Rede von
Dr.
Erika
Hickel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor Weihnachten hörten wir von dem Aussickern hochgiftiger chlorierter Kohlenwasserstoffe aus der Mülldeponie in HamburgGeorgswerder, einem Tatbestand, der der dortigen Regierung bereits sehr viel früher, mindestens ein Jahr früher, bekannt war.
Kürzlich alarmierte uns der dioxinhaltige Staub aus der Altölverbrennungsanlage in Landsweiler im Saarland. Auch dieser Tatbestand war der Regierung spätestens seit Oktober 1982 bekannt. Der Betrieb dieser Anlage war, entgegen den Bestimmungen des Altölgesetzes, auch genehmigt worden.
Vorgestern erfuhren wir nun, daß allein in Nordrhein-Westfalen pro Jahr über 30 kg an Dioxinen aus Müllverbrennungsanlagen entweichen, eben Gifte einer Klasse, die bereits in Bruchteilen eines Milligramms Leber und Nieren angreifen, langfristig Krebs erzeugen und die Schädigung menschlicher Embryonen hervorrufen.
Diese chemischen Produkte aus der Stoffklasse der Seveso-Gifte sind Neben- und Folgeprodukte der chlorierten Kohlenwasserstoffe, aus denen sie bei Erhitzung entstehen. Sie sind inzwischen überall verbreitet. Bezeichnend ist, daß sie schon in dem Urin von Menschen vorkommen, die mit ihnen bewußt gar nicht in Berührung gekommen sind. Es handelt sich hier um eine chemische Zeitbombe, die zwar schon jetzt explodiert, aber heimtückisch genug ist, gleichzeitig ein sich dauernd vermehrendes, schleichendes Langzeitgift für die Zukunft zu sein.
Und nun erfahren wir, daß das Umweltbundesamt für die Regierung eine Studie dazu angefertigt haben soll. Ich meine nicht diesen allgemeinen Sachstandsbericht vom Frühjahr 1983, sondern eine zweite, detailliertere Studie, die eine genaue Aufstellung all der Fälle enthalten soll, in denen diese Dioxine entstehen können. Diese zweite Studie wird geheimgehalten.
Wenn das stimmt — und wir verlangen von Ihnen darüber Auskunft —, dann hat diese Regierung etwas zu verbergen;
denn sie ist schließlich für den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit verantwortlich.
— Sie hat noch mehr zu verbergen, ich weiß.
Stimmt es nicht — und darüber bitte ich um Auskunft —, dann hat diese Regierung offensichtlich selber keine Übersicht darüber, wo überall diese Stoffe aus der Klasse der Seveso-Gifte in welchen Mengen bei uns entstehen, obwohl wir GRÜNEN die Regierung bereits im Sommer 1983 aufgefordert hatten, dies zu erforschen. Leicht ist es nicht, sie zu erforschen, das wissen wir. Und wir allein oder die ökologischen Forschungsinstitute, denen Sie so gern solche Arbeit überlassen, können das nicht erledigen; denn etwa 50 % aller chemischen Prozesse in der Industrie beinhalten den Umgang mit polychlorierten Kohlenwasserstoffen, aus denen bei Erhitzung immer Dioxine entstehen können.
3624 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 51. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. Januar 1984
Frau Dr. Hickel
— Gucken Sie in „Römpps Lexikon". Schon da steht es.
— Ich auch.
Sie entstehen beim Verbrennen von Leder, von Strümpfen, von Holz und von anderen Stoffen und Gegenständen, die man gegen Pilzbefall schützen zu müssen meint, beim Verbrennen von Transformatoren, von Altöl. Ja, man muß schon fragen: Wo entstehen sie nicht? Es handelt sich also um eine Gefährdung umfassenden Ausmaßes, bei der ein politisches Konzept für den Umgang mit derartigen Stoffen unerläßlich ist.
Wir GRÜNEN erwarten Auskunft von der Bundesregierung: Welches ist Ihr Konzept für den Umgang mit diesen polychlorierten Kohlenwasserstoffen und mit ihren hochgiftigen Folgeprodukten? Was unternimmt die Bundesregierung, um die chemische Industrie zu veranlassen, ihre Produktionsverfahren und ihre Produkte so umzustellen, daß in absehbarer Zeit keine Stoffe aus der Klasse der Seveso-Gifte mehr entstehen können?
Sie werden mir sicher erzählen wollen: Das geht gar nicht. So, wie es heute läuft, geht's tatsächlich nicht. Da muß sich etwas ändern.
Wann endlich gedenken Sie das Chemikaliengesetz so anzuwenden, daß es in Fällen wie diesen wirklich etwas nützt? In welchem Ausmaß werden bei uns immer noch — das ist eine weitere Frage — trotz des teilweise erlassenen Produktionsverbots polychlorierte Biphenyle, Pentachlorphenol und 2,4,5-T-Säure angewendet?