Rede von
Erich
Wolfram
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das gestehe ich Ihnen gern zu. Aber dann hätten Sie dazu besser geschwiegen.
Frau Präsident, meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, daß sich die Regierungskoalition an jeden Strohhalm, an jeden konjunkturellen Sonnenstrahl klammert. Heute allerdings haben wir von der CDU/CSU und auch von der FDP viel Selbstbeweihräucherung und zuviel Schönfärberei erlebt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU und der FDP, ich frage Sie: Wo leben Sie eigentlich?
— Wenn Sie diese Dunstglocke meinen, mag es vielleicht für Ihren Horizont zutreffen.
3214 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983
Wolfram
Wo leben Sie eigentlich? Haben Sie nicht in Ihren Wahlkreisen, wie wir alle, Ihre Probleme und Ihre Sorgen? Kommen nicht Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Handwerker, Industrie- und Handelskammern zu Ihnen und schildern Ihnen die Probleme und Sorgen der Betriebe, deren Beschäftigung und der Sicherung der Arbeitsplätze?
Lesen Sie nicht täglich die Hiobsbotschaften mit Entlassungsankündigungen?
Wissen Sie nicht, wie es an der Küste, im Saarland, im Zonenrandgebiet, im Ruhrgebiet, aber auch in Speyer und an anderen Orten ausschaut? Meine Damen und Herren, es ist doch verantwortungslos, es ist eine Verharmlosung, eine Verniedlichung der Beschäftigungsprobleme in vielen Betrieben und Branchen, wenn Sie sich hier hinstellen und so tun: Sie mußten nur die Regierung übernehmen, und schon wendet sich alles zum Besseren.
Sie werden noch viel tun müssen, um den Nachweis zu erbringen, daß Sie willens und fähig sind, diese Probleme überhaupt zu erkennen, geschweige denn, sie zu lösen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesarbeitsminister weiß, daß ich ihn persönlich schätze. Aber, Herr Bundesarbeitsminister, es hat mir heute oft wehgetan, mit welcher Oberflächlichkeit Sie an die ernsten Probleme des Arbeitsmarktes und ihre Lösung herangegangen sind.
Das war weit unter Ihrem Niveau, und Sie haben es eigentlich gar nicht nötig, sich Beifall von der falschen Seite zu holen. Seien Sie der Interessenvertreter der arbeitenden Menschen in diesem Lande, dann erfüllen Sie Ihre Pflicht in dieser Regierung.
Meine Damen und Herren, ich will eindeutig klarstellen: Bei uns frohlockt keiner nach Sonthofener Theorie, wenn es immer schlimmer und schlimmer wird.
Wir wünschten Ihnen, daß es mit dem Aufschwung klappt. Aber es wird mit Ihren Mitteln und Methoden nicht klappen. Im Gegenteil, Sie sind unfähig, die ernsten Strukturprobleme zu erkennen und mit konstruktiven Mitteln gemeinsam mit Unternehmern und Gewerkschaften, mit den kommunalpolitisch und regionalpolitisch Verantwortlichen an die Lösung zu gehen.
— Bleiben Sie noch einen Moment sitzen; Sie bekommen noch mehr zu hören. Ich gebe Ihnen gleich noch Gelegenheit zu einer Frage, verehrter Herr Kollege Schmitz.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich, daß Sie mir um diese Stunde noch zuhören und mir Gelegenheit geben, noch Ausführungen zu machen. Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich noch einmal einen wichtigen Komplex aus dem Bereich der Wirtschaft aufgreife, der nach meinem Dafürhalten von Ihrer Seite überhaupt nicht angesprochen worden ist. Der Wirtschaftsminister hat ihn in einem Nebensatz erwähnt.
Ein gutes Jahrzehnt wurde unter der Verantwortung sozialdemokratischer Bundeskanzler eine ausgewogene, verantwortungsbewußte und zukunftsorientierte Energiepolitik in unserer Republik betrieben. Ein halbes Jahr vor der ersten Ölkrise im Jahr 1973 hat es auf sozialdemokratische Initiative das erste Energieprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben, und dreimal haben wir es in den 70er Jahren fortgeschrieben. Wir haben auf diesem Sektor eine erfolgreiche Politik gemacht.
Es wurde wie nie zuvor Energie eingespart. Öl wurde in einem beachtlichem Maße substituiert. Der Kohlebergbau, seine Kapazität und Beschäftigung, wurde stabilisiert, auch im Aachener Revier, Herr Kollege Schmitz. Die nichtnukleare Energieforschung wurde forciert, und Umweltschutz- und Energiepolitik wurden in zunehmendem Maße koordiniert. Alles in allem eine erfolgreiche Energiepolitik.
Meine Damen und Herren, ein Jahr sind Sie in der Regierungsverantwortung, und heute ist vieles anders, vieles schlechter geworden.
In gut einem Jahr hat diese rechtskonservative Bundesregierung — von mir aus nach dem Wort meines Vorredners: die konservativ-liberale Koalition und Bundesregierung — die gemeinsame Plattform unserer Energiepolitik verlassen und eine Wende zurück in die Fehler der 50er und 60er Jahre unternommen.
Ich halte dieser Bundesregierung vor, daß sie aus den Erkenntnissen von zwei Ölkrisen nichts gelernt hat, daß sie den Erhardschen Fehler mit der Hoffnung auf die Kräfte des Marktes wiederholt, daß sie die Kohlevorrangpolitik aufgegeben hat,
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3215
Wolfram
daß sie Zehntausende bergmännische Ausbildungs- und Arbeitsplätze vernichtet und daß sie tatenlos zusieht, wie die Bergbauzulieferindustrie und deren Beschäftigung in den Krisenstrudel gezogen werden. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wo Sie leben — der Kollege Schmitz und die Kollegin Hürland sollten einmal zuhören —: In meinem Wahlkreis wird es am Ende dieses Jahres mit einem Schlag die Vernichtung von rund 4 000 Ausbildungs- und Arbeitsplätzen geben.
Ich würde mir wünschen, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister oder der Herr Bundesarbeitsminister hier sagt, wo denn die tüchtigen und investitionsfreudigen Unternehmer sind, die bereit sind, auf diesen erstklassigen, mit bester Infrastruktur ausgestatteten Standorten neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir machen in unseren Regionen jeden zum Ehrenbürger, der uns neue Arbeitsplätze bringt. Strengen Sie sich doch einmal an! Schwätzen Sie nicht, sondern handeln Sie!
— Wissen Sie, Sie sind ein Youngster in diesem Parlament; wenn Sie Interesse daran haben, sachlich mit mir zu reden, lade ich Sie in die schöne Bergbaustadt Recklinghausen ein. Dann will ich Ihnen mal vor Ort zeigen, was wir seit der ersten Stillegung einer Großschachtanlage im Jahre 1963/65 mit dem Verlust von 6 500 Arbeitsplätzen alles gemacht haben. Wenn wir heute 100 neue Arbeitsplätze an der einen Stelle schaffen, gehen 150 an anderer Stelle verloren, und zwar nicht wegen der Fehler in der Politik, sondern aus ganz anderen Gründen,
auch aus der Verantwortung von Unternehmern, die nicht fähig sind, ihrer Verantwortung Rechnung zu tragen.
— Bitte, verehrte Kollegin!
Entschuldigen Sie bitte. Darf ich noch ein Wort sagen. Sehen Sie, das ist eben Ihre Art: Wenn man ganz nüchtern, ganz realistisch Fakten aufzeigt, wenn man Tatsachen schildert, dann wollen Sie diese nicht wahrhaben. Legen Sie doch Ihren Verdrängungskomplex ab, und befassen Sie sich mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit!