Rede von
Willi
Tatge
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Sehr geehrte übriggebliebene Damen und Herren! Liebe Kollegin Zeitler! Lieber Kollege Norbert Mann! Lieber Kollege Helmut Werner!
— Das genau ist Ihre Informationsquelle und scheint zu Ihrem Niveau der Information zu passen, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, mit ihrem Gesetzentwurf zur Einführung einer Entleiherhaftung formuliert die Bundesregierung konsequent an den eigentlichen Problemen der legalen wie — dies ist nicht zu trennen — der illegalen Leiharbeit vorbei.
Worum geht es der Bundesregierung? Auf Seite 6 des Gesetzentwurfs ist es zu lesen — ich zitiere —:
Arbeitnehmerüberlassung mit systematischer Steuerhinterziehung schadet der Volkswirtschaft und den steuerehrlichen Wettbewerbern.
Wie schätzt die Bundesregierung ihren eigenen Gesetzentwurf ein? Ich zitiere:
Die Bundesregierung sieht diesen Entwurf nicht als unmittelbare Maßnahme zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung an. Sie ist sich bewußt, daß gerade in den Fällen, in denen die Haftung wirksam werden soll, die Aufdeckung des wahren Sachverhalts häufig sehr schwierig ist.
Die eigentlichen Probleme liegen also woanders. 1983 hat die Bundesanstalt für Arbeit berichtet: 100 000 bis 300 000 bis 500 000 Fälle von illegaler Beschäftigung als Spitze eines Eisberges, 170 Milliarden DM volkswirtschaftlicher Schaden, 13 100 Strafanzeigen wegen illegaler Beschäftigung. Leiharbeit ist ein Beispiel für eine bundesweit, j a europaweit operierende Mafia, die brutalen Menschenhandel betreibt.
Beispiel 1: Der Streik von Arbeitern und Angestellten bei dem Gerstetter Autoradiohersteller Progamma. Die Löhne der Kollegen und Kolleginnen in dieser Firma liegen bis zu 500 DM unter Tarif. Ständig wurde die Belegschaft angehalten,
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 174. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1985 13135
Tatge
Überstunden durchzuführen. Frauen mußten „freiwillig" gesetzlich verbotene Nachtarbeit leisten. Die Belegschaft will einen Anerkennungstarifvertrag für ihren Betrieb. Die Betriebsleitung verweigert dies. Nach monatelangen ergebnislosen Gesprächen kommt es zum Streik. Am zweiten Streiktag wird der ersten Kollegin gekündigt. Auf der Straße angeworbene Hilfskräfte werden eingesetzt, Leiharbeiter aus England eingeflogen. Sieben Wochen lang werden über 50 Leiharbeiter über ein Ulmer Zeitarbeitsbüro als Streikbrecher eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft Heidenheim ermittelt inzwischen gegen die Progamma-Geschäftsführung wegen Beschäftigung illegaler Arbeitskräfte. Bundesdeutsche Realität im Oktober 1985.
Beispiel 2: Er erzählt, wie sie bei Thyssen gearbeitet haben — jetzt zitiere ich —:
Jeden Tag 16 Stunden, 12 Stunden, 13 Stunden, jeden Samstag und jeden Sonntag, jeden Feiertag, immer durch. Ostern und Pfingsten waren wir auch noch da, das ging da vielleicht rund. Der ganze Hochofen hat ja stillgelegen, da mußte alles sauber gemacht werden, was meinst du, wie wir da 'rummalocht haben, egal ob Wind, ob Schnee, ob Regen, ob kalt.
Da waren deine Klamotten ständig feucht und naß, und immer 10 bis 15 Leute von Remmert, auch Adler-Leute, waren dabei. Insgesamt haben wir da fast fünf Monate gearbeitet.
So Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten".
Besser ist bundesdeutsche Realität im Jahre 1984/85 nicht beschrieben worden.
Noch nie wurde der alltägliche Rassismus, die Hetze, mit der türkische Mitbürger leben müssen, klarer deutlich gemacht. Die Bundesregierung leidet, wie meist, an Wahrnehmungsstörungen, wiegelt ab, wo sofortiges Handeln angebracht wäre.
Wir lehnen aus humanitären, sozialen und arbeitsmarktpolitischen Gründen die Trennung in gute — d. h. legale — und schlechte — d. h. illegale — Vereihfirmen ab.
Konsequenterweise treten die GRÜNEN im Bundestag für ein generelles Verbot der Leiharbeit ein. Konsequenterweise werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes einbringen, der ein solches Verbot vorsieht. Wir sind gespannt auf Ihre Reden und vor allem auf Ihr Handeln in dieser Frage.