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    Plenarprotokoll 10/48 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 48. Sitzung Bonn, Freitag, den 20. Januar 1984 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 3439 A Aktuelle Stunde betr. Affäre Kießling Bastian GRÜNE 3439 B Francke (Hamburg) CDU/CSU 3440 B Dr. Apel SPD 3441 A Ronneburger FDP 3442 A Dr. Wörner, Bundesminister BMVg . . 3443A Horn SPD 3444 B Hauser (Esslingen) CDU/CSU 3445 C Dr. von Bülow SPD 3446 B Wimmer (Neuss) CDU/CSU 3447 B Kolbow SPD 3448 B Frau Krone-Appuhn CDU/CSU 3449 B Jungmann SPD 3449 D Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 3450 D Berger CDU/CSU 3451 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand — Drucksache 10/880 — Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 3452 C Lutz SPD 3457 A Müller (Remscheid) CDU/CSU 3459 D Hoss GRÜNE 3463 A Cronenberg (Arnsberg) FDP 3465 C Heyenn SPD 3467 C Frau Seiler-Albring FDP 3469 D Egert SPD 3470 C Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa in Stockholm vom 17. bis 19. Januar 1984 Genscher, Bundesminister AA 3472 A Dr. Ehmke (Bonn) SPD 3475 C Rühe CDU/CSU 3478 D Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 3481 B Schäfer (Mainz) FDP 3483 D Nächste Sitzung 3485 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 3486*A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 3486* C Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 48. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Januar 1984 3439 48. Sitzung Bonn, den 20. Januar 1984 Beginn: 8.30 Uhr
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 20. 1. Antretter* 20. 1. Bahr 20. 1. Bohl 20. 1. Brandt 20. 1. Brosi 20. 1. Büchner (Speyer) 20. 1. Frau Dr. Däubler-Gmelin 20. 1. Dr. Enders* 20. 1. Ertl 20. 1. Gerlach (Obernau) 20. 1. Grünbeck 20. 1. Frau Dr. Hamm-Brücher 20. 1. Handlos 20. 1. Haungs 20. 1. Heimann 20. 1. Huonker 20. 1. Graf Huyn 20. 1. Jansen 20. 1. Jung (Düsseldorf) 20. 1. Kretkowski 20. 1. Kroll-Schlüter 20. 1. Landré 20. 1. Lenzer* 20. 1. Dr. Lippold 20. 1. Dr. h. c. Lorenz 20. 1. Offergeld 20. 1. Petersen 20. 1. Frau Potthast 20. 1. Rawe 20. 1. Reddemann* 20. 1. Reschke 20. 1. Reuschenbach 20. 1. Saurin 20. 1. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Scheer 20. 1. Schlaga 20. 1. Frau Schmedt (Lengerich) 20. 1. Schmidt (Hamburg) 20. 1. Schmidt (München)* 20. 1. Schmidt (Wattenscheid) 20. 1. Schröder (Lüneburg) 20. 1. Schröer (Mülheim) 20. 1. Dr. Solms 20. 1. Spilker 20. 1. Stockleben 20. 1. Vahlberg 20. 1. Voigt (Frankfurt) 20. 1. Dr. Voigt (Northeim) 20. 1. Voigt (Sonthofen) 20. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesminister für Wirtschaft hat dem Präsidenten des Deutschen Bundestages mit Schreiben vom 23. Dezember 1983 eine Vorlage betreffend Vertragsverletzungsverfahren der EG-Kommission wegen des deutschen Filmförderungsgesetzes übermittelt. Der Bundestagspräsident hat aufgrund von § 77 Abs. 2 GO entschieden, daß diese Vorlage nicht als Bundestagsdrucksache veröffentlicht wird. Sie wurde den Fraktionen und dem Innenausschuß zugeleitet. Der Vorsitzende des Finanzausschusses hat mit Schreiben vom 18. Januar 1984 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehende EG-Vorlage zur Kenntnis genommen hat: Vorschlag für eine Fünfzehnte Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer - Verlängerung der Frist für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in der Republik Griechenland (Drucksache 10/799 Nr. 6)
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Jürgen Egert


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will diese etwas erweiterte Ausschußsitzung nicht mißbrauchen, um vorweggezogene Ausschußberatung zu machen.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Wir werden sicherlich die Zeit und vor allem die Notwendigkeit haben, uns über den Gesetzentwurf der SPD und das, was hier aus dem Hause Blüm als Gesetzentwurf zum gleichen Thema vorgelegt worden ist, ausführlich auszutauschen. Ich will auch nicht meiner verehrten Vorrednerin nacheifern und die vorweggezogene Debatte über einen Gesetzentwurf, dessen Diskussion in diesem Hause noch bevorsteht, heute eröffnen, weil auch dies zu nichts führen kann;

    (Beifall bei der SPD)

    denn dann könnte man ja insgesamt sagen: Wir nehmen das noch nachträglich auf die Tagesordnung und ersparen es uns, in der nächsten Woche darüber zu reden. Aber es muß darüber geredet werden, weil meine Vermutung ist, daß beide Gesetzentwürfe — und dies ist ihr einziger Zusammenhang — im Ergebnis dazu führen werden, daß wir ein Mehr an Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland haben werden.

    (Zurufe von der SPD: So ist es!)

    Der eine Gesetzentwurf wird nicht helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, und der andere wird dazu beitragen, daß sie ausgeweitet wird.

    (Zuruf von der SPD: So ist es!)

    Beides ist das erklärte Gegenteil von dem, was eigentlich verfolgt werden sollte und was ein gemeinsames Anliegen — so weit würde ich gehen — der Mitglieder dieses Hauses sein müßte.
    Wenn denn der eine Gesetzentwurf — und deswegen will ich die paar Minuten, die mir bleiben, noch nutzen — wirklich eine politische Funktion hat, dann liegt diese auf einem anderen Feld: nicht um Arbeitslosigkeit abzubauen, sondern um in einer bestimmten politischen Gesamtsituation angesichts der bevorstehenden Tarifauseinandersetzung den Versuch zu machen — der scheitern wird —, die



    Egert
    Gewerkschaftsbewegung, an diesem Punkt zu spalten. Dies ist die einzige, politische Funktion dieses Unternehmens. Deswegen auch die relative Hektik, die j a nicht einmal zugelassen hat, daß Sie in Ihrer Fraktion die Widersprüche, die es zu diesem Gesetzentwurf j a noch immer gibt, bis zum letzten haben klären können.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Warum gucken Sie jetzt die SPD an?)

    Nun, ich muß ja nicht Ihre Sorgen zu meinen machen.
    Nur, ich will mal Ihren Gesetzentwurf in das einordnen, was denn sonst noch aus dem Hause Blüm kommt, weil es ein Stück Begründung dafür ist, daß es offensichtlich nicht darum geht, den Gewerkschaften eine Chance zu eröffnen, sondern darum, in die gewerkschaftsinterne Diskussion einzugreifen. Da wird das Arbeitsvertragsrecht zur Disposition gestellt. Da sollen Arbeitsverträge möglich sein, die außerhalb der errungenen, geltenden Gewerkschaftsschutzrechte stehen.

    (Jawohl! bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Das ist ein Punkt. Ja, das soll versucht werden. Da soll versucht werden, den Jugendarbeitsschutz, den Minister Blüm damals, als das Gesetz geschaffen worden ist, als einen Schritt in die richtige Richtung noch gefeiert hat, zu revidieren. Da soll der Frauenarbeitsschutz revidiert werden. Mit dem Entwurf aus dem Hause Blüm soll die Urlaubsregelung revidiert werden. Dies soll allerdings mit einem Bonbon versüßt werden. Da soll man bei jener Selbstbeteiligung künftig Urlaub für Kuren in Anspruch nehmen können; gleichzeitig soll die Urlaubsregelung verändert werden, in der Hoffnung, daß man den gewerkschaftlichen Widerstand an diesem Punkt überwinden kann. Dies sind alles kurzsichtige Manöver. Sie passen aber in die Bewertung hinein, die der Bundeskanzler zur Forderung der IG Metall, deren Mitglied der Bundesarbeitsminister noch immer ist, gegeben hat. Er hat sie als eine dumme und törichte Forderung klassifiziert.
    Wenn ich dies alles zusammennehme, frage ich mich, wie die gewerkschaftliche Bereitschaft wachsen soll, diesem Homunkulus, den Herr Blüm für die Vorruhestandsregelung geboren hat, nun wirklich näherzutreten. Dies ist allein mit der Funktion, die Gewerkschaften zu spalten, in die Welt gesetzt worden. Von ehrlicher Sorge kann hier keine Rede sein. Mein Großvater, der ein weiser Mann war, hat mir immer gesagt, wenn jemand die Sorge zur ehrlichen Sorge mache, wenn also die einfache Sorge nicht mehr ausreiche, mißtraue er dem.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe hier so viel von ehrlicher Sorge und von Genugtuung gehört, daß diese gespreizten Wortgebilde mich nur mißtrauischer machen. Ich glaube, daß Sie den Gewerkschaften, die draußen in der Tarifauseinandersetzung sind, die ein Stück Bewußtsein von dem haben, was Arbeitslosigkeit für
    die einzelnen wirklich bedeutet, kein X für ein U vormachen können, denn sie sehen genau, was hier verfolgt wird. Deswegen ist die Reaktion auf das, was dort geboren worden ist, so zögerlich. Ich glaube, es wird auch so bleiben.
    Es gibt allerdings ein taugliches Angebot, wenn man die alternative Möglichkeit oder die, wie ich sagen würde, additive Möglichkeit für eine Vorruhestandsregelung nutzen will. Ich meine den SPD-Entwurf. Diesem kann man sich auch in den Ausschußberatungen noch annähern. Wer strukturelle Arbeitslosigkeit im Land wirklich beherrschen will, kommt aber um die Frage der Neuverteilung von Arbeit, die über die Wochenarbeitszeitverkürzung führt, nicht herum. Man darf sich nichts vormachen und nicht glauben, die Probleme würden mit einer so bescheidenen, kleinen Geburt beherrschbar. Ich sehe das nicht. Deswegen, Herr Minister Blüm, setzen wir ein Fragezeichen hinter Ihre Absicht.

    (Beifall bei der SPD)

    Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu Ihrem heutigen Beitrag. Ich will wirklich nicht tiefergehen, zumal darin nicht viel war, wo man hätte tiefergehen können. Herr Minister, man wird müde, Ihnen zuzuhören, weil es die gleichen Wortwechseleien sind, die sich ständig wiederholen. Ich habe die Sorge, daß Ihr Ghostwriter selbst einschlafen wird, wenn er künftig Ihre Reden vorbereiten muß.
    Ich bedanke mich für Ihre Geduld und hoffe auf eine erfreuliche Diskussion im Ausschuß.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/880 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa (KVAE) in Stockholm vom 17. bis 19. Januar 1984
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. — Es gibt auch hier keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.




  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich danke für die Gelegenheit, dem Deutschen Bundestag einen ersten Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa und über die diese Eröffnung begleitenden Gespräche geben zu können. Die nüchterne Einschätzung der mit der Stockholmer Konferenz gebotenen Möglichkeiten und die Warnung davor, diese Zusammenkunft mit überzogenen Erwartungen zu belasten, geben der Bundesregierung die Möglichkeit der unbefangenen Bewertung. Wir werden uns auch in Zukunft von Realismus und nicht von Wunschdenken leiten lassen. Die Bundesregierung hat sich seit langem für das Zustandekommen dieser Konferenz, über deren Einsetzung in Madrid drei Jahre lang verhandelt worden war, eingesetzt. Unsere beharrlichen Bemühungen haben zum Erfolg geführt. Die Bundesregierung hat dabei in der Überzeugung gehandelt, daß wir die internationale Lage nicht außer Kontrolle geraten lassen dürfen.
    Das Jahr 1983 stand im Zeichen schwerer Belastungen des West-Ost-Verhältnisses. In kardinalen Fragen der Sicherheitspolitik konnte kein Einvernehmen gefunden werden. Der Abschuß der koreanischen Verkehrsmaschine schuf zusätzliche Belastungen. Der West-Ost-Dialog drohte in wichtigen Bereichen abzureißen.
    Die Anwesenheit der Außenminister in Stockholm zeigte, daß alle Teilnehmerstaaten die politische Bedeutung der Konferenz hoch einschätzen und daß sie auch nach Möglichkeiten für die Fortsetzung des West-Ost-Dialoges suchen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Ein großes Verdienst von Ihnen!)

    Dem Verlangen der Völker nach einem neuen Anfang in den West-Ost-Beziehungen kann sich niemand entziehen. Es geht darum, das gemeinsam Erreichte auszubauen und neue Wege zur Überwindung bestehender Hindernisse zu suchen.
    In Stockholm konnte ein wichtiges Forum für den Sicherheitsdialog zwischen West und Ost eröffnet werden. Der KSZE-Prozeß und die soliden Kontakte, die wir auf der Grundlage der Verträge mit unseren östlichen Nachbarn beständig unterhalten haben, erwiesen sich in der Vorbereitung dieser Konferenz als ein haltbares Netz, das den Stürmen der Zeit widerstand. Die Bundesregierung war sich dabei stets bewußt, daß unser Dialog mit dem Osten den Dialog der Großmächte untereinander nicht ersetzen kann.
    Wir haben frühzeitig gefordert, daß die Stockholmer Konferenz auf politischer Ebene eröffnet werden sollte, um sie über die engeren Themen der Konferenz hinaus für die Verbesserung der WestOst-Beziehungen zu nutzen. Dieser Gedanke hat sich im Westen und bei den Neutralen und Ungebundenen durchgesetzt; er ist schließlich auch im Osten akzeptiert worden. Die Bundesregierung hat dabei in dem Bewußtsein gehandelt, daß unser Land im Herzen Europas, an der Nahtstelle zwischen West und Ost von den Gefahren der Instabilität und der Konfrontation besonders betroffen ist.
    Wir haben besondere Verantwortung, durch berechenbare und konstruktive Politik zur Stabilität und zur Entspannung beizutragen. Die Bundesregierung stützt sich dabei auf ein klares und geschlossenes Konzept, das alle Bereiche der WestOst-Beziehungen, die Sicherheit, die politischen Beziehungen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den kulturellen Austausch, also alle in der Schlußakte von Helsinki im zweiten und dritten Korb genannten Gebiete, umfaßt.
    Auch im Jahre 1984 wird es auf zwei Dinge besonders ankommen: Erstens. Es geht darum, daß wir die Einigkeit im westlichen Bündnis bewahren.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Zweitens. Wir müssen die langfristigen politischen Absichten des Westens gegenüber der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Pakts beständig, eindeutig klarstellen. Wir wollen, daß man in Moskau bei der Überprüfung der dortigen Position eine klare Vorstellung von der westlichen Haltung in den Fragen der Zusammenarbeit und der Sicherheit erhält.
    In der politischen Erklärung von Brüssel vom 9. Dezember 1983, deren Inhalt die Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet hat, haben die Bündnispartner der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts das Angebot gemacht, mit uns zusammenzuarbeiten, um ein langfristiges, konstruktives und realistisches Verhältnis herzustellen, das auf Gleichgewicht, Mäßigung und Gegenseitigkeit beruht. Wir dürfen dabei niemals vergessen: Daß wir dieses Angebot machen konnten, setzte voraus, daß im Laufe des Jahres 1983 die Einheit und die Geschlossenheit des Bündnisses — auch bei der Durchführung der für unsere Sicherheit notwendigen Entscheidungen einschließlich der Verwirklichung beider Teile des NATO-Doppelbeschlusses bestätigt worden sind.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Ein zerstrittenes, ein in der Durchführung der als notwendig erkannten Verpflichtungen nicht verläßliches Bündnis hätte auch seine Fähigkeit verloren, eine konstruktive Politik der Verständigung mit dem Osten zu gestalten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Rede Präsident Reagans vom 16. Januar 1984 bestätigt die Grundlinien der Brüsseler Erklärung in eindrucksvoller Weise. Sie bestätigt die Auffassung des Bündnisses von der künftigen Gestaltung des West-Ost-Verhältnisses auch für das bilaterale Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion. Besonders begrüßen wir, daß der amerikanische Präsident an die gemeinsamen Interessen und die gemeinsame Verantwortung der USA und der Sowjetunion erinnert. Die Rede des amerikanischen Außenministers in Stockholm führte diese Linie fort, indem sie sich nachdrücklich und ausdrücklich auf die Brüsseler Erklärung beruft.
    Das informelle Treffen der Außenminister des Bündnisses am Vorabend der Konferenz hat der Fortentwicklung der westlichen Konferenzlinie erfolgreich gedient. Es hat die Einheit des westlichen



    Bundesminister Genscher
    Bündnisses in den Fragen der Konferenz und ihres politischen Umfeldes unterstrichen.
    Auch die Zusammenkunft der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, die wir in Stockholm hatten, verspricht eine positive Wirkung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit während der Konferenz.
    Die Bundesregierung ist besonders befriedigt über die Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Gespräche auf hoher politischer Ebene. In der fünfstündigen Begegnung zwischen den Außenministern Shultz und Gromyko ist ein für das WestOst-Verhältnis wichtiger Faden wiederaufgenommen worden. Wir werden auch in Zukunft die Fortführung dieses politischen Dialogs unterstützen.
    In meiner Zusammenkunft mit Außenminister Gromyko habe ich unsere Sorge über die uns unverändert bedrohende sowjetische Mittelstreckenrüstung wiederholt und unsere Auffassung bekräftigt, daß es für uns keinen anderen Weg gibt, streitige Fragen zu lösen, als den Weg der Verhandlungen. Gegenstand des Gespräches mit dem sowjetischen Außenminister waren alle West-Ost-Fragen und auch das bilaterale Verhältnis. Ich habe unseren Willen zu langfristiger guter Zusammenarbeit ebenso unterstrichen wie die Bedeutung der Brüsseler Erklärung des Atlantischen Bündnisses.
    Es ist beabsichtigt, während der Konferenz Konsultationen zwischen den Delegationen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zu führen. Die Bemühungen, offene bilaterale Fragen zu lösen, sollen fortgeführt werden. Das gilt auch für die Ausreisewünsche Deutschstämmiger aus der Sowjetunion.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Das Gespräch, das in einer ebenso sachlichen wie konstruktiven Atmosphäre verlief, hat die Absicht beider Staaten bekräftigt, die bilateralen Beziehungen auf der Grundlage des Moskauer Vertrages auszubauen. Gegensätze in wichtigen Fragen der Sicherheitspolitik, insbesondere in bezug auf die Mittelstreckenraketen, konnten nicht überwunden werden.
    Die Gespräche mit den Außenministern des Warschauer Pakts haben bestätigt, daß auch sie ein Interesse am Fortgang des Dialogs, der Entspannung und Zusammenarbeit haben und daß unsere Bemühungen um diese Politik wie auch insbesondere um die Stockholmer Konferenz und ihre Eröffnung auf der Ebene der Außenminister von allen gewürdigt werden.
    In dem Gespräch mit dem Außenminister der DDR ist erneut zum Ausdruck gekommen, daß beide deutschen Staaten den Willen haben, durch die Entwicklung ihrer Beziehungen die internationale Lage auch weiterhin nicht zu belasten, sondern im Gegenteil zur Stabilisierung des politischen Umfeldes in Europa beizutragen. Wir verstehen unser Bemühen um Verbesserung des Verhältnisses zur DDR auch in Zukunft als europäische Friedenspolitik.
    Nach den Erfahrungen der ersten Woche in Stockholm und nach den Begegnungen der Außenminister kann festgestellt werden:
    Erstens. Der Ost-West-Dialog geht weiter. Ob er die von uns gewünschte Verbesserung des WestOst-Verhältnisses bewirken wird, muß sich noch erweisen.
    Zweitens. Der KSZE-Prozeß wird fortgeführt.
    Drittens. Die Stockholmer Konferenz bietet bei gutem Willen aller Beteiligten eine realistische Chance.
    Viertens. Es bleibt dabei: Die MBFR-Verhandlungen, die Verhandlungen über Truppenreduzierungen in Wien, sind nicht unterbrochen, und sie werden nicht unterbrochen. Die Erwartung, daß sie in absehbarer Zeit fortgeführt werden, ist begründet. Wir, die Bundesrepublik und unsere westlichen Partner, werden diese MBFR-Verhandlungen zu gegebener Zeit durch weiterführende Vorschläge fördern.
    Fünftens. In der Genfer Abrüstungskonferenz wird der angekündigte Vertragsentwurf der USA für eine weltweite Ächtung der chemischen Waffen die Chancen substantieller Verhandlungen verbessern. Das setzt voraus, daß die Sowjetunion zu befriedigenden Regelungen für die Verifikation bereit ist. Ich wiederhole hier, was ich auch in Stockholm gesagt habe: Das Problem bei den Verhandlungen über die Ächtung chemischer Waffen ist nicht die Frage, ob sie in Europa oder in der Welt geächtet werden sollen, sondern ob die Sowjetunion bereit ist, befriedigenden Regeln der Nachprüfbarkeit zuzustimmen. Tut sie das, dann muß diese Geißel von allen Völkern der Welt genommen werden und nicht nur von den europäischen Völkern.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben nicht erwartet und konnten nicht erwarten, daß die Gründe, die Anlaß zur Sorge geben, in diesen Tagen ausgeräumt werden können. Die Meinungsbildung der sowjetischen Führung dauert noch an. Es wird beständiger weiterer Anstrengung bedürfen, um im West-Ost-Verhältnis voranzukommen. Wir sehen die Lage dabei realistisch. Wir sehen sie mit ihren Problemen, aber auch mit ihren Möglichkeiten, vor allem mit unseren Möglichkeiten, die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Sorglosigkeit wäre ebenso falsch am Platze wie Schwarzmalerei oder rechthaberische Schuldzuweisung. Die Bundesregierung ist entschlossen, auch in Zukunft nüchtern und verantwortlich für den Frieden zu handeln. Wir wollen dabei auch die berechtigten Interessen der anderen Seite erkennen und berücksichtigen. Wir erwarten das auch umgekehrt; denn in den Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit werden wir am Ende nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsam verlieren.
    Wir haben im Herbst des vergangenen Jahres hier in diesem Hohen Haus offen und mit Leidenschaft über die Frage der Sicherheitspolitik diskutiert. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Konferenz von Stockholm und bei der Beurteilung



    Bundesminister Genscher
    ihrer Bedeutung für das West-Ost-Verhältnis waren wir weitgehend einig. Dabei müssen wir allerdings nüchtern sehen, was die Konferenz von Stockholm erreichen kann und was nicht. Diese Konferenz in Stockholm kann keine Lösung der Raketenfrage bringen, weder für die strategischen noch für die Mittelstreckenraketen. Die Lösung dieses Problems muß an anderer Stelle gesucht werden. Ein positiver Verlauf der Stockholmer Konferenz kann aber die Verhandlungsbemühungen an anderer Stelle fördern. Die Haltung der Sowjetunion zur Zukunft der Verhandlungen über die strategischen Waffen ist unverändert offen. Bei den Mittelstreckenraketen hat es keine Anhaltspunkte für eine positivere Haltung der Sowjetunion gegeben. Unsere Bemühungen, durch unsere Gesamtpolitik die Ansätze dafür zu verbessern, werden fortgesetzt. Diese Bemühungen dürfen aber nicht zu Lasten unserer legitimen Sicherheitsinteressen und sie dürfen nicht zu Lasten der Einheit unseres Bündnisses gehen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Fixierung der öffentlichen Diskussion auf die Gefährlichkeit nuklearer Waffen, auf die Schrecken eines nuklearen Krieges, darf die Tatsache nicht verdrängen, daß die Zerstörungskraft moderner konventioneller Waffen sich dem Vernichtungspotential der Atomwaffen annähert. Auch ein Krieg mit konventionellen Waffen wäre tausendmal schrecklicher als der Zweite Weltkrieg. Europa darf deshalb auch nicht in eine Entwicklung hineintreiben, die den Ausbruch eines konventionellen Konflikts wahrscheinlicher macht. In der längeren Perspektive wird eine rüstungskontrollpolitische Stabilisierung des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa eine Hauptaufgabe der Stockholmer Konferenz sein.
    Wir wollen Mißtrauen abbauen und Vertrauen in Europa wachsen lassen. Das verlangt konkrete Maßnahmen, Maßnahmen, die entsprechend dem vereinbarten Konferenzmandat militärisch bedeutsam, politisch verbindlich, angemessen verifizierbar sind, die in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural angewandt werden. Wer die Offenheit in den Fragen der Sicherheit verweigert, wer sich der Verläßlichkeit der Nachprüfung von Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung entzieht, der setzt sich dem Verdacht aus, er wolle etwas verheimlichen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Ohne mehr Transparenz lassen sich Mißtrauen und Bedrohungsgefühle nicht beseitigen. Wir wollen die Gefahr von Überraschungsangriffen und die Sorge vor Einschüchterungsversuchen mindern.
    Das Mandat für die Konferenz in Stockholm ist präzise. Unsere Vorschläge, die westlichen Vorschläge dafür umfassen Maßnahmen der Information, der Beobachtung und Verifikation sowie Schritte, die die militärische Stabilität in Europa festigen. Die Teilnehmerstaaten der Konferenz sollen regelmäßig Informationen über ihre militärischen Verbände austauschen. Das würde nicht nur stabilisierend wirken, sondern auch die Grundlage für weitere Vereinbarungen bilden können. Jeder soll mit jedem eine jährliche Vorausschau über wichtige militärische Aktivitäten austauschen. Jeder soll beurteilen können, ob eine militärische Übung tatsächlich lange vorausgeplant war oder ob sie in einer bestimmten Situation zur Drohung oder gar zur politischen Erpressung genutzt werden soll.
    In Weiterentwicklung der in Helsinki beschlossenen Maßnahmen sollen alle militärischen Aktivitäten in Europa von einer bestimmten Struktur oder einem bestimmten Umfang genau und im voraus bekanntgemacht werden. Zu solchen Aktivitäten sollen Beobachter entsandt werden können, die sich selbst vor Ort informieren. Rechte und Pflichten dieser Beobachter müssen es ihnen ermöglichen, ihre Aufgabe auch effektiv zu erfüllen.
    Alle Teilnehmerstaaten müssen die Gewißheit haben, daß getroffene Vereinbarungen von allen uneingeschränkt eingehalten werden. Es müssen Kommunikationswege geschaffen werden, damit Mißverständnisse, die trotz dieser Vereinbarungen entstehen, aufgeklärt werden können.
    Die 35 Staaten haben sich im Madrider Schlußdokument das Ziel gesetzt — ich zitiere wörtlich —,
    der Pflicht der Staaten, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren gegenseitigen Beziehungen zu enthalten, Wirkung und Ausdruck zu verleihen.
    Sie haben sich vorgenommen, zu diesem Zweck
    neue, wirksame und konkrete Schritte zu unternehmen, die darauf gerichtet sind, Fortschritte bei der Festigung des Vertrauens und der Sicherheit und bei der Verwirklichung der Abrüstung zu erzielen ...
    Damit sind Ziel und Weg klar beschrieben.
    Der in der Charta der Vereinten Nationen verankerte und in der Schlußakte von Helsinki noch einmal feierlich bekräftigte Gewaltverzicht muß durch konkrete, militärisch bedeutsame vertrauensbildende Maßnahmen gestärkt werden. Es kann nicht darum gehen, Taten durch die Wiederholung von Worten zu ersetzen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Es geht darum, die Worte glaubwürdiger zu machen und das Verhalten in Übereinstimmung mit den Worten zu bringen. Das muß überall in der Welt gelten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir begrüßen, daß Präsident Reagan in seiner Rede die Verminderung und schließliche Beseitigung der Androhung und Anwendung von Gewalt bei der Lösung internationaler Streitfragen als erstrangige Aufgabe bei der Verbesserung der internationalen Lage bezeichnet hat. Ich rufe im Zusammenhang mit dem Verzicht auf Gewalt und der Diskussion darüber die Erklärung in Erinnerung, die Bundeskanzler Helmut Kohl im Juli 1983 in Moskau abgab. Er sagte dort:
    Eine erneute, verbindliche Bekräftigung des
    Gewaltverbotes kann zur Verbesserung der in-



    Bundesminister Genscher
    ternationalen Lage beitragen, wenn dadurch Gewaltandrohung konkret verhindert wird, Gewaltanwendung dort, wo sie andauert, beendet wird.
    Das meint auch, daß bestehende Gewaltanwendung in Afghanistan ihr Ende finden muß.
    Die Glaubwürdigkeit des Gewaltverzichts setzt auch den Verzicht auf die Inanspruchnahme von Waffenmonopolen und von Überlegenheit sowie die Bereitschaft zu Verhandlungen über den Abbau bestehender Disparitäten voraus.
    Die Staats- und Regierungschefs des westlichen Bündnisses haben in der „Bonner Erklärung" vom 10. Juni 1982 bekräftigt:
    Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff.
    Damit haben die Bündnispartner feierlich bekräftigt, keine ihrer Waffen — nukleare wie konventionelle — als erste, d. h. ohne angegriffen zu sein, einzusetzen.
    Meine Damen und Herren, es würde der Vertrauensbildung dienen, wenn alle KSZE-Teilnehmerstaaten zu einem so umfassenden Verzicht bereit wären.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das westliche Angebot, das wir in Stockholm entsprechend dem Konferenzmandat unterbreitet haben, ist Teil eines umfassenden Konzepts für die Entwicklung der West-Ost-Beziehungen. Die Chance von Stockholm aufzuzeigen ist kein Zweckoptimismus, sondern realistische Politik aktiver Friedenssicherung. Nicht das Schüren von Angst ist das Gebot der Stunde. Was wir brauchen, ist eine Politik, die mit Vernunft und Augenmaß einer Ordnung des Friedens in Europa den Weg ebnet, die auf Vertrauen und Gleichgewicht, auf Dialog, Zusammenarbeit und Mäßigung in Wort und Tat gegründet ist.
    Heute, zu Beginn des Jahres 1984, geht es darum, die Möglichkeiten für eine neue Verständigung zwischen West und Ost auf das beste zu nutzen und neue Wege zu finden, um schrittweise eine stabilere Ordnung des Friedens in Europa zu erreichen. Wir werden in diesem Sinne auch in Stockholm handeln.
    Je größer in unserem Lande die Übereinstimmung in der Politik der europäischen Einigung ist, je größer die Übereinstimmung darüber ist, daß wir ein verläßlicher Bündnispartner sein müssen, je mehr wir in der Sicherheitspolitik übereinstimmen, desto größer ist unser Gewicht im Westen und desto größer wird auch das Interesse des Ostens sein, mit uns auf der Grundlage der Gleichberechtigung und unter Berücksichtigung der Grundsätze der Schluß-akte von Helsinki langfristig zusammenzuarbeiten.
    Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft um eine solche Übereinstimmung hier in der Bundesrepublik Deutschland, hier im Deutschen Bundestag bemühen.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)