Herr Jaunich, das wollen wir gerade nicht. Jetzt komme ich zu einigen Behauptungen von Ihnen, was diesen Etat anbelangt. Ich nehme einiges vorweg, was ich hinterher sagen wollte.
Im Jahre 1981 ff. ist in der Sozialhilfe etwas gemacht worden, auch von meiner eigenen Partei, der Union, das nach meiner Auffassung mit den Prinzipien der Sozialhilfe nur schwer zu vereinbaren war, nämlich die Deckelung der Sozialhilferegelsätze. Die Behauptung, die Sie heute aufgestellt haben, daß im Bundessozialhilfegesetz für den Haushalt 1984 Behinderte, sozial Schwache zusätzlich beeinträchtigt worden seien, ist einfach nicht wahr.
Es gibt eine einzige Bestimmung, die die Sozialhilfeempfänger unmittelbar negativ berühren kann: Bei der Berechnung der Einkommensgrenzen für Hilfen in besonderen Lebenslagen werden in der Zukunft die Kosten einer angemessenen Unterkunft und nicht mehr allgemein die Kosten jeder Unterkunft berechnet. Dies ist die einzige Entscheidung, die sich für einen Sozialhilfeempfänger negativ auswirken kann.
Das eigentliche, was in der Sozialhilfe geschehen ist — in heftigen Auseinandersetzungen, auch in der Regierung waren zunächst nicht alle damit einverstanden —, ist die Tatsache, daß ab 1. Juli 1984, also ab Mitte nächsten Jahres, die Deckelung der Sozialhilfesätze aufgehoben wird und in Zukunft die Anhebung der Sozialhilfesätze wieder nach dem Bedarfsdeckungsprinzip, also nach der Steigerung der Lebenshaltungskosten, vorgenommen werden kann. Ich möchte Sie dringend bitten, daß Sie, wenn Sie hier über die Sozialhilfe sprechen, das wiedergeben, was in diesem Haushalt tatsächlich passiert
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3241
Bundesminister Dr. Geißler
ist, und nicht das, was Sie aus Gründen der Propaganda der Bevölkerung weismachen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun haben Sie sich auf den Nestor der deutschen Sozialpolitik, auf Professor Nell-Breuning, berufen. Professor Nell-Breuning hat bei dem Hearing zum BSHG, zu den Haushaltsbegleitgesetzen kritische Worte gefunden. Ich finde es ausgezeichnet, daß sich auf Grund dieses Hearings die Koalitionsparteien, der Minister und die anderen Beteiligten noch einmal Fomulierungen des BSHG überlegt haben, auch was die Frage der Wahlfreiheit anlangt. Wir haben auf Grund dieses Hearings Änderungen vorgenommen. Ja, was für einen Sinn soll denn ein Hearing sonst haben?
Wir halten ja die Hearings nicht ab, damit wir uns etwas anhören und dann gerade das machen, was wir vorher beschlossen haben. Wir haben vielmehr das, was im Hearing gesagt worden ist, ernst genommen und haben einige Bestimmungen, gerade was die Wahlfreiheit anlangt, geändert.
Aber offenbar ist diese Zeit spurlos an Ihnen vorübergegangen, denn Sie haben lauter Zitate von Herrn Nell-Breuning aus dem Hearing vorgelesen.
Ich habe inzwischen von Herrn Professor NellBreuning, den ich vielleicht länger kenne als der eine oder der aridere, der ihn jetzt zitiert, einen Brief bekommen. Er hat geschrieben:
Sehr verehrter Herr Bundesminister Geißler! In Ihrem vorbezeichneten Schreiben gaben Sie mir freundlicherweise eine ermutigende Zusicherung.
Ich hatte ihm nämlich mitgeteilt, was wir in dem Gesetz geändert haben. Dazu schreibt er:
Zu meiner Freude erfahre ich soeben, daß auch die neue Gefährdung der freien Wohlfahrtspflege durch Bedarfssteuerungs- und Bedarfslenkungsmaßnahmen als abgewandt und die Wahlfreiheit der Hilfsbedürftigen als weiter gesichert angesehen werden dürfen. Das begrüße ich lebhaft und danke Ihnen für Ihr Bemühen darum.
Ihr sehr ergebener Nell-Breuning
Ich könnte Ihnen auch noch andere Zitate bringen, z. B. von der deutschen Caritas, die das alles ausdrücklich begrüßt hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind jetzt etwas über ein Jahr an der Regierung, und deswegen möchte ich in aller Kürze — ich will nur die Fakten nennen — einmal darstellen, was eigentlich in diesem wichtigen und großen Bereich
„Jugend, Familie und Gesundheit" in diesem Jahr gemacht worden ist, damit dies auch im Protokoll des Deutschen Bundestages enthalten ist.
Erster Punkt: Wir haben innerhalb weniger Wochen die seit Jahren überfällige Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsrechts und des Zivildienstes verabschiedet. Die Prüfung vor dem Prüfungsausschuß wurde für ungediente Wehrpflichtige beseitigt. Der Antragsteller muß künftig die Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung durch seine Bereitschaft, einen längeren Zivildienst zu leisten, unter Beweis stellen. Das ist eine Entscheidung, zu der Sie lange Jahre hindurch nicht gekommen sind.
Zweitens. Wir haben — das sage ich, weil Sie es angesprochen haben, meine Damen und Herren — durch die Mithilfe des Ministeriums eine längst überfällige Reform, nämlich die des Jugendschutzes, und einen Entwurf mit entsprechenden strafrechtlichen Vorschriften erarbeitet und dem Parlament zugeleitet, einen Entwurf, der exzessive Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, Bildplatten und vergleichbaren Tonbildträgern eingeschränkt bzw. deren Herstellung, Import und Verbreitung verbietet.
Ich halte das für eines der wichtigsten Gesetze,
die wir in dieser Legislaturperiode verabschieden, weil ich der Auffassung bin, daß wir es nicht zulassen dürfen, daß auf dem Rücken unserer Jugend Geschäftemacher ihr leichtes Geld verdienen können. Dies ist eine wichtige gesetzgeberische Entscheidung!
Wir haben ferner zwei Gesetze zur Ausbildung zum Krankenpfleger und zur Hebamme verabschiedet. Wir haben die Approbationsordnung, eine neue Ausbildungsordnung für Ärzte, mit dem Ziel auf den Weg gebracht, die mündliche Prüfung zu verbessern sowie dafür zu sorgen, daß die angehenden Ärzte auch eine praktische Ausbildung bekommen, d. h. nach dem sechsjährigen Medizinstudium noch zwei Jahre praktische Ausbildung in den Krankenhäusern und in den Praxen niedergelassener Ärzte erfahren, damit sie dann als voll approbierte Ärzte tatsächlich über die praktische Ausbildung verfügen, die sie brauchen, um tätig sein zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einen weiteren Punkt erwähne ich jetzt, glaube ich, zum vierten Male von diesem Pult aus. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, was Sie hier über das Kindergeld erzählen,
schlägt einfach dem Faß den Boden aus. Ich wiederhole es noch einmal, weil es der Wahrheit entspricht: Wir haben nicht das gemacht, was Sie in Ihrer Regierungsverantwortung getan haben. Wir
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Bundesminister Dr. Geißler
haben nicht das Kindergeld für alle gekürzt, unabhängig davon, welches Einkommen sie haben, gekürzt für den Generaldirektor genauso wie für den Hilfsarbeiter und die alleinstehende Mutter. Dies haben wir eben aus voller Überzeugung nicht getan, weil ich einer alleinstehenden Mutter nicht noch das Kindergeld kürzen kann; die muß die Mark in der Hand umdrehen, wenn sie sie ausgeben will. Aber wir waren der Auffassung, daß jemandem, der zwei Kinder hat und mehr als 62 000 DM brutto im Jahr verdient, zugemutet werden kann, daß er auf 30 DM Kindergeld verzichtet; das war unsere Auffassung. Dies ist das einzige, was beim Kindergeld geschehen ist. Das Kindergeld ist nicht für die große Masse der Kindergeldempfänger, sondern nur für die Bezieher hoher Einkommen gekürzt worden — ein Vorschlag, den Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Sozialdemokratischen Partei j a selber nie durchsetzen konnten.
Wir haben — ich darf das jetzt im Zusammenhang stichwortartig kurz darstellen — die ersten Weichen für eine zukunftweisende Familienpolitik gestellt. Niemand hat behauptet, daß wir die Familienpolitik in diesem Haushaltsjahr 1984 so werden realisieren können, wie wir das in der Regierungserklärung angekündigt haben. Niemand von uns hat das behauptet! Unser familienpolitisches Programm ist ein Programm für die gesamte Legislaturperiode. Es hat vier Elemente:
Erstens. Wir wollen erreichen, daß Eltern, die Kinder haben, in der Zukunft weniger Steuern bezahlen als Leute, die keine Kinder haben.
Dies steht in der Koalitionsvereinbarung, und dies muß auch in dieser Legislaturperiode realisiert werden. Wir wollen das in der Kombination mit dem Kindergeld; das ist sozusagen die erste Stufe.
Zweitens. Wir werden — ebenfalls bereits eine Entscheidung, die in diesem Jahr gefällt worden ist — mit diesem Zweiklassenrecht der Sozialdemokraten aufhören: Die Sozialdemokraten haben das Mutterschaftsgeld nur den Frauen gegeben, die sich im Produktionsprozeß befinden. Ich stelle die Frage: Warum eigentlich soll eine Winzerin, eine Bäuerin oder die Arbeiterin, die vor einem Jahr ein Kind bekommen hat, beim Kind geblieben ist und jetzt wieder ein Kind bekommt, das Mutterschaftsgeld nicht bekommen?
Wir sind der Auffassung, daß wir dieses Zweiklassenrecht für Frauen, das die Sozialdemokraten geschaffen haben, abschaffen sollten. Deswegen haben wir beschlossen, daß die Zahlung des Mutterschaftsgeldes in dieser Legislaturperiode auf alle Frauen ausgedehnt wird. Wenn die finanzielle Situation es zuläßt, werden wir auch entweder den Kinderzuschlag oder das Erziehungsgeld einführen; das ist die Aussage der Regierungserklärung.
Drittens. Wir wollen in der Sozialversicherung die Wahlfreiheit verstärken. Das bedeutet, daß wir die Arbeit der Frauen in der Familie auch in der
Sozialversicherung anerkennen. Das bedeutet, daß die Frauen dann, wenn sie selber es wollen, wenn sie zur Aufgabe in der Familie und zur Kindererziehung freiwillig ja sagen, von der bisher vorhandenen Diskriminierung in der Sozialversicherung z. B. befreit werden; das ist unsere Konzeption.
Deswegen treten wir für die Anerkennung von Erziehungsjahren ein; wir haben jetzt schon die Weichen in diese Richtung gestellt. Diese Regierung hat beschlossen, und der Bundestag wird es morgen — auch heute abend —, so hoffe ich, endgültig verabschieden.
Wir haben die Wartezeit beim Altersruhegeld von 15 Jahren auf 5 Jahre reduziert. Das bedeutet, daß in der Zukunft Millionen von jungen Frauen mit einem eigenen Rentenanspruch in die Ehe und in die Familie gehen können. Wir haben ferner — das ist ein Novum in der Geschichte der Rentenversicherung — bei der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente zum ersten Mal Erziehungsjahre, d. h. Erziehungszeiten für Kinder, anerkannt — ebenfalls eine richtige Weichenstellung für die Zukunft.
Jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, der vierte Punkt, der vor uns steht: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Zeit läßt es nicht zu, dies hier nun auszuführen. Aber doch so viel: Dies bedeutet, daß wir uns für mehr Teilzeitarbeitsplätze und auch für andere moderne Formen der Arbeitsplatzteilung einsetzen. Denn wir sind der Auffassung, daß wir — das ist das wichtigste Ziel auch unserer Frauenpolitik — die Wahlfreiheit herstellen müssen. Das bedeutet einerseits, daß wir die Frauen, die zu Familie und Beruf ja sagen, von den damit verbundenen Benachteiligungen befreien müssen. Das bedeutet andererseits aber auch, daß wir — denn Millionen von Frauen haben genauso einen Beruf erlernt wie wir Männer und finden in ihrem Beruf für sich selber genauso eine Erfüllung wie Millionen von Männern — die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Frauen, die zu dem Beruf, den sie erlernt haben, j a sagen wollen, auch in einer arbeitsmarktpolitisch schwierigen Zeit genau dieselben Chancen haben wie die Männer.
Dies ist ebenfalls ein wichtiger Punkt in der Konzeption der Bundesregierung. Wir treten für die Wahlfreiheit der Frauen ein. Die Frauen sollen selber entscheiden können, was sie wollen.