Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach so viel Aufschwungs-euphorie der Koalition muß ich noch einmal zur bitteren Wahrheit dieser Weihnachtszeit zurückführen. Erinnern Sie sich noch an jenen rheinland-pfälzischen Sozialminister — er ist jetzt Generalsekretär und Bundesminister —, der in den 70er Jahren für die CDU die neue soziale Frage entdeckte? All jene sollten besonders in die Obhut genommen werden, denen große Interessenverbände keinen oder nicht ausreichenden Beistand gewährten.
Wie sieht das nun heute aus? Aus der neue sozialen Frage ist die neue Armut geworden,
die sich im alten Gewand in unserer Republik breitmacht
und besonders jene erfaßt, die keine starke Lobby haben:
Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, alte, kranke und behinderte Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP, berühren die Briefe, Gespräche, Eingaben und Hilferufe der Hunderttausende von Behinderten, deren Eltern und Sozialhilfeempfängern Sie eigentlich überhaupt nicht, die die Welt nicht mehr begreifen und nicht verstehen, warum die Sparpolitik sie am härtesten trifft, gerade sie, die neben materiellen Engpässen, zum Teil beengten Wohnverhältnissen, vor allem auch physisch und psychisch schwersten Belastungen ausgesetzt sind?
Sie greifen im Rahmen Ihrer Haushaltskonsolidierung voll in den untersten Bereich hinein und stellen die Substanz der Sozialhilfe, die für mich das kulturelle und humanitäre Fundament unserer sozialen Ordnung ist, in Frage.
Wir waren uns doch schon einmal — 1982 — fraktionsübergreifend einig, daß wir in der Sozialhilfe keine kurzatmigen Veränderungen vornehmen wollen. Erinnern Sie sich daran, daß wir 1982 die vom Vermittlungsausschuß vorgenommenen Änderungen — ich denke an das Taschengeld für Heimbewohner und an die Kostenbeteiligung der Eltern behinderter Kinder — hier gemeinsam zurückgenommen haben? Dies war nicht Schwäche oder Zurückweichen vor dem Druck der Straße, wie einige verächtlich meinten. Nein, dies war vielmehr ein Schritt, der von der Erkenntnis getragen war, daß man einen so sensiblen Bereich in seiner innergesetzlichen Ausgewogenheit nicht durch unsystematische Eingriffe weiterhin gefährden darf.
Dieser Grundsatz gilt für meine Fraktion heute noch genauso wie damals. Wir bedauern nur, daß die CDU/CSU, nun in der Regierungsverantwortung, diesen Grundsatz, der fast ein Konsens war, verlassen hat und mit Art. 21 des Haushaltsbegleitgesetzes im BSHG entscheidende Änderungen vornimmt,
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3231
Hauck
die in dieser isolierten Form unausgereift sind und jeglicher sozialen Gerechtigkeit entbehren.
Wenn Sie uns diese Feststellung nicht glauben, dann verweise ich auf das Ergebnis der Sachverständigenanhörung am 12. Oktober 1983,
in der fast alle Sachverständigen einhellig der Meinung waren, daß die punktuellen Eingriffe, die die Bundesregierung in einer überhasteten Art und Weise vornimmt, ausschließlich unter fiskalischen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Besonders stark hat mich die Aussage des für den Caritasverband anwesenden Nestors der katholischen Soziallehre, Prof. Dr. Oswald von Nell-Breuning, berührt. Er brachte seine große Sorge zum Ausdruck, daß durch eine Vielzahl von in sich sehr geringfügigen Maßnahmen, die sich zum Ziel setzen, hier und dort eine Ersparnis zu erreichen, der Grundgedanke, ja sogar die ordnungspolitische Entscheidung, die in den 50er Jahren mit dem BSHG getroffen worden ist, getrübt, ja sogar grundlegend verfälscht wird. —
So ist es. Denn die Erfüllung des sozialstaatlichen Auftrags, jedem die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, hängt entscheidend von der Möglichkeit individueller Leistungsbemessung ab.
Im Gegensatz dazu stehen die vorgeschlagenen Veränderungen, insbesondere die unzureichenden Regelsätze für Empfänger laufender Hilfen, die Nichtanrechnung der Mieten in ihrer tatsächlichen Höhe, die Nichtanrechnung von Mehrkosten bei besonderen Bedürfnissen. Ich könnte hier noch andere Beispiele bringen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß wir uns im klaren sein müssen, daß diese Beispiele Einzelschicksale kennzeichnen, die fast wie Hilferufe klingen.
Besonders erschütternd sind nicht nur diese Einzelschicksale, sondern besonders erschütternd ist auch die Tatsache, daß es bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes Behörden und Ämter gibt, die diese Verschlechterungen ohne individuelle Rücksichtnahme rigoros durchsetzen und damit praktisch schon Unruhe draußen verbreiten.
Lassen Sie mich noch zwei Punkte nennen, die mich innerlich empören und beunruhigen, weil ich sie fast als zynisch empfinde.
Erstens nenne ich das meines Erachtens völlige Fehlverständnis bzw. die Fehlinterpretation des für die Sozialhilfe maßgebende Subsidiaritätsprinzips. Der Hinweis auf notwendige Verlagerung von Positionen vom „großen Netz" auf „kleine Netze", sprich: Angehörige, Selbsthilfegruppen und örtliche Einrichtungen, hilft nicht weiter, wenn die „kleinen
Netze" finanziell nicht in die Lage versetzt werden, die ihnen zugedachten Aufgaben zu erfüllen.
Der Sozialstaat darf sich doch nicht mit dem Hinweis auf die Subsidarität aus der Verantwortung stehlen. Eine Sozialpolitik, die auf das Prinzip „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott" setzt, ist, wie ich schon sagte, zynisch und nicht vertretbar.
Genauso empörend finde ich zweitens die so oft versuchte Inanspruchnahme des Sozialhilfeempfängers, der Behinderten oder sagen wir einfach: der sozial Schwachen als Alibipersonen für die Begründung von Kürzungen und Verschlechterungen in anderen Bereichen. Es ist geschmacklos, wenn man die Floskel hört, da ja vom Sozialhilfeempfänger Opfer gefordert würden, müsse man auch im Jugend- und Familienbereich sparen, müsse man für eine Besoldungspause im öffentlichen Dienst Verständnis haben, müsse man bei Tarifverhandlungen Zurückhaltung üben usw. usw.
Was soll dies alles? Wo kommen wir hin, wenn wir das schwächste Glied im sozialen Sicherungssystem als Eckposition darstellen, statt zu überlegen, wie man jenen hilft, die fast schon unterhalb des Existenzminimums liegen?
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den Kommunalfinanzen, die hier auch eine Rolle spielen. Ohne Zweifel resultiert die Finanzknappheit der Städte, Gemeinden und Kreise auch aus den enormen Belastungen, denen die Sozialhilfeetats ausgesetzt sind. Die enorme Kostensteigerung ist in den letzten Jahren durch mehrere Faktoren beeinflußt worden, nicht zuletzt durch die mittelbaren Auswirkungen der Haushaltsgesetze des Bundes, durch Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung, dem Wohngeld, dem Kindergeld und der Ausbildungsförderung,
durch das starke Anwachsen des Anteils alter und pflegebedürftiger Menschen und in neuerer Zeit durch die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die steigende Zahl von Dauerarbeitslosen. Hier haben wir noch viel zu tun. Besonders die Bundesregierung ist dazu aufgefordert.
Rückblickend auf den letzten Freitag sei mir in diesem Zusammenhang die Bemerkung erlaubt, daß wir den Kommunen mit der Annahme unseres Gesetzentwurfs zur Verbesserung der Gemeindefinanzen zusätzliche Steuereinnahmen von insgesamt 4,5 Milliarden DM hätten zukommen lassen können. Sie haben sich verweigert. Das ist indirekt auch ein Druck auf die Sozialhilfekosten.
Aus diesem Grund stellt meine Fraktion den Antrag, Art. 21 des Haushaltsbegleitgesetzes zu streichen.
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Wir folgen damit den Erkenntnissen der Mehrheit der Sachverständigen aus der Anhörung vom 12. Oktober 1983. Diese Sachverständigen und fast alle Verbände waren sich darüber einig, daß eine sinnvolle Weiterentwicklung des BSHG durch die jetzt vorgeschlagenen Änderungen erschwert, ja zum Teil unmöglich gemacht wird. Wir aber wollen eine angemessene Novellierung und haben dies der Koalition in der Anhörung und im Ausschuß auch vorgeschlagen. Vor allem geht es uns darum, die Sozialhilfe unter den veränderten Rahmenbedingungen strukturell so anzupassen, daß sozial ausgewogene Regelungen zustande kommen.
Vorrangig ist die Notwendigkeit einer Differenzierung, damit nicht spezielle Personengruppen wie z. B. Behinderte durch pauschale Regelungen hart getroffen und benachteiligt werden.
Wir sind für ein solch differenziertes Vorgehen und fordern Sie daher auf, unserem Antrag auf Streichung von Art. 21 zuzustimmen.
Das gleiche gilt für Nr. 2 des Art. 7 des Haushaltsbegleitgesetzes, wonach in dem Gesetz für die Sozialversicherung Behinderter die Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Rentenversicherung von 90 auf 70 gesenkt wird. Diese Regelung führt zu einer Senkung der persönlichen Bemessungsgrundlage von derzeit 83,6 % auf 65 %. Für einen Behinderten würde dies nach 20jähriger Tätigkeit in einer geschützten Einrichtung einen Rentenbetrag ergeben, der noch unterhalb des Sozialhilferegelsatzes läge. 22 % beträgt die Senkung der Rente.
Wenn ich mir vor Augen führe, daß die Regierung sagt, man müsse auch bei Behinderten sparen, damit Schwerstbehinderten geholfen werden könne, dann ist das eine Ironie auf diese Aussage.
Die mit der Einführung dieses Gesetzes gewollte Einbeziehung der Schwerstbehinderten in geschützten Einrichtungen in das System der gesetzlichen Altersversorgung wird damit weitgehend wieder aufgehoben. Das können wir nicht zulassen. Deshalb fordern wir Sie auf, ebenfalls unserem Antrag Drucksache 10/757 zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß die Systeme der sozialen Sicherung den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßt werden müssen. Im Unterschied zur Bundesregierung gilt für uns jedoch der Grundsatz, daß dies nicht durch pauschalen Leistungsabbau geschehen kann, sondern nur durch Strukturreformen, die dem Gebot der sozialen Ausgewogenheit entsprechen und der langfristigen Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme dienen.
Dabei muß die Substanz insbesondere, die der Sozialhilfe, erhalten bleiben.