Kollege Scheer, mein Standpunkt zu SDI deckt sich mit dem der Regierung. Und die Regierung beschäftigt sich im Augenblick
mit den Forschungsanstrengungen. Der Bundeskanzler hat hier eindeutig klargestellt,
daß ein Urteil über Stationierung oder Nichtstationierung solcher Systeme und auch ein Urteil über strategische Vor- und Nachteile solcher Systeme erst möglich ist, wenn wir wissen, was aus diesen Forschungsanstrengungen herausgekommen ist.
Deswegen — ich sage das etwas ironisch — bewundere ich die Sozialdemokratie, die, bevor sie weiß, was aus diesen Forschungsanstrengungen herausgekommen ist, bereits ein apodiktisches Nein gesagt hat. Wir sagen kein apodiktisches Nein. Wir sagen ja zu den Forschungsanstrengungen, aber wir behalten uns unser Urteil über die Stationierung solcher Systeme bis zu einem Zeitpunkt vor, wo wir strategisch wie politisch alle Konsequenzen durchschauen können.
Ich sage, die Strategie der flexiblen Antwort ist wie jede Strategie dynamischer Art. Und das heißt, sie muß weiterentwickelt werden. Genau das geschieht auf Betreiben der Bundesregierung, einmal durch eine Verstärkung unserer konventionellen Verteidigungsfähigkeit, mit der Absicht, uns vom Zwang zum frühzeitigen nuklearen Ersteinsatz zu befreien, und zum zweiten durch einseitige Reduzierung, Umstrukturierung und Modernisierung unseres taktischen Nuklearpotentials, das damit auf das zur Abschreckung wie Verteidigung notwendige Minimum reduziert wird.
Dabei weist die Tendenz sehr klar auf die Reduzierung nuklearer Gefechtsfeldwaffen zugunsten weiterreichender Nuklearwaffen hin. Dies liegt eindeutig im Interesse der Bundesregierung und im Interesse der Kriegsverhinderung.
Jetzt möchte ich auf etwas aufmerksam machen, was in der Diskussion draußen immer mehr übersehen wird und was auch Sie von der SPD offensichtlich nicht hinreichend bedenken: Die NATO leistet in Europa bereits jetzt einen entscheidenden Beitrag zur Vertrauensbildung. Ich sage, sie leistet, ohne Übertreibung, den entscheidendsten Vertrauensbeitrag als Vorleistung, den man überhaupt leisten kann. Unsere Streitkräfte in Europa sind bereits heute konventionell und nuklear so ausgerüstet, ausgebildet, zahlenmäßig begrenzt und ihre Logistik aufgebaut, daß sie zu einem Angriff außerstande sind, selbst wenn irgendein Verrückter das wollte. Keiner, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, will es. Ich sehe auch sonst im Westen niemanden, der das wollte. Aber selbst wenn es gewollt würde, es ginge nicht. Die Streitkräfte der NATO sind außerstande zum Angriff.
Und jetzt schauen wir auf den Warschauer Pakt. Sein Rüstungspotential, seine Streitkräfte sind so ausgelegt und ausgerüstet, daß sie, weit über die eigenen Sicherheitsbedürfnisse hinaus, zu einem Angriff auf die NATO befähigt sind. Jetzt kommt die Konsequenz — die sollte gelegentlich ausgesprochen und mitbedacht werden —: Würde der Warschauer Pakt genau das tun, was die NATO in Mitteleuropa bereits getan hat, d. h. seine Streitkräfte in Logistik, Ausbildung, Ausrüstung, Zahlenstärke so zuschneiden, daß sie zu einem Angriff
10624 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 143. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1985
Bundesminister Dr. Wörner
außerstande wären, hätten wir jedes Risiko für den Frieden beseitigt; wir hätten die Vertrauensbildung schlechthin.
Herr Scheer, Sie haben heute den Begriff der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit nicht wieder verwandt. Sie haben ähnliches gemeint. Sie haben es angedeutet. Die Streitkräfte der NATO sind strukturell nicht angriffsfähig. Ich wollte, die Streitkräfte des Warschauer Pakts wären das auch. Dann brauchten wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Dann wäre der Frieden in Europa sicher.
Bei uns sind die Prioritäten bei der Verstärkung konventioneller Verteidigung klar. Erst die Abwehr der ersten Staffel, dann die Ergänzung durch gleichzeitige und angemessene Bekämpfung nachfolgender Kräfte des Warschauer Pakts. Das hat nichts mit Vorwärtsverteidigung zu tun.
— Wenn man sich nach Ihnen richten würde, lieber und verehrter Kollege von den GRÜNEN, dann wäre in der Tat nicht nur nichts zu verteidigen, sondern dann hätten wir längst unsere Freiheit eingebüßt und könnten uns so frei in diesem Hause nicht mehr unterhalten.
Was Sie vorschlagen, ist der freiwillige Marsch in die Unterwerfung. Wir haben unsere Freiheit kostbar genug errungen. Wir wollen sie nicht wieder preisgeben. Deswegen verteidigen wir uns.
Ich sage noch einmal: Wir wollen die nachfolgenden Staffeln bekämpfen, und zwar deswegen, damit ein Angreifer nicht davon ausgehen kann, daß sein eigenes Territorium Sanktuarium bleibt, damit er nicht davon ausgehen kann, daß er einen Angriff allein auf den Schultern des Angegriffenen und seiner Bevölkerung austragen kann.
Aus diesem Grunde sind im übrigen auch alle Vorstellungen über Raumverteidigung, auch wenn man sie mischt mit anderen Vorstellungen, untauglich; denn Raumverteidigung heißt, man läßt den Gegner ins eigene Land kommen, verzichtet auf Kräfte, die ihn wieder herauswerfen könnten. Das heißt, man sagt ihm: Du darfst angreifen, das einzige Risiko ist, daß du eines Tages stehenbleiben mußt. Das heißt: Für mich ist es Untergang, Besetzung, Verlust der Freiheit, Verlust der Existenz, für dich ist es bloß die Frage nach Sieg oder Stehenbleiben. Was ist das für eine Strategie? — Das ist eine Kriegsführungsstrategie und keine Kriegsverhinderungsstrategie.
Genau deswegen machen wir sie — jedenfalls von der Bundesregierung aus — nicht mit. Alle alternativen Vorstellungen, die auf eine Raum- bzw. raumdeckende Verteidigung und auf das Auskämpfen eines langdauernden Krieges auf unserem Territorium hinauslaufen, sind Schlichtweg mit deutschem Interesse nicht zu vereinbaren.
Auf der nationalen Ebene stellt die Bundeswehrplanung diese Prioritäten sicher. Wir werden darüber im Laufe dieses Jahres ja noch diskutieren.
Ich möchte noch auf einen Gedanken eingehen, den man gelegentlich als alternative Vorstellung bezeichnet hat. Der Kollege Scheer hat ihn heute wieder angedeutet. Ich schicke noch einmal voraus, wir dürfen nicht vergessen, daß glaubwürdige Abschreckung gegenüber dem auch nuklear hochgerüsteten Warschauer Pakt durch konventionelle Mittel alleine nicht sichergestellt werden kann. Erst die Verkoppelung von konventionellen und nuklearen Potentialen und Optionen hat den Krieg seiner geschichtlichen Funktion als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln beraubt.
Deswegen, lieber Kollege Scheer, sind alle Überlegungen realitätsfern und nicht mit unserem deutschen Interesse vereinbar, die die NATO-Triade — strategisch-nuklear, taktisch-nuklear, konventionell — durch das Auflösen des mittleren Elements der nuklearen Kurz- und Mittelstreckenwaffen zu einer Dyade verkümmern lassen. Es ist gerade das mittlere Element dieser Triade, das die geostrategische und militärstrategische Einheit der Allianz verdeutlicht und zur politischen wie strategischen Ankoppelung — das eine ist so wichtig wie das andere — des amerikanischen Potentials entscheidend beiträgt.
Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Sie dieses mittlere Element herauslösten. Sie müßten dann im Konfliktfall, scheiterten die konventionellen Mittel, sofort auf die nuklearstrategische Ebene ausweichen; und dies in einem Zeitalter strategischer Parität, die Sie und ich j a beibehalten wollen. Das hieße im Grunde genommen, daß Sie nach kurzer Zeit oder nach längerer Zeit — je mehr oder je weniger Sie sich konventionell verteidigen können — vor der Alternative Kapitulation oder Vernichtung stünden.
Das ist keine Strategie. Das ist vor allen Dingen keine Strategie der Abschreckung und keine Strategie, die Ihnen Krisenstabilität gibt. Da wir alle denken — jedenfalls denke ich es —, daß wir den Krieg verhindern können, kommt es mir darauf an, eine Strategie so auszulegen, daß sie die Bundesrepublik Deutschland auch in einer Krise handlungsfähig hält und die Sicherheit unserer Menschen auch von der Wahrnehmung her gewährleistet.
Ich sage also: Das, was ich heute an Überlegungen von Ihnen gehört habe, hat mich nicht überzeugt — und ich denke, das hat sich auch begründen lassen —, daß es besser geeignet wäre als die gegenwärtige Strategie in der Weiterentwicklung, die wir beabsichtigen, unseren Frieden zu sichern und die Freiheit zu erhalten. Ganz abgesehen davon — und ich sage das unpolemisch, weil die ganze Debatte unpolemisch war, was ich sehr dankbar re-
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gistriere —, bin ich auch noch nicht sicher, daß das, was Sie hier gesagt haben, die Auffassung der SPD als solcher ist; denn ich höre sehr viele und sehr unterschiedliche Stimmen über die strategischen Vorstellungen der SPD.
Nun haben Sie vieles auch so allgemein gesagt, daß man sich auch gar nicht konkret damit auseinandersetzen kann. Wenn Sie etwa von einer Mischung der Raumelemente mit den Elementen der Vorneverteidigung reden, kann ich mich damit, solange ich nicht weiß, was das in Strukturelementen bedeutet, beim besten Willen nicht auseinandersetzen.
Ein Letztes. Ich glaube, wir alle haben die Pflicht, gerade bei der Friedensdiskussion unserer Tage eines wieder stärker in Erinnerung zu rufen, das häufig genug überschlagen oder verdrängt wird. Sie hören es nicht zum erstenmal von mir, und ich werde das wieder und wieder in Debatten dieser Art sagen, weil es mich wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, nämlich zur Frage: Wo entstehen letztlich Kriege? Das ist der unlösbare Zusammenhang zwischen Frieden und Freiheit. Die tiefste Ursache des Unfriedens liegt in der Unfreiheit und im Unrecht.
— Genau dort liegt sie eben nicht. Wenn Sie ein bißchen länger nachdenken würden, dann würden Sie das endlich auch kapieren.
Wo sich Menschen und Völker frei begegnen können, ist friedliche Verständigung leichter möglich. Das haben wir doch mit Frankreich gezeigt.
Mauer — auch wenn es Ihnen nicht paßt, ich werde nicht aufhören, das zu sagen —, Stacheldraht und Schießbefehl sind mit Frieden, Aussöhnung und Verständigung nicht vereinbar.
Wer den Frieden dauerhaft sichern will, der muß Grenzen durchlässiger machen, muß Menschen zueinanderführen und menschliche Freiheiten ausweiten. Das ist das Ziel und die Perspektive unserer Friedenspolitik.
Nur so hat Friedenspolitik überhaupt eine Chance.
Militärische Macht muß eingegrenzt werden. Wir sind zu jeder Rüstungskontrollmaßnahme, zu jedem gleichgewichtigen Herabfahren der Potentiale nicht nur bereit, wir wollen das!
Aber, meine Damen und Herren, wir wollen den
Frieden auch dauerhaft sichern, und das heißt, wir
wollen, daß die Menschen in Ost und West sich frei
begegnen, sich ihrer Freiheiten und der Menschenrechte erfreuen können.
Dann und nur dann wird es Frieden auf Dauer und eine Friedensordnung geben, die diesen Namen verdient.