stein — nach dem Willen und der Traumvorstellung mancher anderer — einer Kodifizierung des Arbeitskampfrechts überhaupt legen. Das ist der Grundstein.
Es gibt keine Möglichkeit zur Kodifizierung des Arbeitskampfrechts, die ja manche andere und auch Ihr Koalitionspartner im tiefsten Innern wollen, in den weiteren Zeiten, wenn Sie dies nicht vorweg wegräumen. Und den Erfolg der Großen Koalition wollen Sie nun wegräumen.
Wir sind gegen eine gesetzliche Regelung. Wir müssen heute sagen: Wir waren allerdings, Herr Bundesarbeitsminister, anfangs der Meinung — Teile von uns, muß ich jetzt sagen —, daß Sie nicht mit voller Wucht und vollen Segeln auf eine gesetzliche Regelung drängen würden. Inzwischen bin ich
— auch nach Ablauf des Gesprächs vom Dienstag
— der Auffassung, daß Sie von Anfang an irgendwo die Zusage einer gesetzlichen Regelung gemacht haben und nun gar nicht anders können.
Sie haben die Möglichkeit, das zu reparieren;
denn wenn es Ihnen um irgendwelche Anwendungsmöglichkeiten geht, über die man j a streiten kann — warum soll es darüber nicht Interessenstreit geben? —, dann geht das auch auf der Basis
des Gesetzes durch die Neufassung der Verwaltungsanordnung der Bundesanstalt.
Wer den Gesetzestext ändern will, der will mehr als nur die Klärung der Frage, von der Sie vorgeben, daß man sie brauche.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines sagen. Ich weiß, daß die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, an der Spitze ihr Vorstand, eine gesetzliche Änderung will. Sie wollte sie auch von Anfang an.
An dieser Stelle möchte ich gerne eine Aussage nach draußen, aber auch für Sie zur Überlegung machen. Wenn Sie sich voll auf das Gleis der ideologisch gefärbten Spitze, des Vorstandes der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände begeben
— langsam;
Herr Seiters, in der Grundforderung nach einem Gesetz —,
dann verstoßen Sie — davon bin ich überzeugt; das ist aus der Formulierung übrigens selbst zu ersehen — gegen die Interessen der Fachverbände. Denn zwischen den Interessen der tarifführenden Fachverbände und der ideologisch gefärbten Spitze in Köln besteht ein himmelweiter Unterschied über die Gestaltung der Dinge.
Sie liegen falsch, wenn Sie hier den politischen Willen von Herrn Esser vollziehen.
— Ja, wir müssen nämlich zusammen die Tarifverträge machen. Da sind wir sachlicher, als Sie denken.
Sie können sich das möglicherweise gar nicht vorstellen. Ich werde Ihnen das aber gleich noch schildern.
Nun will ich zunächst einmal zu der Formulierung kommen, die die fünf Minister vorschlagen, und was da nun Gesetz zu werden droht.
Wie Sie wissen, hieß es bisher: nach Art und Umfang gleiche Forderung. Zur Erklärung: Eine Forderung einer Gewerkschaft in einem bestimmten
13986 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1985
Rappe
Fachgebiet durfte nach Art und Umfang nicht gleich sein, weil sonst die Gefahr einer Nichtzahlung durch Nürnberg drohte. „Nach Art und Umfang" ist in der Sache und für Tarifpolitiker eine Anwendungsformel, die auslegbar ist. Mit gutem Grund, Herr Kollege Müller, ist das damals so gemacht worden. Denn wer etwas von Tarifpolitik versteht, der weiß, wie sehr vor Tarifverhandlungen geklärt werden muß, wo es in einer bestimmten Branche in einem bestimmten Jahr langgehen soll. Dies war also eine Möglichkeit für die Tarifvertragsparteien, eine Forderung nicht identisch oder völlig auseinanderfallend zu formulieren.
Nun kommen Sie mit der neuen Formulierung, einer Formulierung, Herr Minister Blüm, die j a wohl einengend wirken soll. Sonst brauchte man keine neue Formulierung.
Sie wollen eine eingrenzende Formulierung haben. Das ist überhaupt keine Frage. Die Formulierung, um die es nun geht, ist auch der springende Punkt. Sie lautet nämlich: eine Hauptforderung, die nach Art und Umfang annähernd gleich ist.
Dies bedingt — und das ist der Punkt, über den meine Kollegin Fuchs und ich schon in der letzten Debatte geredet haben — das Problem zwischen uns und den Fachverbänden. Nicht Herr Esser führt Tarifverhandlungen, sondern die Fachverbände tun das.
— Herr Breit auch nicht.
Nun ist die Frage, wie sich das gestalten soll. Wir haben die Sorge, daß wir dies auseinanderbringen müssen, daß wir völlig unterschiedliche Forderungen stellen müßten, wenn Sie daraus ein Gesetz machen, damit wir nicht in die Lage der Zahlungsunfähigkeit in einem umkämpften Gebiet mit Auswirkung auf die anderen Gebiete im Fachgebiet kommen. Das heißt, Sie schränken die Tarifautonomie ein.
Sie können reden, soviel Sie wollen. Tarifautonomie und Streikfähigkeit werden mit dem, was Sie wollen, eingeschränkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Bangemann hatte eben gesagt, es habe auch Erfolge in den Gesprächen gegeben. Herr Bangemann, diese Strategie ist mir klar. Sie haben sich wie ein gekonnter Tarifpolitiker verhalten: zunächst einmal Maximalforderungen an die Adresse Ihres Koalitionspartners und an uns. Dann sind Sie einen halben Meter zurückgegangen. Das ist nun das Ergebnis. Es ist doch gar keine Frage, daß Ihre erste Forderung, bei jedem inländischen Streik solle nicht gezahlt werden, eine Maximalforderung war, mit der Sie beim Bundesverfassungsgericht nun wirklich ins Gedränge gekommen wären. Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Daß Sie nachgegeben haben, daß außerhalb der eigenen Branche bei anderen Gewerkschaften, die mittelbar betroffen sind, gezahlt wird, finde ich nicht einen Erfolg. Das ist, wenn überhaupt, ein bißchen politische Klugheit.
Der zweite Punkt. Sie merken als Erfolg an, daß die Bundesanstalt bei einem mittelbar betroffenen Arbeitgeber nachprüfen können soll, ob die Zahlung der Unterstützung berechtigt wäre oder nicht oder ob er sich anders hätte verhalten könne; in der Lagerhaltung soll das ja wohl heißen.
— Unglaubhaft, ja. — Auch das ist kein Erfolg, Herr Bangemann.
Die Verwaltungsanordnung der Bundesanstalt in Nürnberg für diese Sache ist seit 1978 in Kraft, gilt bereits.
Ich wollte Sie nur davor warnen, in der weiteren Auseinandersetzung zu glauben, Sie könnten zwei Pluspunkte bringen, um die es nie ernsthaft ging. Es geht nach wie vor, von Anfang an und nur um eine Gewerkschaft in einem Fachgebiet bei einer nach Art und Umfang gleichen Forderung, um die Frage, wie da eine Tarifauseinandersetzung geführt werden kann. Wenn Sie diesen Punkt mit der Formulierung verändern, die Ihre Minister vorgeschlagen haben, dann treten die Wirkungen im Hinblick auf Streikfähigkeit und Tarifautonomie in negativem Sinne ein.