Nein. Ich bin jetzt gerade so im Fluß. Ich bin sehr diskussionsfreudig. Aber ich brauche die Zeit einfach. — Es geht darum, daß
3188 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983
Hoss
man sich überlegt — sehen Sie, jetzt bin ich schon gestört; ich möchte gern, daß Sie mich da bitte ausreden lassen —, daß Sie bereit sind, von 90 % auf 70% zu senken.
Ich habe Briefe von Eltern behinderter Kinder erhalten, die in solchen Werkstätten arbeiten. Darin heißt es z. B.: „Wir wollen für unser behindertes Kind gern sorgen; aber wenn wir alt und krank sind, können wir es nicht mehr; und dann wollen wir die Sicherheit haben, daß unser Kind aufgehoben und versorgt ist." Und genau an diesem Punkt treffen Sie die Eltern dieser behinderten Kinder. Sie scheuen sich nicht, durch eine solche Maßnahme 85 Millionen DM im Haushalt durch Sozialabbau einzusparen.
Ich vergleiche damit — diesen Vergleich muß ich bringen —, daß Sie durch die Änderung der Parteienfinanzierung in der vergangenen Woche sich in kurzer Frist 200 Millionen selber zuschusterten
und daß Sie eine Diätenerhöhung beschlossen haben, die Sie bestimmt nicht so nötig haben wie die Eltern von Behinderten oder die Behinderten selber oder andere sozial Schwache,
für die es mehr ausmacht, ob sie fünf Prozent oder zehn Prozent abgezogen bekommen, als wenn Sie jetzt fünf Prozent mehr kriegen. Ich glaube, daß das hier jetzt einmal deutlich gesagt werden muß.
Oder: In der Erkennntnis, von der Sie glauben, daß sie richtig ist, daß Ihre Wirtschafts- und Industriepolitik zu einem guten Ergebnis führt, lassen Sie sich nicht hindern, Gehörlosen und Taubstummen die Fahrgelder zu kürzen, die diese mehr als jeder andere in unserer Gesellschaft brauchen,
weil sie nämlich in andere Orte und andere Städte fahren müssen, um Gleichgesinnte und gleich Benachteiligte zu treffen, um Kommunikation zu betreiben, die sie also ausgeben, um das Notwendige zu tun, was zu den zwischenmenschlichen Beziehungen gehört. All das schlagen Sie in den Wind, weil Sie die von Ihnen vorgesehene Wirtschafts- und Industriepolitik für richtiger halten, als daß Sie dafür sorgen, daß eine soziale Ausgeglichenheit in unserer Gesellschaft herrscht.
Sie verschärfen auch — ich will das nicht näher ausführen; Sie wissen es sicher — die Voraussetzungen, daß Frauen Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen können, und Sie — auch schon die SPD-Koalition hat es zugelassen —, haben auf dem Gebiet der Sozialhilfe den Warenkorb, der seit 1970 existiert, laut dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge um 30 % zurückfallen lassen.
Viele machen die Augen zu — sie sind nicht betroffen — oder haben gar Vorteile, weil sie auf der Sonnenseite dieser Gesellschaft sitzen.
Wir werben für einen anderen Weg der Industrie, für einen anderen Weg der Wirtschaftspolitik. Es gibt — das hat sich herumgesprochen, seit die GRÜNEN auf der politischen Bildfläche der Bundesrepublik erschienen sind — einen harten Weg und einen weichen Weg der Haushaltspolitik und auch der Wirtschaftspolitik. Der harte Weg heißt, daß sich im Haushalt Momente der Teilung unserer Gesellschaft wiederfinden. Das ist ein Weg, der dahin führt, die sozialen Konflikte schärfer zu betonen. Und Sie gehen den Weg einer zugespitzten Klassengesellschaft. Nicht wir sind es, die die Klassengesellschaft betonen, sondern durch den Haushalt, den Sie jetzt machen, betonen Sie eine zugespitzte Klassengesellschaft.
Wir sind für einen weichen Weg. Wir sind für eine Wirtschaftspolitik, die der aggressiven Industriestrategie den Boden entzieht und die Natur und Gesellschaft schont. Herr Kohl hat ja in seiner Rede zu den GRÜNEN gesagt: Sagen Sie doch mal, wie Sie das machen wollen, wie Sie eine andere Politik machen wollen. Es gibt immer zwei Wege. Es gibt den harten, es gibt den weichen. Man muß sich nur entscheiden.
In der Energiepolitik heißt das, daß man den Weg der großtechnologischen zentralistischen Energiegewinnung gehen kann. Das sind Atomkraftwerke, das sind Wiederaufbereitungsanlagen mit den Folgen auch für die demokratische Gesellschaft. Das sind ungeschützte Kohlegroßkraftwerke. Das ist im Grund auch der Weg der harten Arbeitsplatzvernichtung. Für diesen Weg kann man sich entscheiden. Die Regierungskoalition hat sich dafür entschieden.
Der weiche Weg der Wirtschafts- und Industriepolitik ist der, daß man den Weg des Energiesparens geht, daß man schon allein dadurch, daß man die Wärmedämmung unserer Gebäude in der Bundesrepublik auf den Stand von Schweden und Norwegen bringt, im Bereich der Häuser 50 % der heute verbrauchten Wärme einsparen kann, daß man sich auf andere Energiequellen besinnt — Biogas, Wind, Sonne — und andere, dezentrale Produktionsmethoden der Energiegewinnung herausstellt, Wirbelschichtverfahren usw. Wenn man eine solche Wirtschaftspolitik will, dann muß man sich aber mit den Großenergieerzeugern auseinandersetzen.
Das heißt, daß dann die Führungskraft des Bundeskanzlers und der anderen Kabinettsmitglieder gefordert ist, sich mit diesen Leuten der Energiewirtschaft auseinanderzusetzen. Ich bezweifle, daß diejenigen, die jetzt in der Regierung sind, in der Lage sind, diese Auseinandersetzung im Sinne eines weichen Weges in der Wirtschaftspolitik zu führen.
Genauso geht es in der Verkehrspolitik. Da kann man sich entscheiden, wie es im Bundeskabinett und im Haushalt entschieden wird: für den Abbau von Strecken im öffentlichen Nah- und Fernver-
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kehr, man legt den Leuten nahe, sich, wenn die Strecken stillgelegt sind, Autos zu kaufen, man baut weitere Straßen und belastet die Umwelt. Der weichere Weg besteht darin — er müßte sich im Haushalt wiederfinden —, daß man Schritt für Schritt den öffentlichen Nah- und Fernverkehr ausbaut, ihn attraktiver macht, Ballungsgebiete, Industriegebiete entzerrt, die Wege verkürzt und dem Auseinanderdriften der Plätze, wo wir wohnen, wo wir bauen, wo wir leben, wo wir kommunizieren, wo wir lernen, entgegenwirkt, indem man die entstandenen Entfernungen verkürzt.
In der Dritte-Welt-Politik würde das bedeuten, daß man keine Exportpolitik betreibt, die aggressiv ist, daß man nicht versucht, das, was wir hier produzieren, auf jeden Fall in den anderen Ländern abzusetzen. Ich denke z. B. an den Export von Atomkraftwerken nach Brasilien, wo man diese nicht braucht, weil man über Wasserkraftreserven verfügt, die noch gar nicht ausgenutzt sind. Ich denke an die Belieferung anderer Länder mit Chemieprodukten, mit denen die Menschen auf den Plantagen vergiftet werden.
— Wenn Sie demnächst eine Reise nach Lateinamerika oder in das ferne Asien machen, dann besuchen Sie dort einmal die Plantagen! Dann werden Sie sehen, wie dort von Flugzeugen aus Produkte unserer chemischen Industrie gesprüht werden, während die Leute unten arbeiten.
Man konnte lange Berichte über die Verhältnisse auf den Philippinen lesen.
Wir haben also eine aggressive Industriepolitik, die keine Rücksicht auf die Natur und den Menschen nimmt.
Wir sind dafür, daß man bei uns angepaßte mittlere Technologien entwickelt und mit diesen versucht, den Ländern in der Dritten Welt zu helfen. Das Know-how unserer hervorragenden Konstrukteure und Techniker sollte zur Entwicklung von Produkten genutzt werden, die die Konkurrenz der anderen auf dem Weltmarkt unterlaufen können, die den anderen Konkurrenz machen dadurch, daß unsere Produkte langlebiger sind, eine echte Hilfe darstellen und die Umwelt schonen.
Wenn man eine solche Politik betreiben will, eine Exportpolitik, die darauf hinausläuft, solche Produkte in die Welt zu bringen, die den anderen helfen, sich selber auf die Beine zu stellen, die ihnen helfen, ihr Leben selber zu gestalten, dann muß man sich allerdings auch darüber im klaren sein, daß in unserer Gesellschaft einige Veränderungen notwendig sind. Wir müssen dann von denen abrükken, die Industriepolitik auf unsere und auf Kosten der Dritten Welt machen.
Das heißt wiederum, daß die Leute in der Regierung die nötige Führungskraft aufbringen müssen, sich mit den Herren der großen Industrie auseinanderzusetzen, die heute in den Vorstandsetagen der Konzerne ihre Politik bestimmen.
Zum Abschluß darf ich dies sagen, weil es gesagt werden muß: Wenn ich dann daran denke, daß Herr Kohl als Kanzler sich verschämt von der Industrie Kuverts in die Tasche, in die Seitentasche seines Jacketts drücken läßt,
in denen Zigtausende von Mark sind — lesen Sie es doch nach —, dann muß ich allerdings erhebliche Zweifel anmelden — —