Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in der Silvesternacht die Glocken von den Kirchtürmen das neue Jahr einläuten werden, läuten sie auch einen neuen Abschnitt in der Geschichte Europas ein. Die Europäische Gemeinschaft wird um ein gutes Stück europäischer. Dafür sorgt der Beitritt Spaniens und Portugals, der am 1. Januar 1986 Wirklichkeit werden wird, wenn nicht in letzter Minute ein Parlament irgendeines
13078 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 174. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1985
Brück
Mitgliedstaates der EG die Ratifikation der Beitrittsverträge verweigern sollte.
Daß Spanien und Portugal Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden, ist gut. Wir Sozialdemokraten begrüßen das und werden deshalb dem Ratifikationsgesetz auch in zweiter und dritter Lesung zustimmen.
Ich habe es bereits bei der ersten Lesung gesagt, und ich wiederhole es bei der zweiten und dritten Lesung: Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, daß die heute von uns zu ratifizierenden Verträge auf spanischer Seite die Unterschrift unseres Freundes Felipe González und auf portugiesischer Seite unseres Freundes Mário Soares tragen. Wir Sozialdemokraten sind auch stolz darauf, daß es vor allem die spanischen und portugiesischen Sozialisten waren, die in ihren Ländern über viele Jahre hinweg gegen die Diktatur gekämpft haben.
Wenn hier gerufen wird, „andere auch", will ich gleich hinzufügen, daß ich an dieser Stelle noch einmal den vielen Demokraten in Spanien und Portugal danken möchte, die ihre Freiheit und manchmal auch ihr Leben geopfert haben im Kampf für Freiheit und Demokratie in Spanien und Portugal.
Wir alle haben die Entwicklung zur Demokratie auf der iberischen Halbinsel mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen. Deshalb ist es eine Selbstverständlichkeit, daß wir heute im Deutschen Bundestag dem Beitritt Spaniens und Portugals zustimmen. Wir machen damit ein Versprechen wahr, daß wir den jungen Demokratien jenseits der Pyrenäen gegeben haben. Wir hoffen, daß der Beitritt dieser Länder zur EG die demokratische Entwicklung dort fördern und stützen wird.
Die Erwartungen in Spanien und Portugal an die Europäische Gemeinschaft sind groß. Man verspricht sich vom Beitritt auf lange Sicht eine Modernisierung der eigenen Wirtschaft, eine Verbesserung der Strukturen und eine Steigerung des Lebensstandards der Menschen. Als sich am 31. März dieses Jahres die jetzigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und Spanien nach sieben Jahren Beitrittsverhandlungen auf den 1. Januar 1986 als definitives Datum für den Beginn der spanischen Mitgliedschaft geeinigt hatten, überschrieb am anderen Tag die angesehene Madrider Tageszeitung „El País" ihren Leitartikel: „Halleluja auf Europa".
Wir müssen aufpassen, daß aus dem Halleluja auf Europa nicht eine bittere Enttäuschung wird, denn die Fachleute sind sich einig: Der Beitritt der beiden iberischen Staaten wird zuerst einmal einen Schock in den Volkswirtschaften dieser Länder auslösen. War die EG der Sechs noch eine Vereinigung von hochentwickelten Industrieländern und hatte auch die EG der Neun, abgesehen von einigen Randregionen, diesen Charakter beibehalten, so wird die Erweiterung um Spanien und Portugal eine Entwicklung fortsetzen, die schon mit dem Beitritt Griechenlands begonnen hat: Es werden Volkswirtschaften in die Gemeinschaft aufgenommen, die insgesamt eine schwächere Position haben.
Dazu einige Fakten: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Portugal bei einem Viertel und in Spanien bei der Hälfte des EG-Durchschnitts.
Bei einem hohen Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft hat Portugal gegenwärtig eine Arbeitslosenquote von fast 29 % und Spanien von rund 20% — bei steigender Tendenz — im Vergleich zum EG-Durchschnitt von 11 %.
Die Inflationsrate von Portugal liegt bei fast 30 %, in Spanien liegt sie bei 11 %, verglichen mit einem EG-Durchschnitt von 5,1 %.
Die Branchenstrukturen der spanischen und auch der portugiesischen Industrie sind weit einseitiger gewichtet als die der bisherigen Mitgliedstaaten der EG. So haben jene Wirtschaftszweige, die in der EG von Strukturkrisen besonders betroffen sind, etwa Stahl, Schiffbau, Textil- und Schuhindustrie, in Spanien mit 28 % einen wesentlich höheren Anteil an der Gesamtindustrieproduktion als in anderen EG-Ländern.
In Spanien und Portugal sind — stärker als sonstwo — die eher arbeitsintensiven als die kapitalintensiven Branchen vertreten. Die Produktivität der Industrie ist geringer als im übrigen Europa.
Wir dürfen nicht vergessen, daß Spanien bis vor einigen Jahren noch auf der Liste der Entwicklungsländer stand, Portugal noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres darauf stehen wird und von der Bundesrepublik ja auch noch Entwicklungshilfe erhält.
Deshalb kann einen nur in Erstaunen versetzen, was man aus Brüssel und Straßburg über den Haushaltsentwurf der EG für 1986 hört. Der Ministerrat hat in diesem Haushaltsplan zwar auf der Einnahmenseite schon die Einnahmen eingesetzt, die man aus Spanien und Portugal erwartet, aber auf der Ausgabenseite keine Konsequenzen aus dem Beitritt der beiden Länder gezogen. Das heißt: Es fehlen die Etatposten, die Spanien und Portugal helfen werden, den Schock der Eingliederung leichter zu überwinden.
Bleibt der Haushalt so, wie er jetzt ist, dann werden Spanien und Portugal, die ja, wie ich vorhin schon deutlich machte, zu den ärmeren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zählen, Nettozahler in der Gemeinschaft werden. Das wird dann in Spanien und Portugal niemand verstehen, wenn sie, die Ärmeren in Europa, die Reicheren im Norden Europas mitfinanzieren müssen, und das ist ja auch nur sehr schwer zu verstehen.
Ich habe auf dieses Problem schon während der Beratungen im Auswärtigen Ausschuß aufmerksam gemacht. Die Bundesregierung hat dort zugesagt, daß der Haushaltsentwurf in den kommenden Wochen dahingehend geändert werden soll, daß sichergestellt ist, daß Spanien und Portugal Nettoempfänger-Länder sein werden. Ich fordere die Bundesre-
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gierung auf, dies auch heute im Plenum des Deutschen Bundestages noch einmal klarzustellen.
Ich wollte mit diesen Ausführungen zur wirtschaftlichen Lage deutlich machen, daß auch wir Sozialdemokraten die Probleme sehen, die für Spanien und Portugal durch den Beitritt zur Gemeinschaft entstehen.
Trotzdem haben wir kein Verständnis für die Haltung der Fraktion DIE GRÜNEN. Die GRÜNEN werden -- dies wurde durch die Beratungen im Auswärtigen Ausschuß deutlich — dem Beitritt dieser beiden Länder nicht zustimmen, angeblich weil sie es mit den Spaniern und den Portugiesen gut meinen. Vielleicht ist diese Haltung für die GRÜNEN typisch; sie wissen es wieder einmal besser, besser als die anderen, sie wissen besser als die Spanier und die Portugiesen, was für sie gut ist und was für sie schlecht ist. Vielleicht fragen sich die Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion DIE GRÜNEN, ob dahinter nicht doch ein gutes Stück deutscher Hochnäsigkeit steckt.
Denn bekanntlich meinen j a immer noch viele, am deutschen Wesen müßte die Welt genesen.
Die Spanier und Portugiesen können am ehesten entscheiden, was langfristig für sie und für ihre Länder gut ist.
Die beiden Staaten, die jetzt Mitglieder der Gemeinschaft werden, zählten in der Geschichte einmal zu den Großen in dieser Welt.