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ID1016404100

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    Plenarprotokoll 10/164 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 164. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1985 Inhalt: Nachruf auf den Abg. Dr. George . . . . 12261 A Begrüßung von 520 jugendlichen Mitbürgern 12269 C Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu Preisstabilität, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung Dr. Kohl, Bundeskanzler 12261 D Dr. Vogel SPD 12269 D Dr. Dregger CDU/CSU 12279 D Schmidt (Hamburg-Neustadt) GRÜNE 12283 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 12285 D Dr. Waigel CDU/CSU 12289C, 12291 C Roth SPD 12289 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 12295 D Kleinert (Marburg) GRÜNE 12301 B Bueb GRÜNE (zur GO) 12305 A Seiters CDU/CSU (zur GO) 12305 B Frau Fuchs (Köln) SPD 12305 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 12307 D Dr. Hauff SPD 12312 B Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . 12314 B Dr. Ehrenberg SPD 12321 C Urbaniak SPD 12324 B Oostergetelo SPD 12325 C Vizepräsident Frau Renger 12321 C Namentliche Abstimmung 12327 D Nächste Sitzung 12329 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 12330* A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1985 12261 164. Sitzung Bonn, den 16. Oktober 1985 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 164. Sitzung, Seite W A; Vier mal ist statt „Dr. Florian BML" „Dr. Florian BMP" zu lesen. Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein *** 18. 10. Dr. Ahrens * 18. 10. Antretter 18. 10. Bahr 16. 10. Dr. Bangemann 16. 10. Biehle *** 17. 10. Brandt 16. 10. Büchner (Speyer) * 17. 10. Dr. Corterier *** 17. 10. Egert 16. 10. Dr. Ehmke (Bonn) 17. 10. Ertl 16. 10. Francke (Hamburg) *** 16. 10. Funk 18. 10. Gansel *** 16. 10. Dr. von Geldern 16. 10. Gerstein 18. 10. Glos 16. 10. Haase (Fürth) * 18. 10. von Hammerstein 16. 10. Horn *** 16. 10. Dr. Hüsch 16. 10. Dr. Hupka *** 16. 10. Ibrügger *** 16. 10. Jungmann *** 16. 10. Dr.-Ing. Kansy *** 17. 10. Kolbow *** 16. 10. Dr. Kreile 18. 10. Frau Krone-Appuhn *** 16. 10. Kühbacher 18. 10. Dr. Kunz (Weiden) *** 17. 10. Dr.-Ing. Laermann 18. 10. Lange *** 17. 10. Lattmann *** 16. 10. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lemmrich * 17. 10. Frau Dr. Lepsius 18. 10. Frau Dr. Martiny-Glotz 18. 10. Dr. Mertens (Bottrop) 16. 10. Dr. Müller * 18. 10. Müller (Remscheid) 16. 10. Neumann (Bramsche) 18. 10. Dr.-Ing. Oldenstädt 18. 10. Pfeffermann 16. 10. Reddemann ** 18. 10. Frau Roitzsch (Quickborn) 18. 10. Ronneburger *** 16. 10. Roth 18. 10. Sander 17. 10. Sauer (Salzgitter) *** 17. 10. Dr. Schneider (Nürnberg) 18. 10. Schröer (Mülheim) 17. 10. Schulte (Unna) ** 18. 10. Frau Simonis *** 16. 10. Dr. Todenhöfer 18. 10. Frau Traupe *** 17. 10. Verheugen 18. 10. Voigt (Frankfurt) 18. 10. Dr. Warnke 17. 10. Dr. von Wartenberg *** 18. 10. Weiß *** 17. 10. Frau Dr. Wex 16. 10. Dr. Wörner 18. 10. Würtz *** 16. 10. Zierer *** 16. 10. Dr. Zimmermann 18. 10. *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hubert Kleinert


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)

    Daß der Bundeskanzler in seinen Regierungserklärungen im Bundestag wenig Originelles zu bieten hat, wissen wir nicht erst seit heute. Daß diese Regierung in den Debatten um Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit seit Jahr und Tag die Rolle des Gesundbeters spielt und ansonsten allenfalls noch „Erblast, Erblast!" schreit, ist auch nicht neu.
    Seit dem letzten Jahr wissen wir auch, daß Herr Kohl die 35-Stunden-Woche dumm und töricht findet.
    Das alles war bekannt. Aber wenn Herr Kohl hier heute morgen an die Adresse der Gewerkschaften ausgeführt hat — jetzt zitiere ich ihn —, wer solche Kampagnen führe wie die in dieser Woche, der verfolge eigene Interessen auf dem Rücken der Arbeitslosen, ist das wahrlich ein starkes Stück. Ich finde eine solche Aussage unverschämt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD — Stockhausen [CDU/CSU]: Sie sind unverschämt!)

    Wenn es in seiner Rede weiter hieß — jetzt zitiere ich wieder den Bundeskanzler — „Für den DGB besteht bei genauerem Hinsehen wenig Anlaß zu lauten sozialpolitischen Anklagen", dann kann ich dazu nur sagen: Angesichts der sozialpolitischen Wirklichkeit in der Bundesrepublik ist das nicht nur Schönfärberei, wie Herr Vogel es genannt hat; diese Aussage stellt die Tatsachen auf den Kopf, denn die Tatsachen sind so, daß zu Protesten jede Menge Anlaß besteht.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Stockhausen [CDU/CSU]: Das hätten Sie gern; das ist richtig!)

    — Das ist so.
    Sie haben heute früh wieder in der Ihnen eigenen Schlichtheit die bekannte Litanei heruntergebetet von der großen Trendwende auf dem Arbeitsmarkt, von Aufschwung und Wachstum, von Ihren angeblich so grandiosen Erfolgen bei der Inflationsbekämpfung und bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Es war die Rede von einem Höchststand der Sozialleistungen.
    Ich kann nur sagen: Ich hoffe, daß viele Arbeitslose, die seit Jahren einen Arbeitsplatz suchen, daß viele Rentner, denen Sie die Renten gekürzt haben,

    (Stockhausen [CDU/CSU]: Das ist die Unwahrheit, was Sie da erzählen!)

    daß all die anderen Gruppen der Bevölkerung, denen Sie die Sozialleistungen gekürzt haben, diese Rede gehört haben; denn ich denke, daß sich diese Menschen genauso fragen werden wie ich: Wo lebt dieser Mann eigentlich? Von welcher Realität wird hier gesprochen? Sie fragen sich vor allen Dingen: Von welchen Erfolgen wird hier gesprochen?



    Kleinert (Marburg)

    Was hier heute abgefeiert worden ist, das war eine Mischung aus Halbwahrheit, aus Augenwischerei, Tatsachenverdrehung und Gesundbeterei. Das war nichts anderes.

    (Stockhausen [CDU/CSU]: Sie sprechen von Ihren Ausführungen!)

    Denn schlichte Tatsache bleibt doch, daß noch in keinem vorangegangenen Herbst seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland die Arbeitslosenzahl so hoch war wie in diesem Jahr. Tatsache bleibt, daß wir 2,2 Millionen registrierte Arbeitslose haben, daß wir 1,3 Millionen haben, die zur stillen Reserve gehören. Tatsache bleibt, daß in manchen Regionen der Bundesrepublik mittlerweile jeder fünfte arbeitslos ist. Tatsache bleibt, daß zweieinhalb Millionen Menschen von den viel zu niedrigen Sozialhilfesätzen leben müssen. Tatsache bleibt auch, daß in den letzten Jahren die Zahl der Dauerarbeitslosen sich vervierfacht hat. Das ist die soziale Realität in der Bundesrepublik. Die zählt und nicht Ihre schönen Reden hier.

    (Boroffka [CDU/CSU]: Einschließlich der Erhöhung der Sozialhilfe!)

    Die sozialliberale Regierung hat mit der sozialen Demontage begonnen, das ist wahr und hier nicht zu bestreiten. Aber Sie haben diesen Kurs doch seit drei Jahren nur verschärft fortgesetzt. Da ist es doch ein Hohn, wenn Sie hier versuchen, mit der SPD in eine Art Wettbewerb darüber einzutreten, wer denn angefangen hat und wer dabei schlimmer war. Das jedenfalls macht Ihre Politik nicht besser; denn Sie waren es doch, die mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 gerade den sozial Schwächeren das Geld aus der Tasche gezogen haben. Sie waren es doch, die umverteilt haben. Ich kann Ihnen die Zahlen nennen.

    (Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Machen Sie einmal Vorschläge!)

    — Die Vorschläge werden noch kommen. Warten Sie es ab! — 1983 waren es 16,9 Milliarden DM, die Sie den Arbeitslosen, den Kranken, den Behinderten, den Familien, Frauen, aber auch Arbeitern und Angestellten aus der Tasche gezogen haben. 1984 waren es 18,5 Milliarden DM, 1985 noch einmal 7,6 Milliarden DM; dabei sind die kumulativen Umverteilungseffekte noch gar nicht berücksichtigt.
    Nun haben Sie den Betroffenen Jahr für Jahr erzählt, das alles sei zwar nicht schön, aber es sei nötig, denn langfristig werde die Wirtschaft dadurch gesunden und früher oder später hätten alle etwas davon. Sie haben erzählt, wenn die Unternehmensgewinne wieder kräftig stiegen, dann komme die Wirtschaft wieder in Gang, dann gebe es mehr Arbeitsplätze. Sie haben den Leuten erzählt, mit diesen Kürzungen würden Sie das Sozialsystem langfristig sichern.

    (Link [Diepholz] [CDU/CSU]: So ist es!)

    Mit diesen Versprechungen ist diese Regierung auch wesentlich weniger zurückhaltend gewesen als mit den Sozialleistungen. Es war der Kanzler selbst, der im Wahlkampf 1983 verkündet hat, diese Regierung werde die Arbeitslosenzahlen zwar langsam, aber stetig wieder herunterdrücken. Es waren die Herren Geißler und Blüm, die vor zwei Jahren davon gesprochen haben, daß es 1986 eine Million Arbeitslose weniger geben werde. Das waren Ihre Versprechungen, das waren Ihre Aussagen.
    Jetzt haben wir den Oktober 1985. Jetzt kann man sehen, wie die Resultate dieser Politik aussehen. Wie sehen Sie aus? Die Unternehmensgewinne sind gestiegen, sie sind sogar beträchtlich gestiegen. Aber die vielen neuen Arbeitsplätze sind doch ausgeblieben. Die zusätzlichen Gewinne wandern in Rationalisierungsinvestitionen, und sie vernichten unter dem Strich mehr Arbeitsplätze, als sie neue schaffen.

    (Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)

    Die zusätzlichen Gewinne wandern auf die Kapitalmärkte, wo sie vor allem im Ausland enorme Zinserträge erzielen.
    Meine Damen und Herren, Sie wissen das. Sie wissen, daß es nicht stimmt, wenn Sie den Sozialhilfeempfängern erzählen, daß ihr Eckregelsatz so niedrig liegen muß, weil sich nur auf Grundlage eines solchen Kurses etwas an der Arbeitslosigkeit ändert. Sie wissen das, aber Sie fahren diesen Kurs weiter. Sie tun so, als wäre nichts geschehen.

    (Boroffka [CDU/CSU]: Und erhöhen die Sozialhilfe!)

    Ich kann da nur fragen: Wo soll das eigentlich hinführen? Wo ist Ihr Konzept? Glauben Sie in allem Ernst, Sie bekämen 4,5, 5, 6 oder gar 7 % Wachstum? Glauben Sie in allem Ernst, daß Sie auf diese Weise die Massenarbeitslosigkeit wirksam werden bekämpfen können? Sie werden dieses Wachstum nicht bekommen, ganz abgesehen davon, daß ein solches Wachstum aus ökologischen Gründen überhaupt nicht sinnvoll sein kann.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Und auch das zweite Versprechen ist nicht Wirklichkeit geworden, mit dem Sie die Notwendigkeit der Sozialkürzungen begründet haben: Die Stabilisierung des Sozialsystems ist ausgeblieben. Die Renten sind heute genausowenig langfristig gesichert wie bei den Sozialliberalen. Und es ist ja schon interessant, daß es ausgerechnet das Institut jenes Herrn Biedenkopf, den der Kanzler so mag wie der Teufel das Weihwasser, war, das Ihnen das in diesen Tagen wieder vorgerechnet hat.
    Nun sagen Sie, die Inflationsrate sei gesenkt worden. In der Tat, die Inflation liegt heute um einiges niedriger als vor ein paar Jahren. Das nutzt denen, die Einkommen haben. Das ist wahr. Aber was nützt das denn den Arbeitslosen, die statt mit 2 000 oder 2 500 DM Monatseinkommen nun mit 1 000 oder 1 200 DM ihre Familien durchbringen müssen? Was nützt die niedrigere Inflationsrate denn den dauerarbeitslosen Sozialhilfeempfängern, wenn ihr Einkommen gleichzeitig unter die Armutsgrenze gesunken ist? Das ist doch Augenwischerei, was Sie hier treiben.
    Und es ist ein Gerücht, diese Regierung betreibe Subventionsabbau und keine Investitionsförderung.



    Kleinert (Marburg)

    Sie betreiben Investitionsförderung, Sie betreiben sie sogar massiv. Da braucht man nur einen Blick in den Etat des Forschungsministers zu werfen, da braucht man nur mal in den Rüstungshaushalt hineinzusehen. Nur: Was Sie da fördern, das geht doch in die völlig falsche Richtung: Wiederaufbereitungstechnologie, Breitbandverkabelung, Rhein-Main-Donau-Kanal, Atomindustrie; die Reihe der Beispiele läßt sich fortsetzen. Investitionsförderung und Subventionierung finden schon statt. Aber sie gehen in die völlig falsche Richtung. Sie gehen in eine Richtung, wo es ökologisch gefährlich ist und wo es auf Grund des riesigen Kapitalbedarfs pro Arbeitsplatz auch keine oder kaum positive Arbeitsplatzeffekte hat.
    Nun kommen Sie und sagen: Das ist noch nicht alles. Sie weisen auf gestiegene Ausbildungsplatzzahlen hin; Sie kommen mit Vorruhestandsregelung und Beschäftigungsförderungsgesetz.
    Zum ersten Punkt. Es ist richtig: Es werden heute mehr Ausbildungsplätze als vor ein paar Jahren angeboten. Dazu sind drei Dinge zu sagen. Erstens. Nach wie vor suchen Zehntausende von Jugendlichen einen Ausbildungsplatz. Zweitens. Die Zahlen sagen überhaupt nichts über die Qualität der Ausbildung, die dort angeboten wird. Es ist oft genug eine Ausbildung ohne jede Perspektive, in diesem Beruf weiterarbeiten zu können. Drittens — und das ist der zentrale Punkt —: Die Arbeitslosenzahl ist zwar bei den unter 20jährigen gesunken. Aber sie ist bei den 20- bis 25jährigen entsprechend in die Höhe gegangen. Da beträgt sie 14 %. Der Zusammenhang ist ganz einfach zu erklären. Jene, die von einer Maßnahme in die andere geschoben werden — das sind die unter 20jährigen —, fallen zunächst aus der Arbeitslosenstatistik heraus, aber nur mit dem Ergebnis, daß sie ein paar Jahre danach den Gang zum Arbeitsamt antreten müssen und daß Sie dann die höheren Arbeitslosenraten wieder haben, nämlich bei denen, die ein paar Jahre älter sind. Das ist die Realität Ihrer Ausbildungsplatzoffensive.
    Damit bin ich bei Herrn Blüm und den Themen Vorruhestand und Beschäftigungsförderungsgesetz. Leider ist Herr Blüm nicht da.

    (Zurufe)

    Vorruhestand und Beschäftigungsförderungsgesetz sind j a zwei Lieblingskinder des Arbeitsministers. Ich erinnere mich noch gut, wie der Herr Blüm im vorigen Jahr im Bundestag in der Pose des Volkstribuns den Arbeiterführer gemimt und die Vorruhestandsregelung als demokratischste Form der Arbeitszeitverkürzung und ganz wichtigen Schritt zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit angepriesen hat. Der Herr Blüm hat hier vorne den Kollegen Norbert von Opel gemimt, ist entsprechend herumgeturnt und hat den Leuten verkündet, der Vorruhestand werde einen großen Durchbruch bringen und sei bei den Arbeitnehmern populärer als die Wochenarbeitszeitverkürzung. Das war in der Zeit, als die Auseinandersetzung um die 35-StundenWoche anstand, jene Forderung, die der Herr Bundeskanzler damals als dumm und töricht bezeichnet hat.
    Nun will ich gerne zugeben, daß ich ein großer Verehrer der rhetorischen Talente des Herrn Blüm bin. Ehre, wem Ehre gebührt. Die ganzen Wasserrohrbrüche, die der Herr Blüm in den letzten Jahren im Deutschen Bundestag verhandelt hat, die vielen geplatzten Wasserleitungen, die angeblich nicht repariert werden könnten, wenn die Überstunden eingeschränkt würden, die zerbrochenen Fensterscheiben, die hier die Beispiele abgegeben haben und die zu reparieren im Winter unabweisbarer Bedarf, im Sommer keiner besteht, die ideologischen Lagerfeuer, die der Herr Blüm bei den Gewerkschaften im Sprockhövel ausgemacht hatte, die „Butter bei die Fisch", das alles ist schon gekonnt. In Sachen Populismus ist der Herr Blüm in dieser Regierung in der Tat konkurrenzlos.
    Aber damit hat es sich auch schon mit der Verehrung. Denn wenn ich mir die praktischen Ergebnisse der Politik des Herrn Blüm ansehe, dann stelle ich fest, daß von dem IG-Metall-Kollegen Norbert, der hier den Sachwalter von Arbeitnehmerinteressen mimt, nicht mehr viel übrigbleibt. Hinsichtlich des Vorruhestandes hatte der IG-MetallKollege Norbert Blüm angekündigt, dies könne bis zu 150 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Bis jetzt sind es kaum mehr als 10 000 geworden. Das ist das praktische Ergebnis.
    Das Beschäftigungsförderungsgesetz verdient alles andere als diesen Namen. Denn es fördert nicht die Beschäftigung, sondern die Aushöhlung des gesetzlichen Kündigungsschutzes. Das Beschäftigungsförderungsgesetz schafft praktisch keinen einzigen neuen Arbeitsplatz, sondern führt nur dazu, daß bei der Neubesetzung alter Dauerarbeitsplätze fast nur noch zeitlich befristete Arbeitsverträge vergeben werden.

    (Tischer [GRÜNE]: Das ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten!)

    Das sind die wirklichen Segnungen, die der Herr Blüm in seiner ganzen Vitalität und Volkstümlichkeit über die Arbeitnehmer ausgestreut hat. Ich will dazu ein ganz deutliches Wort sagen: Der Herr Blüm spielt hier den Kasper,

    (Tischer [GRÜNE] und Tatge [GRÜNE]: Er ist einer!)

    um den Leuten die Politik dieser Regierung zu verkaufen. Zwar haben seine Reden hohen Unterhaltungswert — das würde ich nie bestreiten —, aber die ganze Sprechblasenrhetorik, die dabei abgelassen wird, kann über eines nicht hinwegtäuschen: Der Herr Blüm ist aus meiner Sicht in Wahrheit nichts anderes als ein populistischer Simplizissimus der Sozialpolitik. Ich sage hier an dieser Stelle: Die Leute merken langsam, daß sich hinter dieser Rhetorik, hinter dieser Sprechblasenrhetorik eine ganz andere Realität verbirgt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr werdet viel früher durchschaut!)

    Das wirtschafts- und sozialpolitische Konzept dieser Regierung ist im Blick auf die eigenen vorgegebenen Ziele nicht nur kläglich gescheitert, sondern es ist auch schon im Ansatz verfehlt; es enthält keinerlei weiterweisenden Perspektiven. Wenn Sie Ihre



    Kleinert (Marburg)

    Politik so fortsetzen, werden die Gewinne weiter steigen, werden Sie vielleicht noch ein bißchen mehr Wachstum des Bruttosozialprodukts erzielen, werden Sie weiter Umverteilungseffekte produzieren, aber die Arbeitslosigkeit wird mindestens auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben. Und wenn dann die nächste konjunkturelle Talfahrt kommt — und die wird kommen —, dann wird die Arbeitslosenzahl noch kräftiger ansteigen, als sie das gegenwärtig tut. Eine Perspektive ist bei dieser Politik nicht sichtbar.
    Aber der Herr Bangemann, der leider auch nicht da ist,

    (Tischer [GRÜNE]: Die sind alle nicht da! — Schily [GRÜNE]: Bangemann ist dafür doch nicht zuständig!)

    hat ja inzwischen ohnehin schon seine eigene Erklärung für die Massenarbeitslosigkeit bei der Hand: Nach Auffassung von Herrn Bangemann ist die Arbeitslosigkeit vor allem eine Frage mangelnder Qualifikation und mangelnder sozialer Mobilität der Arbeitslosen. Eine solche Aussage berührt einen sensiblen Punkt. Man mag hier über richtige und falsche Wege in der Wirtschaftspolitik zwar viel streiten, aber solche Erklärungen für das Vorhandensein von Massenarbeitslosigkeit in die Welt zu setzen, die den Arbeitslosen die Schuld am Ende selber in die Schuhe schieben, finde ich zynisch. Da frage ich mich schon, ob jemand, der so etwas behauptet, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit wirklich als vorrangiges Ziel seiner eigenen Politik begreift. Da habe ich schon die Auffassung, daß der Herr Bangemann nichts anderes ist als die Fortsetzung des Herrn Lambsdorff mit etwas weniger arroganten Mitteln.
    Daß diese Bundesregierung Sozialabbau und Umverteilung massiv betreibt, daß sie Arbeitslosigkeit im wesentlichen tatenlos hinnimmt, ist nur die eine Seite ihrer Politik. Die andere Seite ist die massive Einschränkung von Arbeitnehmerrechten. Diese massive Einschränkung von Arbeitnehmerrechten ist der Hintergrund für ihre Vorhaben zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Dies ist auch der Hintergrund für die beabsichtigte Änderung des § 116 AFG. In dieser beabsichtigten Änderung des § 116 AFG sehen wir den Zentralangriff. Hier wird auf die Einschränkung des Streikrechts gezielt. Wenn Ihre Vorstellungen zur Änderung des § 116 zum Tragen kommen sollten, würde das in der Konsequenz einen Schlag gegen ein elementares Verfassungsrecht bedeuten. Es bedeutete die faktische Einschränkung, ja Aushöhlung des Streikrechts; denn wenn dieses Gesetz im Bundestag beschlossen werden sollte, hätten die Unternehmer in zukünftigen Arbeitskampfauseinandersetzungen die Möglichkeit, auf dem Wege der Angriffsaussperrung die Gewerkschaften finanziell ausbluten zu können. Das ist nicht nur eine vage Absichtserklärung der Regierung; Herr Bangemann hat erst in diesen Tagen wieder seine Überzeugung geäußert, daß dieses Gesetz bis zum nächsten Frühjahr verabschiedet werde.
    In diesem Zusammenhang wird häufig und gern das Wort von der Neutralität der Bundesanstalt für
    Arbeit und der Chancengleichheit verwendet. Ich sage Ihnen dazu: Verbieten Sie die Aussperrung, wie wir das in unserem Gesetzentwurf vorschlagen und wie die hessische Landesverfassung aus dem Jahre 1946 das vorsieht. Wenn Sie das täten, wäre das ganze Problem, das in § 116 AFG beinhaltet ist, jetzt erledigt.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Aber das würde eine ganz andere gesellschaftspolitische Strategie voraussetzen als die, auf die Sie abzielen. Die, auf die Sie abzielen, ist nicht die gesellschaftspolitische Richtung, in die DIE GRÜNEN wollen. So sehr wir kritisieren, wenn in der Gewerkschaft kritische Positionen abgewürgt werden, so sehr wir kritisieren, wenn die IG Bau-Steine-Erden beispielsweise beschließt, daß Arbeitslose nicht in die Gewerkschaft aufgenommen werden sollen, so sehr bejahen wir die Notwendigkeit von Protesten gegen diese Politik, gegen die gesellschaftspolitische Strategie dieser Regierung und unterstützen es, wenn diese Proteste in diesen Tagen stattfinden.
    Wir sind für einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wir sagen nicht Arbeit oder Beschäftigung um jeden Preis. Wir wollen keine zusätzlichen Arbeitsplätze in der Rüstung oder Atomindustrie. Im Gegenteil: Wir wollen solche Produktionszweige abbauen. Aber wir sagen gleichzeitig: Es gibt eine Fülle von Bedarfsfeldern in der Gesellschaft, wo dringend Investitionen und auch staatliche Investitionsförderung notwendig sind.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Die Abwässer und die Kohlekraftwerke müssen entgiftet werden. Die Altlasten müssen saniert werden. Es muß Energie eingespart werden. Die Voraussetzungen zu einer rationelleren Energienutzung müssen hergestellt werden. Wir brauchen einen Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems; denn es bietet umweltverträgliche Verkehrsmittel. Und es gibt weitere Bereiche, in denen dringend etwas getan werden muß.

    (Zuruf des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])

    Solche Investitionen sind notwendig und solche ökologischen Investitionen hätten auch positive Arbeitsplatzeffekte.
    Darüber hinaus muß Arbeitszeit umverteilt werden. Es kann doch nicht sinnvoll sein, daß die einen Überstunden leisten und die anderen auf dem Arbeitsamt Schlange stehen müssen. Arbeitszeitverkürzung ist dringend notwendig, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu akzeptablen sozialen Bedingungen. Ein neues Arbeitszeitgesetz ist notwendig, das dazu Rahmenbedingungen schafft. Wir brauchen die gesetzliche Beschränkung von Überstunden.
    Auch in der Sozialpolitik ist ein grundlegender Kurswechsel notwendig. Die in den letzten Jahren eingetretenen Leistungskürzungen in den Sozialhaushalten müssen zurückgenommen werden. Das ist finanzierbar, wenn entsprechend Haushaltsmit-



    Kleinert (Marburg)

    tel umgeschichtet werden. Wir brauchen eine entsprechende Mindestabsicherung für die Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in einer Höhe von 1 000 DM und eine Anhebung des Eckregelsatzes in der Sozialhilfe. Nicht die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten darf die Richtung der gesellschaftspolitischen Diskussion angeben, sondern ihre Ausweitung.
    Nicht nur die ökologischen Perspektiven in diesem Lande sind eher düster, auch die sozialen und wirtschaftlichen. Diese Regierung tut das Ihre dazu, daß das so bleibt.
    Wir behaupten nicht, daß wir den Stein des Weisen für uns gepachtet hätten. Wir wissen auch, daß der ökologische Umbau dieser Gesellschaft, der längerfristig unumgänglich ist, eine Reihe von Umstrukturierungs- und Übergangsproblemen aufwirft. Aber wir gehen davon aus, daß der Weg, den wir vorschlagen, in die richtige Richtung weist. Und eines steht fest: Der Weg, den diese Regierung seit einigen Jahren geht und den sie fortsetzen will, geht mit Sicherheit in die falsche Richtung.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Bueb [GRÜNE]: Zur Geschäftsordnung!)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sie melden sich zur Geschäftsordnung. Nach § 29 der Geschäftsordnung?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Eberhard Bueb


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)

    Nein, ich melde mich zur Geschäftsordnung nach § 25 Abs. 2, wo es um den Schluß der Aussprache geht.
    Wir sind der Meinung, daß das Interesse des Bundestages an der Aussprache über die Regierungserklärung äußerst dürftig ist, meine eigene Fraktion eingeschlossen, und deswegen beantrage ich Schluß der Aussprache, weil ich nicht einsehe, daß wir vor leerem Haus diskutieren sollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)