Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident, ich werde Ihren Hinweis befolgen.
Verglichen mit unserer eigenen Lage in den Nachkriegsjahren, verglichen mit den meisten anderen Völkern der Erde sind wir wohlhabend, wenn nicht sogar reich.
Unser Volk hat aus Not und Elend in den Jahrzehnten nach dem Krieg weit über 10 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge eingegliedert. Es hat durch den Bau von Millionen Wohnungen die Wohnungsnot überwunden. Es hat aus den Trümmern die Produktionsanlagen moderner und leistungsfähig wiederaufgebaut.
Es hat ein vorbildliches System der sozialen Sicherheit geschaffen.
Das ist gelungen, weil wir die Entfaltung der individuellen Kräfte mit dem Einsatz der gebündelten Kraft unseres Volkes verbunden haben: mit dem Lastenausgleich, mit dem sozialen Wohnungsbau, mit großen Investitionshilfeprogrammen und mit den Gemeinschaftsinstrumenten unserer sozialen Sicherung.
Auf dem gleichen Weg können wir auch die Arbeitslosigkeit fühlbar mildern und zugleich der Zerstörung unserer Umwelt Einhalt gebieten.
Es fehlt nicht an gutem Willen und der Anstrengung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es fehlt auch nicht an den Ressourcen. Es fehlt an der Bündelung der Kräfte. Es fehlt an der politischen Orientierung und der politischen Führung. Dies ist der Kernpunkt.
Wir sind tief überzeugt: Unser Volk will nicht zurück in die Zeit der Ellbogengesellschaft. Diejenigen, denen es gutgeht, wollen in ihrer übergroßen Mehrheit nicht, daß es anderen schlechtgeht. Nur ganz wenige wollen, daß es ihnen auf Kosten der anderen gutgeht. Unser Volk weiß: Eine menschenwürdige Gesellschaft und sozialer Friede setzen das solidarische Bündnis zwischen Stärkeren und Schwächeren voraus. Die Gewerkschaften und die Kirchen fordern dieses Bündnis. Wir bejahen es und sind bereit, unsere Verantwortung im Rahmen eines solchen Bündnisses zu übernehmen.
Sie sagten soeben, Herr Bundeskanzler, Sie stünden im Herbst 1985 an einer entscheidenden Wendemarke. Da stimme ich Ihnen zu. Für eine Wende, für eine Korrektur Ihres verfehlten, Ihres gefährlichen, Ihres auf Konfrontation hinauslaufenden Kurses bleibt Ihnen und Ihrer Koalition nur noch ein kurzer Zeitraum.
Mißachten Sie die Wendemarke für diese Korrektur und setzen Sie Ihre bisherige Politik fort,
so wird es nicht bei einer Protestwoche und nicht bei unseren Protesten im Bundestag bleiben, sondern dann wird der Wahltag im Januar 1987 zum entscheidenden Protesttag werden. Dann wird Ihnen unser Volk im Januar 1987 die notwendige Quittung geben,
und zwar nicht weniger klar und nicht weniger deutlich, als es unser Volk in diesem Jahr bereits an der Saar sowie an Rhein und Ruhr getan hat.