Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Strafverfahren gegen Bundesminister Graf Lambsdorff hat in der bisherigen Haushaltsdebatte eine erhebliche Rolle gespielt. Das ist nicht verwunderlich. Immerhin ist es das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, daß ein Bundesminister unter der Anklage der Bestechlichkeit steht.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben versucht, diese Diskussion auf ein Nebengleis zu lenken. Sie haben Angriffe gegen die Strafverfolgungsbehörden gerichtet. Darauf werden Ihnen die dafür Zuständigen die gebührenden Antworten geben.
Sie, Herr Bundeskanzler, und andere Redner der Koalition, insbesondere Herr Bundesminister Genscher, haben sich sodann des langen und breiten dazu geäußert, ob ihnen die Anklage begründet erscheint, ob Graf Lambsdorff schuldig oder unschuldig ist. Herr Bundeskanzler, das ist nicht Ihres Amtes. Das ist allein Sache der Gerichte.
Sie mischen sich genauso in die Kompetenz der Gerichte ein wie die, die Sie deshalb so heftig kritisieren und die für sich immerhin in Anspruch nehmen können, daß sie die Öffentlichkeit auf Verstrikkungen aufmerksam gemacht haben, aus denen
sich die Parteien aus eigener Kraft über lange Zeit nicht haben lösen können. Was Sie tun, Herr Bundeskanzler, entbehrt jeder Rechtfertigung. Es ist schlimmer als das, was Sie kritisieren,
weil Sie sich in amtlicher Eigenschaft, weil Sie sich unter Mißbrauch Ihrer Regierungsämter an die Stelle des Gerichts setzen wollen. Das ist mit der Gewaltenteilung unvereinbar.
Wir tun das nicht.
Wir respektieren die Zuständigkeit der dritten Gewalt.
Wir sagen kein Wort dazu, ob Graf Lambsdorff schuldig oder unschuldig ist. Ich wiederhole: Wir halten es für durchaus möglich, daß die Anklage nicht zugelassen wird oder das Verfahren mit Freispruch endet. Ja, ich füge hinzu:
Wir hoffen es sogar, schon um des Ansehens unseres Staatswesens willen.
Wir sagen etwas ganz anderes. Wir sagen: Wer unter der Anklage der Bestechlichkeit steht, würde als Beamter sofort des Dienstes enthoben.
Das ist eine Selbstverständlichkeit für jeden, der im öffentlichen Dienst steht. Für einen Bundesminister müßten eher strengere Maßstäbe, zumindest aber dieselben Maßstäbe gelten.
3262 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1983
Dr. Vogel
Er kann nicht länger im Amt bleiben, und zwar ganz gleich, wie die Anklage im einzelnen begründet ist. Ein angeklagter Bundesminister kann nicht im Amt bleiben, weil das mit unserer politischen Ordnung unvereinbar ist. Er kann nicht im Amt bleiben, weil dadurch das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beschädigt wird. Er kann nicht im Amt bleiben, weil er seine Kraft nicht mehr in dem notwendigen Umfang seinem Ressort widmen kann. Er kann nicht im Amt bleiben, weil er seinen Untergebenen und Gesprächspartnern gegenüber befangen erscheint. Er kann nicht im Amt bleiben, weil der Respekt vor der Integrität unseres parlamentarischen Rechtsstaats seinen Rücktritt verlangt.
Von den preußischen Tugenden, die einige von Ihnen beständig im Munde führen, völlig zu schweigen.
Ich bedauere, Graf Lambsdorff, daß Sie den befreienden Entschluß nicht selbst gefaßt haben. Wir hoffen jetzt, daß Sie Ihren Rücktritt erklären, wenn Sie in die Anklageschrift Einsicht genommen haben. Sie selbst haben dies in Ihren Erklärungen nicht ausgeschlossen. Unser Antrag nimmt darauf Rücksicht. Er fordert Ihre Entlassung deshalb für den Fall, daß Sie nach Einsichtnahme in die Anklageschrift nicht selbst zurücktreten.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir respektieren mit dieser Fassung unseres Antrags die Position, die nicht nur der Betroffene, sondern auch der Bundeskanzler vorgestern in diesem Hause vertreten hat. Ich sage: Wir respektieren sie; wir teilen sie nicht, wir halten sie sogar für bedenklich und für den Betroffenen für abträglich. Gibt es denn, Herr Bundeskanzler, eine stärkere Vorverurteilung, als wenn Sie zunächst sagen, ob der Minister im Amt bleiben könne, hänge vom Inhalt der Anklageschrift ab, und wenn Sie ihn dann nach Würdigung der Anklageschrift, also der konkreten Tatvorwürfe und der Beweismittel, entlassen? Eine stärkere Vorverurteilung ist doch gar nicht möglich.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich mit dem, was Sie von dieser Stelle aus erklärt haben, in eine schlimme Sackgasse manövriert. Sie haben Schaden gemehrt, wo es Ihre Pflicht gewesen wäre, durch rechtzeitiges Handeln Schaden abzuwenden.
Wir begeben uns nicht auf dieses Glatteis. Für uns ist im jetzigen Zeitpunkt allein die Tatsache der Anklage maßgebend, nicht ihr Inhalt.
Unser Antrag achtet die durch die Gewaltenteilung gezogenen Grenzen. Unser Antrag bringt zum Ausdruck, daß es aus politischen Gründen nicht angeht, gleichzeitig Bundesminister zu sein und unter schwerer Anklage zu stehen. Die Zustimmung zu diesem Antrag, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein Gebot parlamentarischer und staatspolitischer Selbstachtung.
Jeder einzelne von Ihnen, meine Damen und Herren, ist gefordert, sich zu entscheiden.
Sie sind gefordert, sich zu entscheiden zwischen der Loyalität gegenüber einem — aus welchen Gründen auch immer — in Bedrängnis geratenen Freund und der Loyalität gegenüber einem passiv gebliebenen Bundeskanzler einerseits und der Loyalität gegenüber den Staatsnotwendigkeiten und dem Gemeinwohl andererseits.
Sie sollten sich für das Gemeinwohl entscheiden.
Wenn Ihnen trotzdem noch Zweifel bleiben, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dann fragen Sie sich, wie wohl ein Thomas Dehler, ein Theodor Heuss, ein Hermann Ehlers an Ihrer Stelle heute entscheiden würde.
Bedenken Sie bitte: Nicht die Fraktionen, jeder einzelne von Ihnen ist gefordert in seiner ganz persönlichen Verantwortung.
Ich danke Ihnen.