Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tarifautonomie gehört zu unserem Rechts- und Sozialstaat. Geordnete Sozialbeziehungen dienen der Tarifpartnerschaft. Zu geordneten Sozialbeziehungen gehört in einer freiheitlichen Gesellschaft auch das Notventil des Arbeitskampfes. Das Streikrecht gehört zu unserer Freiheit.
Lohn- und Arbeitsbedingungen werden in einer freien Gesellschaft von den Tarifpartnern ausgehandelt. Das unterscheidet soziale Marktwirtschaft von der kommunistischen Befehlswirtschaft, in der nicht gestreikt werden darf. Bei uns gibt es freie Gewerkschaften und das Streikrecht.
Wir brauchen starke Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für eine funktionsfähige, ordnungsstiftende Tarifautonomie.
Es geht bei der Neuformulierung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes nicht um das Streikrecht,
auch nicht um die Streikfähigkeit, sondern um die Neutralität der Bundesanstalt. Um nicht mehr und nicht weniger.
Das ist nicht der Streikparagraph, das ist der Neutralitätsparagraph des Arbeitsförderungsgesetzes.
Die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit war, ist und bleibt unverzichtbarer Bestandteil der Tarifautonomie. Diese Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit hat ihre rechtliche Grundlage in § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes aus dem Jahre 1969
und in der Neutralitätsanordnung der Bundesanstalt für Arbeit aus dem Jahre 1973. Diese Grundlagen verlassen wir nicht. Wir stellen klar, nicht mehr und nicht weniger.
Im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf in der Metallindustrie 1984 sind Auslegungsunterschiede zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und Sozialgerichten bei Verfahren auf Herbeiführung einer einstweiligen Anordnung entstanden.
Bis zur letztinstanzlichen Klärung durch die Gerichte können noch Jahre vergehen.
Deshalb wurde bis zur Entscheidung jeder weitere Arbeitskampf von Unsicherheit begleitet, von der Unsicherheit, wer nun recht hat: die Bundesanstalt mit ihrer Auslegung oder die Sozialgerichte mit ihren einstweiligen Anordnungen.
Diese Unsicherheit dient nicht dem sozialen Frieden. Diese Unsicherheit dient nicht der Tarifautonomie.
Die Bundesregierung erwartet von den Gewerkschaften nicht, daß sie bis zur endgültigen Klärung durch die Gerichte auf das Instrument des Arbeitskampfes verzichten. Sie mutet den Arbeitnehmern nicht zu, einen Arbeitskampf mit dem Risiko zu führen, daß Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit nur unter Vorbehalt gezahlt werden
und möglicherweise nach Jahren Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitergeld zurückgezahlt werden müssen.
Das kann niemand wollen, der es mit den Arbeitnehmern gut meint.
Wir schaffen Klarheit, nicht Gewichtsverlagerung zwischen den Tarifpartnern. Was der Gesetzgeber 1969 wollte, das ist auch unsere Absicht. Wir machen eine Klarstellung, nicht gegen, sondern für die Tarifpartnerschaft.
Die Bundesregierung hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht.
Wir sind erst nach Vorlage eines Rechtsgutachtens in die Beratung eingetreten. Wir haben eine Vielzahl von Gesprächen mit den Sozialpartnern über dieses Problem geführt. Bereits im Spitzengespräch am 5. September 1985 zwischen Bundesregierung und den Sozialpartnern war die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit Gesprächsgegenstand. Zwei ausführliche Fachgespräche unter Beteiligung der Sozialpartner und der fünf zuständigen Bundesminister dienten der Klärung. Auch das letzte Spitzengespräch am vergangenen Dienstag ist mit dieser Absicht geführt worden. Alle Gespräche, auch das am vergangenen Dienstag, wurden ausgewertet und sind in die Vorbereitung unserer Entscheidung eingegangen. Ich bedanke mich deshalb ausdrücklich
bei Gewerkschaften und Arbeitgebern für die Sachlichkeit der Gespräche und für die konstruktive Art der Gesprächsführung.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1985 13965
Bundesminister Dr. Blüm
Die uneingeschränkte Bereitschaft der Bundesregierung zum Dialog darf jedoch nicht mit Feigheit vor der Entscheidung verwechselt werden.
Jetzt sind Klärungen unumgänglich. Denn es wird mit Falschmeldungen gegen den Gesetzgeber mobilisiert.
Wir wären hilf- und wehrlos, wenn wir nicht sofort mit einem Gesetzentwurf den Phantomvorwürfen den Boden entziehen und den Verdächtigungen den Garaus machen würden.
Es ist falsch, wenn der DGB in seinem Referentenmaterial behauptet, das Kurzarbeitergeld solle
„kaltausgesperrten Arbeitnehmern grundsätzlich und überall verweigert" werden. Dies ist nicht Aufklärung, dies ist Falschmeldung.
Dies ist nicht Arbeiteraufklärung, dies ist Arbeiterverdummung.
So werden nicht Arbeitnehmerinteressen vertreten. Es ist falsch, daß die Bundesregierung die generelle Nichtzahlung von Kurzarbeitergeld an mittelbar betroffene Arbeitnehmer derselben Tarifbranche plant,
wie die sozialdemokratische Bundestagsfraktion in ihrer Presseerklärung vom 11. Dezember unterstellt.
Meine Damen und Herren, ich finde es eine bodenlose Geschmacklosigkeit,
wenn in Blättern der IG Metall die Bemühungen der Bundesregierung um die Klärung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit mit dem Naziterror gegen die Gewerkschaften verglichen werden,
eine bodenlose, eine abgrundtiefe Beleidigung des Widerstandes auch jener Männer, großer Gewerkschafter wie Wilhelm Leuschner, die von den Nazis aufs Schafott geschickt wurden. Die leise Korrektur dieser Verleumdung durch den IG-Metall-Vorstand steht in proportional umgekehrtem Verhältnis zur Lautstärke und Energie, mit der diese Darstellung verbreitet worden war.
Die Saat des Hasses geht auf. Ein DGB-Kreisvorsitzender aus Oberhessen hat laut Presseberichten von „terroristischen Anschlägen", die zur Vernichtung von Arbeitnehmerrechten dienten, gesprochen. Wer dies zulasse, lasse auch zu, daß ein 1933 wieder möglich werde.
Als noch gar kein Formulierungsvorschlag vorlag, wurde bereits zur „Mobilisierung der Mitglieder, bis zur demonstrativen Arbeitsniederlegung", durch die IG Metall aufgefordert. Im November, noch vor den Einigungsversuchen und bevor überhaupt ein Text der Bundesregierung vorlag, sprach Franz Steinkühler von der IG Metall von — ich zitiere — „verfassungswidrigem Angriff auf die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaft".
Von „Kastrierung", „Anschlag", „Sturmangriff" ist die Rede. Es herrscht in der Gewerkschaftspresse ein Jargon des Krieges. Die neueste „Metall Extra" vom 9. Dezember ist überschrieben mit „Protest" und unterschrieben mit der Kommentarüberschrift auf der Titelseite: „Bonn will das Recht brechen".
Ich fordere die Mitglieder des frei gewählten Parlaments der Bundesrepublik Deutschland auf, sich gemeinsam dagegen zu wehren, daß ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren als Rechtsbruch diffamiert wird.
Dies ist ein Verfall demokratischer Sitten.
Ich wende mich an die Arbeitnehmer, sich nicht in die Hände von Verleumdern zu begeben.
Die Bundesregierung nimmt die Herausforderung an. Wir verteidigen die Rechte eines frei gewählten Parlaments.
Ich wende mich an die Arbeitnehmer: Informiert euch! Geht der Unwahrheit nicht auf den Leim!
Und, meine Damen und Herren, ich respektiere den Protest, ich achte die Demonstration der Gewerkschaften.
Nur, meine Damen und Herren, die Gewerkschaftsjugend, jene Gewerkschaftsjugend, die mit Kommunisten paktiert, eignet sich nicht als Lehrmeister des Streikrechts.
Wer mit Kommunisten, die in ihrem Machtbereich
das Streikrecht abgeschafft haben, die streikende
Arbeiter ins Gefängnis werfen, paktiert, hat das
13966 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1985
Bundesminister Dr. Blüm
Recht verloren, hier für Streikrecht einzutreten. Er eignet sich nicht als Lehrmeister.
Ich appelliere auch an die Gewerkschaften, ihr eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Die Gespräche mit den Sozialpartnern haben wichtige Klärungen auch im Interesse der Arbeitnehmer geschaffen. Das ist auch ein Verdienst der Gewerkschafter, die an diesen Gesprächen teilgenommen haben.
Ich will zunächst zwei Selbstverständlichkeiten festhalten: Wer am Arbeitskampf teilnimmt, erhält keine Leistungen der Bundesanstalt. Auch im Gebiet des Arbeitskampfes, also im fachlichen und räumlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages, werden keine Leistungen gewährt. Dies verlangen auch die Gewerkschaften nicht. Ich stelle das nur fest, damit dies nicht in einer weiteren Verdrehung als eine Erfindung der Bundesregierung ausgegeben wird.
Ein wichtiger Fortschritt, meine Damen und Herren, auch im Sinne der Gewerkschaften und im Interesse der Arbeitnehmer ist es, daß es uns gelungen ist, Einvernehmen zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Bundesregierung herzustellen, daß außerhalb der Branche, also außerhalb des fachlichen Geltungsbereiches, in dem der Arbeitskampf stattfindet, Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld für Arbeitsausfall infolge des Arbeitskampfes immer gewährt werden.
Die Bundesregierung folgt nicht dem Gutachten von Professor Müller, der außerhalb der Branche das Ruhen von Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit ausdrücklich für bestimmte Fälle gefordert hat. Die Bundesregierung lehnt diesen Vorschlag ab,
weil nach unserer Ansicht Beeinflussung eines Arbeitskampfes nicht von einem Bereich außerhalb der Zuständigkeit einer Gewerkschaft ausgeübt werden kann.
Die Klarstellung, daß außerhalb des fachlichen Geltungsbereiches immer Arbeitslosenunterstützung und Kurzarbeitergeld gezahlt wird, kann auch zur Beruhigung einer sich lange hinziehenden arbeitsrechtlichen Diskussion beitragen. Auch das ist ein Fortschritt. Auch das ist die Frucht unseres Dialogs.
Es bleibt also nur noch ein Bereich streitig. Das ist jener Bereich der selbst am Arbeitskampf nicht beteiligten, aber in derselben Branche außerhalb des Kampfgebietes durch Arbeitsausfall mit betroffenen Arbeitnehmer. Auch an diese werden — wie bisher — im allgemeinen Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld gezahlt, wenn ihre Arbeit infolge eines Arbeitskampfes ausfällt. Nur dann, wenn die Streikenden für diese mitstreiken, ruht — wie bisher — die Zahlung von Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld an jene mit betroffenen Arbeitnehmer. Das war bisher so, und das bleibt auch so. Einen Stellvertreterstreik kann und darf die Bundesanstalt für Arbeit nicht finanzieren. Sie würde sonst in den Arbeitskampf eingreifen.
Es kann und darf auch nicht sein, daß eine Gewerkschaft mit zwei Gruppen von Arbeitnehmern für das gleiche Ziel kämpft: Die eine Gruppe bezahlt sie mit Streikunterstützung, und die andere läßt sie sich durch die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren. Es kann und darf nicht richtig sein, daß mit einer Handvoll Streikenden an Schlüsselstellen der Effekt ausgelöst wird, daß ein ganzes Heer von Arbeitnehmern arbeitslos wird, und das Ruhen der Zahlung von Arbeitslosengeld dadurch umgangen wird, daß Gewerkschaften im Bereich der mittelbar Betroffenen die Forderung in einer Nebensache variieren. Das kann nicht Sinn der bisherigen Gesetzgebung und auch nicht Sinn der Neutralitätsanordnung sein.
Wer das bezweifelt, dem empfehle ich, den Bericht des zuständigen Ausschusses für Arbeit nachzulesen, der unter dem Vorsitz meines verehrten Kollegen Adolf Müller gestanden hat; in diesem Bericht aus dem Jahre 1969 wird festgestellt:
Mit Rücksicht auf die Neutralitätspflicht soll das
— nämlich daß allgemein Arbeitslosengeld gezahlt wird —
jedoch in zwei Fällen nicht gelten. Wenn der Arbeitskampf auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers abzielt, muß dieser sowohl nach einer natürlichen Betrachtungsweise als auch im wirtschaftlichen Sinne als beteiligt angesehen werden. Die Gewährung von Arbeitslosengeld in solchen Fällen würde Schwerpunktstreiks fördern und wäre daher nicht streikneutral.
Außerdem erschien es dem Ausschuß wegen der im voraus nicht überschaubaren Vielfalt der bei Arbeitskämpfen möglichen Interessenlagen notwendig zur allgemeinen Absicherung der Neutralität der Bundesanstalt zusätzlich eine Generalklausel aufzunehmen. Nach ihr soll der Anspruch auf Arbeitslosengeld in allen Fällen ruhen, in denen die Gewährung dieser Leistung den Arbeitskampf beeinflussen könnte.
Meine Damen und Herren, ich finde, man braucht nicht mehrere Semester Recht studiert zu haben, sondern es genügt wirklich der gesunde Menschenverstand, um zu erkennen: Wenn die Streikenden kein Geld erhalten, können diejenigen, die wie sie für die gleichen Ziele eintreten, auch kein Geld erhalten. Die sind dann mit betroffen. So war das, und so wird das bleiben. Das ist überhaupt keine Erfin-
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Bundesminister Dr. Blüm
dung dieser Bundesregierung. Das ist der Sinn der Neutralitätsanordnung der Bundesanstalt für Arbeit.
Meine Damen und Herren, ich gebe zu, die Materie ist kompliziert. Weil sie kompliziert ist, ist sie das Tummelfeld von Verdrehung und Demagogie.
Deshalb möchte ich Ihre Aufmerksamkeit aufs Detail lenken.
Der Streitfall — jetzt sind wir beim Streitfall — ist bei der Frage entstanden, wann für andere Arbeitnehmer derselben Branche mitgestreikt wird. Dafür hat die Neutralitätsanordnung aus dem Jahr 1973 mit den Stimmen der damaligen, SPD-geführten Bundesregierung, mit Zustimmung der IG-Metall einen Maßstab geliefert: Das Arbeitslosengeld wird nicht für die Arbeitnehmer außerhalb des Kampfgebietes gezahlt, wenn für diese die Gewerkschaft — jetzt kommt der entscheidende Satz — „nach Art und Umfang gleiche Forderungen" wie für die Streikenden stellt.
Diese Grundregel hat unterschiedliche Auslegung gefunden. Die Sozialgerichte in Hessen und Bremen haben „gleiche Forderungen" mit „identischen Forderungen" oder „fast identischen" übersetzt.
Das kann der Gesetzgeber nicht gemeint haben, das kann der Anordnungsgeber nicht gemeint haben.
Ich kenne keinen Kommentar in der Rechtswissenschaft, der Gleichheit in diesem Falle mit Identität übersetzt.
Das kann auch nicht gemeint sein; denn man kann Identität sehr leicht durch Variation in der Nebensache auflösen. Wenn man das zuließe, dann müßte man der Ehrlichkeit halber schreiben: Es muß immer gezahlt werden. Das kann der Neutralität halber niemand wollen.
Was ändern wir? Ich wende mich an die Arbeitnehmer, damit sie nicht das Opfer
von Falschmeldungen sind, damit sie nicht das Opfer von Desinformationen werden. Wir ändern: Verglichen sollen nur noch die Hauptforderungen werden.
— Stört es Sie, daß ich die Arbeitnehmer aufkläre?
Es kann sein, daß ich die Kampagne der Aufwiegelung damit zerstöre.
Es sollen nur die Hauptforderungen verglichen werden. Man streikt nur für Hauptforderungen, nicht für irgendwelche Nebensächlichkeiten, welche die Arbeitnehmer nicht bewegen. Arbeitskampf ist schließlich kein Kinderspiel. Die Hauptforderungen müssen nicht haarklein dieselben, sondern nur annähernd gleich sein. So wollte das der Gesetzgeber, und das — ich wiederhole es — ist Sinn der Anordnung der Selbstverwaltung. Diese Anordnung — ich wiederhole es nochmal — ist unter der Rechtsaufsicht und mit den Stimmen der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zustande gekommen,
und diese Anordnung hat die Zustimmung der IGMetall gefunden.
Karl-Heinz Janzen, das zuständige Vorstandsmitglied der IG-Metall erklärte seinerzeit auf einer Vertreterversammlung seiner Gewerkschaft in Köln über diese Neutralitätsanordnung, daß sich mit dieser Kompromißlösung „durchaus leben" läßt. Allerdings — so heißt es in der Pressemeldung der IG Metall — würden es sich dann in Zukunft die Gewerkschaften nicht mehr leisten können, zentrale Forderungen aufzustellen oder zentrale Tarifverhandlungen zu führen, wenn sie beabsichtigten, ihre tarifpolitischen Vorstellungen gegebenenfalls mit einem Streik durchzusetzen. Soweit der Kommentar der IG Metall aus dem Jahre 1973. Es ist eine Falschdarstellung, zu behaupten, diese Rechtslage sei im Jahr 1985 entstanden. Sie ist 1973 ausweislich dieses Kommentars der IG Metall entstanden.
Zentrale Forderungen sind seit 1973 — nicht seit 1985, sondern seit der Zeit, in der die SPD in Bonn regierte — nur mit dem Risiko kampffähig, daß Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld möglicherweise nicht gezahlt werden.
Wir ändern also — ich fasse noch einmal zusammen —: Statt Forderungen sollen jetzt Hauptforderungen im Vergleich stehen. Statt „gleich" soll jetzt „annähernd gleich" gelten. Das ist der ganze Kern der Neuregelung.
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Bundesminister Dr. Blüm
Dieser Kern der Neuregelung lohnt wahrhaftig nicht den Glaubenskrieg, mit dem Sie die Arbeiter verdummen wollen, meine Damen und Herren.
Wer einen Glaubenskrieg über diese Klarstellungen entfacht, verheizt Arbeitnehmerinteressen.
Und wer leichtfertig von Verfassungswidrigkeit spricht, der muß sich fragen lassen, warum er nicht schon gegen die bisher geltende Regelung Verfassungsklage erhoben hat.
Wir ändern doch das Prinzip nicht. Wir stellen klar; wir sperren eine Umgehungsstraße um dieses Prinzip ab und nicht mehr. Das Prinzip wird nicht in Frage gestellt. Der Justizminister Vogel hätte früher eine Verfassungsklage einreichen müssen, wenn das verfassungswidrig wäre.
Die Klarstellung, die wir beabsichtigen, soll Mißverständnisse und Mißbrauch ausräumen. Deshalb soll auch die Bundesanstalt für Arbeit verbesserte Feststellungsmöglichkeiten erhalten, ob der Arbeitsausfall außerhalb des Kampfgebietes tatsächlich in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitskampf steht oder lediglich als Druckpotential der Arbeitgeber genutzt wird.
Die IG Metall hat in einer für mich eindrucksvollen Untersuchung dargestellt, daß im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf 1984 in manchen Betrieben der Zweifel berechtigt erscheint, ob der Arbeitsausfall tatsächlich vom Streik in anderen Gebieten und mangelnder Zulieferung ausgelöst war. Diesen Zweifel wollen wir beseitigen, indem die Bundesanstalt und die Betriebsräte verbesserte Rechte erhalten, zu klären, ob dieser ursächliche Zusammenhang besteht. Jetzt frage ich Sie: Ist das im Interesse der Tarifautonomie? Ist das im Interesse der Gewerkschaften? Ist das im Interesse der Arbeitnehmer? Die Frage kann nur mit Ja beantwortet werden.
Ich will ausdrücklich festhalten, daß auch weiterhin gilt, daß auf einen begrenzten Streik nicht mit unbegrenzter Aussperrung geantwortet werden kann. Streik und Aussperrung, Angriff und Verteidigung stehen unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Behauptung, wir wollten das Streikrecht beschränken und die Streikfähigkeit untergraben, ist eine Falschmeldung.
Wenn sich Arbeitnehmer auf Grund solcher Falschmeldungen Sorgen machen, dann habe ich dafür
sehr viel Verständnis. Aber sie sind das Opfer von Falschmeldungen.
— Herr Vogel, ich weiß nicht, ob Sie schon einmal
Streikposten gestanden haben. Ich weiß, wie ein
Streik aussieht; ich habe an Streiks teilgenommen.
Ich rede nicht vom grünen Tisch der Theorie, von dem aus die Mehrheit Ihrer Fraktion offenbar spricht.
Ich will deshalb auch noch einen Beitrag zur Geschichte der Neutralitätsanordnung leisten. Das wird sehr wesentlich auch zur Aufklärung und, wenn es geht, zur Versachlichung beitragen.
— Meine Damen und Herren, ich bedaure sehr, daß mein Versuch, den Sachstand zu schildern, Aufklärung zu geben, von der Opposition offenbar als ihre Kampagne störend empfunden wird.
Wie war die Geschichte der Neutralität der Arbeitslosenversicherung? Meine Damen und Herren, bis 1969 gab es kein Arbeitslosengeld für alle Arbeitnehmer, deren Arbeitsausfall durch Streik oder Aussperrung verursacht war. Also auch die indirekt Betroffenen erhielten kein Arbeitslosengeld. Lediglich zur Vermeidung unbilliger Härten konnte Arbeitslosengeld gewährt werden. Bis 1969 galt sogar, daß die Verweigerung von Arbeitslosengeld für mittelbar betroffene Arbeitnehmer in den ersten 14 Tagen des Arbeitskampfes keine unbillige Härte sei. Dahin will niemand zurück. Trotzdem wird doch niemand behaupten, das Streikrecht sei erst 1969 geboren worden, wir würden jetzt das Jahr 16 des Streikrechts schreiben. Auch schon vorher gab es Streikrecht und Streikfähigkeit.
Ich erinnere nur an den 16wöchigen Streik der Metaller in Schleswig-Holstein zur Durchsetzung der Lohnfortzahlung. Das gehört doch in die große Geschichte der Streikbewegung. Wenn das damals keine Beschädigung des Streikrechts war und wir gar nicht dahin zurück wollen, dann kann doch heute, da wir einen weit fortgeschritteneren Standpunkt sichern wollen, ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden.
Jetzt, meine Damen und Herren, empfehle ich das Gesetzgebungsverfahren im Jahre 1969 zur Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes Ihrer großen Aufmerksamkeit. 1969 war die Zeit der Großen Koalition; die Regierung wurde von der CDU/CSU und der SPD gebildet. Die Regierung der Großen
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Bundesminister Dr. Blüm
Koalition wollte die alte gesetzliche Regelung, daß kein Arbeitslosengeld an mittelbar betroffene Arbeitnehmer gezahlt wird, fortschreiben. Nach § 105 ihres Regierungsentwurfes sollten Arbeitnehmer, die infolge eines Arbeitskampfes arbeitslos geworden sind, im allgemeinen kein Arbeitslosengeld erhalten. In ihrem Entwurf — in dem Entwurf, der von der SPD mitgezeichnet wurde — heißt es — ich zitiere —:
Ist die Arbeitslosigkeit durch einen inländischen Streik oder eine inländische Aussperrung verursacht, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während der Dauer des Streikes oder der Aussperrung.
Das war der Entwurf einer Regierung, deren Kanzler Kiesinger hieß, deren Vizekanzler Brandt hieß, deren Innenminister Benda hieß und deren Arbeitsminister Katzer hieß!
In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrats machte die Regierung der Großen Koalition ihre Position noch einmal deutlich. Ich zitiere jetzt wiederum die Meinung der Regierung der Großen Koalition:
Die Gewährung von Arbeitslosengeld an Arbeitslose, die an einem Arbeitskampf nicht selbst beteiligt sind, deren Arbeitslosigkeit aber durch einen Arbeitskampf verursacht ist, würde die Bereitschaft dieser Arbeitslosen zur Solidarität stärken und damit den Arbeitskampf beeinflussen. Sie würde daher ähnlich wie die Gewährung an unmittelbar beteiligte Arbeitnehmer die Neutralität der Bundesanstalt verletzen, deren Mittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam aufgebracht werden.
Die Arbeitslosenversicherung kann zudem wie jede Schadenversicherung ein derartiges Risiko nicht tragen. Bei einem Schwerpunktstreik könnten die Mittel der Bundesanstalt in wenigen Monaten erschöpft sein.
Das war die Meinung von CDU/CSU und SPD,
und damals wurde nicht gegen die Regierung mobilgemacht, damals wurde nicht von Widerstand gesprochen, obwohl dieser Standpunkt weit hinter dem zurückbleibt, was wir heute wollen.
Erst der federführende Ausschuß hat 1969 diesen Standpunkt der Regierung der Großen Koalition zugunsten der Arbeitnehmer verändert,
und diesen Fortschritt sichern wir heute durch Klarstellung ab.
Die Regierung der Großen Koalition war anderer Meinung als wir heute. Die Regierung der Großen Koalition lag mit ihrem Entwurf weit hinter unseren Vorschlägen.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen.
Erstens. Wir teilen nicht die Meinung, daß Arbeitslosengeld für mittelbar betroffene Arbeitnehmer nie gezahlt werden darf. Solche Vorschläge haben wir abgewehrt.
Zweitens. Wir teilen nicht die Meinung, daß innerhalb der gesamten Branche für alle vom Arbeitskampf mittelbar betroffenen Arbeitnehmer Arbeitslosengeld nicht gezahlt werden darf. Diesen Vorschlag haben wir abgewehrt.
Drittens. Wir bleiben auf dem Stand des geltenden Rechts.
Stellvertreterstreiks können nicht indirekt durch die Bundesanstalt für Arbeit finanziert werden. Wir sichern im Interesse der Tarifautonomie die gesetzliche Neutralität gegen Mißbrauch und Mißverständnis.
Viertens. Wir wollen durch verbesserte Nachprüfungsrechte der Bundesanstalt für Arbeit verhindern, daß Arbeitskampffolgen nur vorgetäuscht und der Arbeitsausfall willkürlich herbeigeführt werden.
Meine Damen und Herren, ich halte fest:
Diese Bundesregierung schützt die Neutralität der Bundesanstalt gegen Mißverständnisse und Mißdeutungen. Diese Klarstellung ist eine Sicherstellung!
Die im Sinne der Klarstellung notwendigen Änderungen habe ich genannt.
Ich will festhalten: Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen lehnen Extrempositionen ab. Wir sind und bleiben eine Regierung der Mitte und des sozialen Ausgleichs.
Arbeitnehmer, laßt euch nicht durch Falschmeldungen auf Barrikaden treiben! Das Streikrecht bleibt unangetastet.
13970 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1985
Bundesminister Dr. Blüm
Die Neutralität der Bundesanstalt gehört zu einem ordentlichen Arbeitskampf.
Diese Neutralität stellen wir sicher, nicht mehr und nicht weniger.
Wir gehen unseren Weg.
Wir sind immer gesprächsbereit.
Sachlichen Verbesserungsvorschlägen begegnen wir mit uneingeschränkter Aufnahme- und Prüfungsbereitschaft.
Diffamierungen treffen bei uns jedoch auf taube Ohren. Wir beugen uns nicht der Demagogie.
Wir bleiben unbeeindruckt von Verdrehungen und Verfälschungen unserer Absichten.
Ich sage es nicht aus Trotz, sondern bleibe auch jetzt dabei: Kooperation, Partnerschaft sind besser als Konflikt und Klassenkampf, auch für die Arbeitnehmer.
Wir gehen unseren Weg. Wir arbeiten für Partnerschaft, nicht für Klassenkampf. Deshalb werden wir auch nie von der Anstrengung ablassen, Dialog und Zusammenarbeit der Sozialpartner zu fördern. Trotz aller Widerstände: Partnerschaft ist besser als Klassenkampf!