Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will es nicht wie mein Vorredner machen und deshalb keine Betragenszensuren verteilen.
Ich glaube, es ist besser, die sozialpolitische Sprecherin unserer Fraktion ist anwesend, im Gegensatz zu der zuständigen Ministerin.
Wenn man solche Wertungen trifft, soll man sie rundum machen.
Die bessere Absicherung des Lebensrisikos „Pflegebedürftigkeit" ist ein Problem, das seit vielen Jahren von Sozialpolitikern, Wohlfahrtsverbänden und den kommunalen Spitzenverbänden diskutiert wird. Diese Frage wird weiter an Brisanz gewinnen.
Die demographische Entwicklung hat dazu geführt, daß sich von 1950 bis 1982 die Zahl der älteren Menschen in unserem Land von 4,8 Millionen auf 9,2 Millionen nahezu verdoppelt hat. Dabei ist die Zahl der Hochbetagten überdurchschnittlich gewachsen. Nach einer Hochrechnung leben in der Bundesrepublik Deutschland fast 4 Millionen Menschen, die 75 Jahre und älter sind. So erfreulich diese Entwicklung ist, hat sie doch auch zur Folge, daß sich gerade in jeder Altersgruppe die Zahl der Pflegebedürftigen und Langzeitkranken überdurchschnittlich erhöht hat. Es gibt keine aktuellen Zahlen, die uns hierüber verläßlich Auskunft geben. Wir müssen daher hilfsweise auf die Zahlen zurückgreifen, die 1978 im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit ermittelt wurden. Bereits damals schätzte man die Zahl der Pflegebedürftigen im Seniorenalter auf 2,5 Millionen, darunter allein rund 210 000 Personen, die als Schwerstpflegebedürftige auf intensive Pflege, hauswirtschaftliche Versorgung und Betreuung angewiesen waren.
Ich wiederhole, was ich bereits am 18. Oktober 1985 bei der Beratung der Großen Anfrage zur „Lebenssituation älterer Menschen" gesagt habe, daß nämlich — entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil, das auch heute vorgetragen wurde — die Mehrzahl dieser pflegebedürftigen Menschen ambulant betreut wird. Mehr als 80 % von ihnen leben noch im eigenen Haushalt und werden zumeist von ihren Familienangehörigen — oft durch nachbarschaftliche Hilfe unterstützt — betreut und versorgt.
Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich eindeutig zum Vorrang der ambulanten Hilfe vor der stationären Versorgung.
Bei der Pflege in der eigenen Familie bleiben die persönlichen Kontakte erhalten, einer sozialen Isolation wird vorgebeugt. Diese Vorteile sind viel wichtiger als das oft gehörte Argument, daß die ambulante Versorgung deshalb der Heimpflege vorzuziehen sei, weil sie kostengünstiger sei. Dieser Gesichtspunkt, der zudem nicht immer zutreffend ist,
sollte bei unseren Überlegungen keine entscheidende Rolle spielen.
Viel wichtiger ist, daß dem älteren Menschen auch dann, wenn er auf Hilfe angewiesen ist, ein Höchstmaß an Selbstbestimmung und persönlicher Unabhängigkeit erhalten wird.
Deshalb gilt den pflegenden Familienangehörigen unser besonderer Dank.
Es muß aber erkannt werden, daß die häusliche Pflege in vielen Fällen nicht möglich ist. Das hängt auch damit zusammen, daß die Zahl der Pflegebedürftigen gestiegen ist und weiter ansteigt, während im Verhältnis dazu die Zahl der pflegefähigen jüngeren Menschen zurückgegangen ist: Kamen 1890 noch auf einen hochbetagten Menschen 36 Kinder und Jugendliche, so waren es 1982 nur noch vier. Um bei diesen ungünstigen Relationen dennoch möglichst viel Pflegebereitschaft zu erhalten, müssen die pflegenden Familienangehörigen erheblich und deutlich entlastet werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Vorschläge verweisen, die ich für die SPD-BundesLagsfraktion am 18.Oktober gemacht habe und die auch heute durch Herrn Link wieder angeklungen sind. Auch neue Formen der teilstationären Versorgung und die Förderung von Wohngruppen, in denen pflegebedürftige ältere Menschen betreut werden und dort leben können, gewinnen hierbei an Bedeutung.
Die Überlegungen der Bundesregierung, die in eine ähnliche Richtung zielen, aber bisher nur auf dem Papier stehen, sollten baldigst realisiert werden. Die stereotype Wiederholung dieser Ankündi-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 174. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. November 1985 13073
Delorme
gung in allen möglichen Regierungsberichten reicht nicht aus; es muß endlich gehandelt werden.
Obwohl wir die Priorität der häuslichen und teilstationären Pflege sowie den Ausbau der ambulanten Pflegedienste betonen, muß doch gesehen werden, daß auch die Pflege in Heimen unverzichtbar ist. Wir wenden uns daher gegen eine Diffamierung der Heimpflege und der vielen Menschen, die in diesen Einrichtungen ihren schweren und verantwortlichen Dienst versehen.
Schon aus diesem Grunde — und nicht nur wegen der illusionären Finanzierungsbasis — halten wir den vorliegenden Antrag der GRÜNEN, in dem generell die Abschaffung der Pflegeheime gefordert wird, für eine absolut ungeeignete Grundlage.
Alten- und Pflegeheime, in denen zur Zeit etwa 260 000 Pflegebedürftige leben, sind und bleiben ein wichtiger Bestandteil einer gegliederten Versorgung.
Wer noch weiß, daß bis in die 50er Jahre Heime mit Schlafsälen und Sechs-, Acht- oder Zwölfbettzimmer fast die Regel waren und daß die Heiminsassen, wie sie damals genannt wurden, einer strengen Heimordnung unterworfen waren, muß anerkennen, daß die meisten unserer modernen Heime ein beachtliches Maß an Geborgenheit,
Wohn- und Pflegequalität gewonnen haben.
Auch hier sollte man den kommunalen, freien und kirchlichen Heimträgern, den Heimleitungen und ihren Mitarbeitern ein Wort der Anerkennung sagen.
Freilich ist hier noch einiges zu tun: Personalmangel und bauliche Verbesserungen bleiben für viele Heime weiter auf der Tagesordnung. Das hat aber auch etwas mit Finanzen zu tun: Die explosionsartig angestiegenen Pflegesätze und die Tatsache, daß etwas zwei Drittel der schwer Pflegebedürftigen die hohen Heimkosten nicht aus eigener Kraft bezahlen können, ganz oder teilweise auf Sozialhilfe angewiesen sind und nach einem arbeitsreichen Leben zu Taschengeldempfängern werden, ist ein soziales Ärgernis, das nicht nur von den Betroffenen als bitter empfunden wird. Die Entwicklung, daß immer mehr Pflegeheimbewohner trotz teilweise hoher Renten- und Pensionsbezüge der Sozialhilfe anheimfallen, bedeutet auch für die Sozialhilfeträger eine erhebliche Belastung. Die Sozialhilfe ist das letzte Netz im System der sozialen Sicherung. Sie ist ihrer Natur nach eine Individualleistung und nicht dazu bestimmt, für eine große Gruppe von Pflegebedürftigen über Jahre hinaus praktisch die einzige Institution zu sein, die hilft. Es muß alarmieren, daß mehr als ein Drittel der gesamten Sozialhilfeaufwendungen auf die Leistungsgruppe „Hilfe zur Pflege" entfällt. Das waren bereits 1982 mehr als 6 Milliarden DM, von denen 87% allein für die stationäre Pflege aufgebracht werden mußten.
Meine Damen und Herren, die Diskussion über eine Lösung dieses Problems, die seit über einem Jahrzehnt ein sozialpolitischer Dauerbrenner ist, muß endlich positiv abgeschlossen werden. Wir Sozialdemokraten haben bei unserem Essener Parteitag 1984 massiv eine befriedigende Lösung gefordert, wobei sowohl der Weg einer Volksversicherung als auch der eines Pflegegesetzes ernsthaft geprüft werden soll.
Ich verweise darauf, daß die Hessische Landesregierung in ihrer Bundesratsinitiative ebenso wie die Wohlfahrtsverbände eine versicherungsrechtliche Lösung vorschlägt, während Rheinland-Pfalz ein Pflegegesetz als Leistungsgesetz vorgelegt hat. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Initiativen und ist bereit, alle Vorschläge sachlich zu prüfen.
Wir bedauern allerdings, daß es die Bundesregierung bisher abgelehnt hat, dieses dringende Problem anzupacken. In ihrem Bericht zu Fragen der Pflegebedürftigkeit macht sie deutlich, daß sie hier die bewährte Kanzlertaktik des Aussitzens anwenden will. Sie erkennt zwar an, daß das gegenwärtige System der Versorgung und Sicherung der Pflegebedürftigkeit der Verbesserung bedarf, schreibt aber dann wörtlich: „Eine Neuregelung durch ein Pflegegesetz oder durch eine Versicherung scheidet aus finanzpolitischen Gesichtspunkten aus."
Frau Ministerin Süssmuth, die diese Erblast ihres Vorgängers übernommen hat, scheint sich der Problematik dieser Frage bewußt zu sein. Sie hat in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung" deutlich gemacht, daß sie eine Kursänderung und die Schaffung eines neuen eigenständigen Finanzsystems anstrebt. Sie schreibt: „Ich denke überhaupt, mit der Entwicklung neuer Ideen in diesem Bereich sind wir noch lange nicht am Ende." Das kann ich nur unterstreichen
und möchte ihr raten, zwar ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und neue Ideen zu entwickeln, darüber aber die Lösung der alten Probleme nicht zu vergessen.
Wir sollten in diesem Hause miteinander wetteifern — im Interesse der alten Menschen und vor allem der Pflegebedürftigen unter ihnen ´-, dafür zu sorgen, daß sie ihren Lebensabend in Würde und möglichst sorgenfrei verleben können.