Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß die Wirtschaftspolitik — wie auch die Wirtschaftsdebatte — darunter leidet, daß sie zu wenig perspektivisch gesehen wird, daß sie zu sehr aus konjunktureller Sicht betrachtet wird, daß man sich sozusagen von Ast zu Ast hangelt und nach Lösungen sucht, die uns weiterbringen. Man sucht nach dem Aufschwung, aber der Frage: Welcher Aufschwung soll das sein?, geht man zu wenig nach. Zum weiteren glaube ich, daß der Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik/Gesellschaftspolitik hier zu wenig gesehen wird und daß es notwendig ist, diesen Zusammenhang etwas mehr herauszuarbeiten.
Perspektivisch gesehen steht die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die ja im Zusammenhang zu sehen ist, in den letzten vier, fünf Jahren schon in beiden Koalitionen — sowohl der SPD/FDP-Koalition wie auch der CDU/CSU/FDP-Koalition — im Zeichen des Abbaus sozialer Leistungen zur Stützung möglicher neuer Konjunktur, eines neuen Aufschwungs. Bei der ersten Koalition, der der SPD/ FDP, war das etwas vorsichtiger, bei der zweiten — CDU/CSU und FDP — ist es rigoroser.
Viele halten sich an der Hoffnung fest, daß der Sozialabbau, der vorgenommen wird, eine vorübergehende Erscheinung sei, daß es sozusagen notwendig sei, einmal Opfer zu bringen, um einen neuen Aufschwung einzuleiten, und daß man dann wieder in eine Phase komme, in der man denen, die Opfer gebracht haben, wieder etwas zugute kommen lassen könne.
Ich möchte folgender Frage nachgehen, die den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftspolitik und den Opfern dieser Politik betrifft. Was bringt die Wirtschaftspolitik für die Menschen, für die sie, wie wir annehmen sollten, eigentlich gemacht sein soll? Wie sieht es für die Menschen aus? Längerfristig können wir nicht umhin, uns zu vergegenwärtigen, welche Opfer die bisherige Wirtschaftspolitik schon produziert hat. Ich bitte Sie, vielleicht einmal für einen kurzen Moment einzuhalten und über folgende Zahlen nachzudenken.
Ich rede nicht von den 2,3 Millionen Arbeitslosen und nicht von den 2 Millionen Sozialhilfeempfängern, die ja schon zur Genüge in die Debatte eingeführt worden sind. Es gibt einige andere Indikatoren für den Zustand unserer Gesellschaft und für Tendenzen in ihr, Indikatoren, die uns — jeden von uns hier — nachdenklicher stimmen sollten. Wir haben es in der Bundesrepublik z. B. mit 1,8 Millionen Alkoholkranken zu tun. Wir haben es mit 2 Millionen Menschen, die medikamentenabhängig sind, zu tun.
Wir hatten es im vergangenen Jahr mit 8 Millionen Arztbesuchen wegen psychisch bedingter Krankheiten zu tun, wobei 1 Million Menschen einer therapeutischen oder psychiatrischen Behandlung bedürfen. 4 Millionen Menschen in unserer Gesellschaft, in unserer Wohlstandsgesellschaft, sind innerhalb eines Jahres in Straftaten verwickelt worden. Wir haben 1 Million Obdachlose.
Ich denke, daß diese Opfer einer Wirtschaftspolitik, die sich mitten unter uns befinden, Ausdruck dafür sind, daß in unserer Bevölkerung eine tiefe Unsicherheit vorhanden ist. Das hat sehr wohl etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun; ich komme darauf nachher noch zu sprechen. Die Leute beginnen, ihren Optimismus zu verlieren und daran zu zweifeln, daß die zukünftige Wirtschaftspolitik an diesen längerfristigen Indikatoren und Tendenzen etwas ändert. Ist das ein mit dem Sozialabbau verbundener vorübergehender Zustand, oder gibt es tiefergehende Ursachen, die dahin führen'? Was steckt dahinter?
Es wird sicher gut sein, perspektivisch einmal davon auszugehen, daß wir in unserer Gesellschaft ein grandioses Industriesystem geschaffen haben, ein sehr exportabhängiges Industriesystem, das in zunehmendem Maße auf enorme Schwierigkeiten mit entsprechenden Folgen stößt. Daß wir diesen Stand eines grandiosen Industriesystems erreicht haben, daß wir einen ungeheuren Massenausstoß von Industriegütern haben, macht uns zugleich auch zu Gefangenen dieses Systems, denn dann, wenn dieser Industrieausstoß von Massengütern nicht abgesetzt werden kann, schlägt das — mit allen sozialen Folgen — auf unsere eigene Gesellschaft zurück.
Dieses Industriesystem konnten wir nach unserer Meinung, nach Meinung der GRÜNEN, nur deshalb schaffen — und das ist Industriepolitik —, weil wir auf den Schultern anderer stehen, sozusagen wie jemand, der sich über Wasser hält, weil ein anderer unter ihm steht und dessen Schultern einen guten Platz bieten, damit er den Kopf über Wasser hält.
Wir stehen nämlich auf den Schultern der armen
Länder der Dritten Welt, und es gibt keine Anzei-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 44. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1983 3187
Hoss
Chen dafür, daß der industrielle Reichtum und Wohlstand, der in den Industrieländern geschaffen worden ist und geschaffen wird, dazu dienen soll, den Zwiespalt, die Schere zwischen armen und reichen Ländern aufzuheben, d. h. die Teilung der Welt zu beseitigen.
Das Mißverhältnis zwischen den hohen Preisen der Massengüter der Industriewelt und den niedrigen Preisen für die Rohstoffe, die wir den Ländern in der Dritten Welt zahlen, zeigt, daß hier ein Mechanismus in Gang gesetzt ist, dem Sie sich nicht stellen. Vielmehr fahren Sie fort, die Wirtschaft in der alten Weise zu organisieren, ohne diesem grundlegenden Widerspruch in der Welt zwischen hochentwickelten Industrienationen und immer ärmer werdenden Ländern der Dritten Welt nachzugehen.
Was geschieht? Es geschieht folgendes — ich will kurz skizzieren, wie die Hilfe aussieht —: Wir haben einen Industrieapparat mit Massenausstoß von Gütern, und wir setzen das ab. Solange diese Länder über Möglichkeiten verfügen, diese Industrieprodukte zu kaufen, ist es gut. Wenn das nicht mehr geht, drängen unsere Waren dorthin, und wir geben diesen Ländern Kredite. Mit diesen Krediten, die wir ihnen geben, kaufen sie unsere Waren. Der nächste Schritt ist die totale Verschuldung dieser Länder; es kommt zum Kollaps, zur Zahlungsunfähigkeit. Der nächste Schritt ist, daß Umschuldungsverhandlungen aufgenommen, daß wieder neue Möglichkeiten der Lieferung von Waren in diese Länder geschaffen werden. Aber wer bezahlt denn die Verluste, die bei diesem Geschäft entstehen? Die schlagen zurück in unsere Gesellschaft und erscheinen hier als Sozialabbau.
— Das sind keine Märchen. Sie brauchen bloß in die Dritte Welt zu fahren, sich anzusehen, wie die Leute dort leben, einen Vergleich zwischen dem vorigen Jahrhundert und heute anzustellen und zu sehen, wie die Lebenszusammenhänge vieler Millionen Menschen in Lateinamerika, in Afrika und Asien zerstört werden,
dann wissen Sie, daß das keine Märchen sind. Wenn vom Bundestag schon Reisen ins Ausland gemacht werden, dann würde ich Ihnen raten, sich dorthin zu begeben, wo die wirklichen Auswirkungen der Industriepolitik sichtbar werden.
Aber ich will wieder ruhiger werden. Denn es geht ja darum, wirklich einige Zusammenhänge aufzuzeigen, damit wir daraus vielleicht entsprechende Konsequenzen ziehen. Im übrigen: Wenn Sie das jetzt noch für ein Märchen halten, so sollen Sie das ja nicht gleich annehmen. Es würde ja genügen, wenn wir darüber gemeinsam nachdenken und dann im Verlauf der nächsten Jahre doch zu einigen Ergebnissen kommen.
Also, diese Exportpolitik unseres Industriesystems schlägt nun zurück, weil in der Welt eben gewisse Schwierigkeiten aufgetreten sind, die sich darin äußern, daß es in unserer Wirtschaft zu Stokkungen kommt. Die Teilung, die unser Industriesystem zwischen armen und reichen Ländern in der Welt vorgenommen hat, schlägt jetzt in unsere Gesellschaft hinein. Diese Teilung sieht so aus, daß das „Arm" und das „Reich" zu einem Zustand werden wird, der nicht nur von kurzer Dauer ist, sondern der von längerer Dauer sein wird, solange Sie Ihre Politik machen können. Der vorgelegte Wirtschaftshaushalt und auch der Gesamthaushalt sind ein Ausdruck dafür, daß Sie — genauso wie Sie in der Welt die Schwierigkeiten in den Griff zu kriegen suchen — hier im Gebiet der Bundesrepublik die Schwierigkeiten auf den Schultern der armen Leute austragen. Sie versuchen hier mit einem Haushalt zu einem Ausgleich zu kommen, der durch Sozialabbau gekennzeichnet ist.
Ich kenne j a nun durch die Ausschußarbeit, durch die Arbeit im Bereich Arbeit und Soziales, einige von Ihnen. Ich habe in der Zeit, in der ich hier bin, auch viele von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, CSU und FDP, kennengelernt und weiß, daß es falsch wäre, zu sagen, daß Sie den Sozialabbau einfach so schlechthin beschließen. Ich weiß sehr wohl, daß Sie sich als einzelne da nicht leicht tun und daß es Ihnen — auf Grund Ihrer christlichen Tradition, z. B. vom Kolping-Gedanken geprägt — persönlich nicht so leicht fällt, diese Beschlüsse zu fassen. Aber Sie haben sich entschieden.
Sie entscheiden sich für die Fortführung Ihrer Industriepolitik, weil Sie keinen anderen Ausweg sehen. Das läuft darauf hinaus, mit Rigorosität die Schwächsten zu treffen in der Hoffnung, daß das vorübergehend sein wird und daß man diesen Schwachen nachher wieder etwas geben kann. Das ist eine Entscheidung — darüber müssen Sie sich völlig im klaren sein —, die für Sie doch in gewisser Weise bezeichnend ist. Das erklärt mir auch, warum Sie imstande und bereit sind, z. B. Behinderten, die in geschützten Werkstätten tätig sind und die bisher einen Rentenbeitrag, einen Zuschuß von 90 % erhalten, damit sie dann, wenn sie älter sind, eine vernünftige Rente in Höhe von 90% der Rente eines Gesunden erhalten, diesen Zuschuß des Bundes von 90 % auf 70 % zu kürzen.