Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe versucht, dem Kollegen Roth aufmerksam zuzuhören, um vielleicht die Chance zu haben, erstmals ein Konzept der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zur Wirtschaftspolitik zu hören. Ich muß sagen, ich bin erneut enttäuscht worden, lieber Kollege Roth. Keine neue Idee, kein Konzept, nur Kritik! Ich glaube, Sie brauchen noch lange Zeit auf den Oppositionsbänken, um über ein überzeugendes Wirtschaftskonzept der Sozialdemokratie nachzudenken.
Lassen Sie mich an drei Punkten zeigen, wie fragwürdig Ihre Argumentation ist.
Punkt eins: Sie sprachen von Bremen und beschuldigten uns des Wortbruchs. Sie haben dabei verschwiegen, daß eine Investitionszulage von 8,7 für neue Arbeitsplätze in Bremen von uns bewußt getragen und unterstützt wird. Sie haben verschwiegen, daß 80 Millionen DM Haushaltsmittel des Bundes zur Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur gerade in Bremen in den nächsten Jahren gezielt eingesetzt werden. Und Sie haben verschwiegen, daß zu einer Fusionshilfe das SPD-regierte Land Hamburg ausdrücklich gesagt hat, sie solle nicht kommen.
Geben Sie die Schuld nicht der Regierung, sondern denken Sie mal über die Frage nach, ob es in der Sozialdemokratie noch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gibt, bevor Sie hier Kritik üben.
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Wissmann
Ein Zweites. Sie haben zur 35-Stunden-Woche, zur Arbeitszeitverkürzung gesprochen und haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er mische sich ein. Herr Kollege Roth, was ist eigentlich der Unterschied hinsichtlich des Wortes Einmischung, wenn Sie aus Ihren Gründen engagiert für die 35-Stunden-Woche plädieren und auf der anderen Seite der Bundeskanzler aus seinen Gründen dazu Stellung nimmt? Tarifautonomie heißt doch nicht Denk- und Redeverbot. Der Bundeskanzler hat die Verantwortung, aus seiner Kenntnis zu volkswirtschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen. Wir können ihn hier nur unterstützen. Denn wir wissen, daß die Verkürzung der Wochenarbeitszeit in Frankreich nicht die Wirkung gehabt hat, die sich die französische Regierung erhofft hat, sondern im Mittelstand die gegenteiligen Wirkungen ausgelöst hat. Wir sollten — wie wir finden — aus den Fehlern anderer lernen.
Eine kleine Seitenbemerkung: Wir waren ja vor kurzem bei der Industriegruppenkonferenz der IG Chemie zusammen. Herr Kollege Roth, wenn ich mir ansehe, was dort zum Thema Lebensarbeitszeitverkürzung einerseits und Wochenarbeitszeitverkürzung andererseits gedacht wird, dann frage ich mich: Warum muß eigentlich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den harten Wortführern auf der Gewerkschaftsseite Unterstützung geben, statt sich den gemäßigteren unter den Gewerkschaftern — auch den sozialdemokratischen Gewerkschaftern — anzuschließen, wenn es um solche Grundfragen zukünftiger Wirtschafts- und Strukturpolitik geht?
Drittens. Vor ein paar Wochen noch haben sozialdemokratische Redner bei jeder Gelegenheit erklärt, eine wirkliche Belebung sei nicht in Sicht, ein Aufschwung werde nicht erreicht. Inzwischen ändert sich die Rhetorik, weil sich die Tatsachen geändert haben: Im Jahre 1982 1% Rückgang des realen Bruttosozialproduktes, im Jahre 1983 1 % Zuwachs des realen Bruttosozialproduktes. Wir haben heute nicht mehr nur eine Entwicklung der Konjunktur, die sich über die Konsumgüternachfrage speist — was sicher der erste Grund für das Anspringen des Motores war —, sondern inzwischen auch eine steigende Auslandsnachfrage. Das Bestellvolumen lag — was das Ausland angeht — im September/Oktober 1983 um 9,5% höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es — selbst wenn sich dort noch keine grundlegende Veränderung abgezeichnet hat und wir weiter daran arbeiten werden, daß sich die Lage bessert — bereits deutliche Signale für eine Verbesserung: Die Zahl der Betriebe, die kurzarbeitet, hat um 30 % abgenommen, die Zahl der Kurzarbeiter hat sich gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel auf 548 000 verringert.
Wir sollten doch alle einmal — trotz aller Parteiunterschiede — über den Gedanken des Sachverständigenrates in eine intensivere Diskussion eintreten. Er sagt: Wenn es uns gelingt, über einen mittelfristigen Zeitraum bei einer Produktivitätssteigerung von 2 bis 2,5% ein jährliches Wachstum von 3 bis 3,5 % des Bruttosozialproduktes zu erreichen, dann könnten über das wirtschaftliche Wachstum im Schnitt pro Jahr 200 000 bis 250 000 Arbeitslose weniger da sein. Deswegen sagen wir als CDU/CSU: Ohne Wachstum werden wir die grundlegende Wende am Arbeitsmarkt niemals bewirken. Deswegen müssen wir darauf schauen, daß auch in Zukunft die investitionspolitischen Voraussetzungen für solches Wachstum gesichert werden.
Nachdem die Aufräumungsarbeiten über weiteste Strecken erledigt sind, nachdem der notwendige Impuls für die konjunkturelle Entwicklung gegeben worden ist, ist es jetzt die Aufgabe, die zweite Stufe der wirtschafts- und finanzpolitischen Konzeption der Koalition der Mitte mutig in Angriff zu nehmen.
Ich will in einigen wenigen Leitsätzen die Ziele nennen, die uns dabei gemeinsam mit der Bundesregierung vorrangig erscheinen.
Erstens. Der weitere Abbau von Investitionshemmnissen und die weitere Entbürokratisierung bleiben ein vorrangiger Punkt auf der Tagesordnung dieser Regierung. Mit ersten Schritten zur Mietrechtsliberalisierung und der Zustimmung der Bundesregierung zum zügigeren zweistufigen Genehmigungsverfahren für technische Großprojekte sind bereits entsprechende Entbürokratisierungsschritte eingeleitet worden. Mit einer Vereinfachung des Gewerberechts und einer zügigen Reform des Baugenehmigungsrechts werden weitere Schritte folgen.
Wenn aus einer Untersuchung in Schleswig-Holstein hervorgeht, daß dort beispielsweise für eine Baugenehmigung 74 Bundesgesetze, Verordnungen und Richtlinien und 90 Landesgesetze, Verordnungen und Richtlinien zu beachten sind, dann sagen wir: Auch hier steckt ein Investitionshindernis beispielsweise für das Kleinunternehmen, das über eine neue Ansiedlung nachdenkt. In Schottland ist es möglich, daß in einem Monat alle notwendigen Entscheidungen getroffen sind, während es in Deutschland oft monatelang dauert, bis schwierige bürokratische Mechanismen bewältigt sind. Das muß verändert werden, wenn wir ein entsprechendes Klima für arbeitsplatzschaffende Investitionen schaffen wollen.
Ein zweiter Punkt. Wir begrüßen ausdrücklich den ersten Schritt zu einer Teilprivatisierung der VEBA, den die Bundesregierung eingeleitet hat. Wir meinen, daß diesem weitere Schritte folgen müssen, um die Grenzen des Staates neu abzustecken. Das muß nicht nur im Bund geschehen, sondern auch in
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den Ländern und Gemeinden soll eine breite Privatisierungsstrategie vollzogen werden. Denn der Staat darf nicht alles wie eine Krake an sich ziehen, sondern muß privater Initiative und privatem Kapital wieder mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben.
Wir denken dabei nicht nur an weitere Teile des industriellen Bundesvermögens. Wir denken auch an den öffentlichen Wohn- und Grundbesitz, wir denken an Wartungsdienstleistungen z. B. im Bereich der Bundeswehr. Wir denken an Naßbaggerei oder Müllabfuhr, um nur einige Beispiele zu nennen. Damit sollen auf Dauer wieder mehr private Initiativen möglich gemacht werden. Von den Geldern, die aus der Privatisierung für die öffentlichen Haushalte frei werden, soll ein Teil dazu verwendet werden, notleidenden Bundesunternehmen und anderen staatlichen Unternehmen zu helfen. Nicht Rosinenpickerei bei der Privatisierung, wie Ihr Vorwurf lautet, ist unser Ziel, sondern mehr private Initiative bei gleichzeitiger Sanierung notleidender staatlicher Unternehmen. Diesem Ziel werden wir auch in Zukunft Vorrang geben.
Ein dritter Punkt, ein zugegebenermaßen kritischer Punkt, ist unsere Zielsetzung eines Abbaus von Subventionen mit all ihren Schwierigkeiten. In einer Zeit wirtschaftlicher Krisen in einzelnen Branchen, z. B. bei Kohle und Stahl, ist ein spürbarer Abbau des Gesamtniveaus staatlicher Subventionen nur schwer erreichbar. Im Zuge des konjunkturellen Aufschwungs aber könnten wieder Spielräume für sinnvolle Subventionskürzungen geöffnet werden.
Der Sachverständigenrat sagt mit Recht: Subventionen sind meistens Kinder der Not. — Das allein muß noch kein Grund für Kritik sein. Das Problem besteht darin, daß häufig aus Kindern der Not Dauerversorgte werden. Am Ende wird nicht mehr die Frage einer Überprüfung der Subventionen gestellt, sondern aus Subventionen, die für eine Übergangszeit gelten sollten, werden Dauerbesitzstände, die den Strukturwandel behindern, die kleine und Mittelbetriebe benachteiligen und die Innovation unserer Volkswirtschaft gefährden. Deshalb bleibt dies ein wichtiges Thema christdemokratischer Wirtschaftspolitik.
Deswegen begrüßen wir es auch, daß die Bundesregierung unterstützt vom Lande Hamburg es in diesem Fall abgelehnt hat, eine Fusionshilfe für Großwerften zu geben, weil wir der Meinung sind, daß dies kleine und mittlere Betriebe in verantwortungsloser Weise gefährdet hätte. Wir kündigen hier schon an, daß wir ähnliche ordnungspolitische Konsequenz auch in Zukunft werden walten lassen und aus den schlechten von Ihnen gesetzten Beispielen in der Vergangenheit die entsprechenden Lehren in den kommenden Jahren ziehen werden.
Lassen Sie mich einen vierten Punkt nennen. Wir wollen die Politik fortsetzen, die mit der Aufstokkung des Eigenkapitalhilfeprogramms der Bundesregierung unterstrichen worden ist, d. h. Existenzgründungen kleiner und mittlerer Betriebe zu fördern. Wir werden im kommenden Jahr mit der Verwirklichung der Idee eines Existenzgründungssparens einen weiteren großen Schritt machen, um jungen Leuten Mut zu machen, das Risiko der Selbständigkeit auf sich zu nehmen.
Meine Damen und Herren, jeder junge Mann und jede junge Frau, die bereit sind, dieses Risiko auf sich zu nehmen, und dabei erfolgreich sind, schaffen neue Arbeitsplätze. Wenn es uns gelingt, eine Existenzgründungswelle in Gang zu setzen, schaffen wir Hunderttausende neuer Arbeitsplätze. Da, finde ich, sollten wir alle zusammenwirken, welche unterschiedlichen parteipolitischen Standpunkte wir auch immer haben.
Damit hängt der fünfte Punkt eng zusammen. Wir wollen die Risikokapitalausstattung der deutschen Wirtschaft verbessern. Es ist eine entscheidende Aufgabe der Zukunft, die Rahmenbedingungen gerade auch für die Investitionen in neue Produkte, in neue oder verbesserte Verfahren zu verbessern und jungen, schnell wachsenden Unternehmen im Bereich der neuen Technologien den nötigen Aufbau ihrer Produktion und die Markteinführung besser als bisher möglich zu machen. In den USA wird das bisherige Risikokapitalaufkommen bereits auf über 7 Milliarden US-Dollar beziffert. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es bisher kaum entsprechende Möglichkeiten. Ein zweiter Aktienmarkt beispielsweise ist ein solcher Weg, um dazu beizutragen, daß mancher fragwürdige Kapitalfluß umgelenkt wird auf riskante, interessante, technologieorientierte Zukunftsgründungen. Wenn gegenwärtig 200 deutsche Patente in Japan angemeldet sind, aber 7 000 japanische Patente in Deutschland, dann sollten wir nicht wie manche Sozialdemokraten sagen: Wir müssen dem mit einer Abschottungsstrategie begegnen! — Wir müssen dem vielmehr mit einer Annahme der Herausforderung begegnen. Nur so können wir uns als Industrienationen stärker als bisher auf dem Weltmarkt bei jungen wachsenden Industrien behaupten.