Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Präsident.
Ich finde, die härteste Disziplinierung, die die Industriegesellschaft in das Arbeitsleben gebracht hat, ist das Korsett starrer Arbeitszeiten. Das war in früheren Zeiten ganz unbekannt. Früher, in agrarischen Zeiten, hatte man sehr viel mehr Gelegenheit, Leben und Arbeit miteinander zu versöhnen.
Wir sind doch aber in einem Stadium des technologischen Fortschritts, wo der Individualisierung wieder mehr Spielräume gegönnt werden, wo wir Arbeit und Leben wieder miteinander versöhnen können. Ich bin auch ganz sicher, daß die Mehrheit der Arbeitnehmer die selbstbestimmte Altersgrenze einer 35-Stunden-Woche, die als Befehl gegeben wird, vorzieht.
Das ist nach dem Marschmuster: im Gleichschritt marsch! Wir bevorzugen die zivile Gangart und die eigene Entscheidung des Arbeitnehmers.
Wo Freiheit sich mit Freiheit stößt, muß man sich freilich vereinbaren. Die Freiheit hat größere Spielräume, wenn wir die Vereinbarungen den Partnern und den Tarifvertragsparteien überlassen und die Entscheidungen nicht durch Gesetz treffen.
Damit komme ich auch zu dem dritten Vorteil. Solcher Ausgleich wird nur im Kompromiß möglich sein. Im Unterschied zu den Liebhabereien der Klassenkämpfer halte ich den Kompromiß für die größte Erfindung der Sozialgeschichte. Er zwingt uns, mit dem Kopf des anderen zu denken, er zwingt uns zur Rücksichtnahme, er zwingt uns zu Vereinbarungen, die man gegenüber der eigenen Anhängerschaft auch vertreten muß, er zwingt uns in dieser Frage auch zu einem Ausgleich zwischen Lohn-, Einkommen- und Arbeitszeitinteressen. Auch das gehört zur Vernichtung einer Lebenslüge. Man könnte neue Arbeitszeitverkürzungen und alte Lohnerhöhungen haben — das ist eine Lebenslüge; man kann den Kuchen nicht zweimal essen. Was von der Produktivität für Lohn weggenommen wurde, das steht nicht mehr für Arbeitszeit zur Verfügung. Hier müssen Kompromisse und Ausgleich gefunden werden.
Der vierte Vorteil: Dieses Vorruhestandsangebot funktioniert im Sinne eines Beschäftigungspaketes. Drei müssen mitspielen: Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Wenn nur einer nicht mitspielt, kommt nichts zustande.
— Ich habe Gewerkschaften mit Arbeitnehmern identifiziert. Mein Gott, ist das für einen Sozialdemokraten ungewöhnlich? Wenn einer nicht mitspielt, kommt die ganze Regelung nicht zustande. Ich bin davon überzeugt: Wir werden aus der Arbeitslosigkeit nur herauskommen, indem Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenarbeiten. Wenn einer glaubt, er schafft es allein, überschätzt er seine Kräfte.
Ein Drittes wiederum abseits jeder Theorie: Wer sind denn die Jahrgänge, die die Vorruhestandsregelung beanspruchen können? Das sind die Jahrgänge 1929 und älter. Fragen wir doch einmal, wer diese Mitbürger sind. Es sind die Mitbürger, die in Zeiten geboren wurden, in denen Inflation und Massenarbeitslosigkeit herrschten. Es sind die Mitbür-
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ger, die ihre Jugendzeit in Schützengräben, bei Bombennächten zugebracht haben. Es sind die jungen Frauen und Männer, die nach dem Krieg den Schutt weggeräumt haben, wie man in meiner Heimat sagt, für „nen Appel und en Ei", und das zustande gebracht haben, was andere dann das Wirtschaftswunder genannt haben, und zwar für die Gegenleistung eines Henkelmanns mit dünner Suppe, die Sie nicht als Zahnwasser benutzen würden.
Dafür haben sie Schutt weggeräumt. Ich finde, daß diese Generation, die auf dem Wohlstand der eben genannten Generation aufbaut, auch in den Pflichten einer Wiedergutmachung steht. Insofern ist die Vorruhestandsregelung auch eine Anerkennung der Generation, die die schlimmsten Opfer und größten Leistungen in diesem Jahrhundert erbracht hat.
Wir machen damit gleichzeitig Arbeitsplätze für die Jungen frei. Sie sehen, wir machen eine Politik für jung und alt, im Geben und Nehmen. Das ist genau die Zeit, in denen die geburtenstarken Jahrgänge vor der Tür stehen.
Ich will Sie noch darauf hinweisen, daß diese Arbeitszeitregelung die einzige ist, in die ein Wiedereinstellungsmechanismus eingebaut ist. Wir machen sie flexibel, wir begrenzen sie zeitlich. Wir halten nichts von einer dogmatischen Sozialpolitik, die immer alles besser weiß und mit Jahrhundertwerken glänzen will. Was als Jahrhundertwerk angeboten wurde, waren in der Mehrzahl der Fälle nur Tagesfliegen. Wir wollen das zeitlich begrenzen. Wir glauben, daß wir es schaffen, in unserem Land wieder Vollbeschäftigung herzustellen. Deshalb finden wir uns mit dem Mangel nicht ab. Wir wollen über diese schwere Zeit geburtenstarker Jahrgänge und arbeitsmarktpolitischer Anspannung hinwegkommen. Diese Vorruhestandsregelung ist mit einem Rahmenprogramm verbunden. Wir machen Politik im Zusammenhang. Wir hopsen nicht von einer Maßnahme zur anderen. Deshalb bin ich dafür, daß wir die 59er-Regelung, so wie sie jetzt ist, nämlich daß man mit 59 Jahren in die Arbeitslosigkeit gehen kann, um dann mit 60 Jahren drei Jahre früher in Rente zu sein, zumachen. Denn bei Licht betrachtet, meine Damen und Herren, war das in vielen Fällen ein abgekartetes Spiel zwischen Betriebsräten und Geschäftsleitung.
Großbetriebe haben auf diese Weise ihre Personalprobleme gelöst; bezahlt haben es der Mittelstand und die Arbeitnehmer im Mittelstand.
Das hat die Rentenversicherung 1,7 Milliarden DM gekostet, 700 Millionen DM die Bundesanstalt für Arbeit. Jeder zweite Großbetrieb hat davon Gebrauch gemacht, aber nur jeder 14. Kleinbetrieb. Dabei habe ich die Betriebe mit weniger als 50
Beschäftigten noch nicht einmal mitgezählt. Das ist eine Sozialpolitik mit eingebauten Privilegien. Eine solche Sozialpolitik machen wir nicht. Wir machen nicht die Sozialpolitik für die Cleveren, wir machen die Sozialpolitik für Herr und Frau Jedermann, nicht für die Cleveren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem Ausblick auf die vor uns liegende Sozialpolitik schließen. Ich glaube, daß man für eine verläßliche Sozialpolitik Orientierungen braucht, daß man nicht im Versicherungsgestrüpp hängenbleiben darf.
Die erste Orientierung für mich ist: Leistung muß sich lohnen. Deshalb müssen leistungsbezogene Ansprüche, durch Beitragszahlung erworbene Ansprüche immer Vorfahrt haben. Auch in der Sozialpolitik hat Leistung ihren Platz. Die selbsterworbene Rente ist immer tabu gegenüber allen Zumutungen durch Verteilungspolitiker. Wer etwas durch Beitrag erworben hat, empfängt seine Sozialleistungen mit einem anderen Selbstbewußtsein; er empfindet sie nicht als Zuteilung der Obrigkeit, wie immer sie aussieht.
— Meine Damen und Herren, ich kann auch darauf noch antworten. Ich habe gesagt: Leistung hat einen Platz in der Sozialpolitik; ich habe nicht gesagt, daß die Sozialpolitik nur aus Leistung bestehen wird. — Ich füge allerdings zweitens hinzu, daß Sozialleistungen auch einen Abstand zu dem Lohn haben müssen, von dem sie abhängen.
Lohnersatz kann nicht so hoch sein wie der Lohn, den er ersetzt, sonst würde dieser Begriff Lügen gestraft. Auch das ist ein Grund dafür, warum wir das Krankengeld beitragspflichtig gemacht haben; es war ja in der Mehrzahl der Fälle mit dem Nettolohn identisch.
Ich nenne den dritten Grundsatz: Solidarität muß durch Subsidiarität gegliedert werden. Meine Damen und Herren, wir unterscheiden uns nicht durch das Bekenntnis zur Solidarität. Ich kann mir keine Gesellschaft ohne Solidarität vorstellen. Keiner kommt ohne den anderen aus. Der Unterschied liegt nicht im Ob der Solidarität; der Unterschied liegt darin, wie die Solidarität aussieht. Die sozialistische Solidarität ist die nivellierte Gleichheitssolidarität, die kollektivistische Solidarität.
Unsere Solidarität ist gegliedert. Der Sozialismus wird durch eine tiefe Angst vor den Unterschieden getrieben.
— Ich bin ja kein Tiefenpsychologe.
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Ich fürchte, es ist die Angst vor dem anderen. Deshalb muß der andere immer der gleiche sein. Wir sehen Vielfalt als Bereicherung.
Meine Damen und Herren, deshalb halten wir auch mehr von einer Sozialpolitik, die nicht alles dem Staat zuschanzt. Entstaatlichen heißt für uns nicht entsolidarisieren, sondern es heißt der Differenzierung Raum geben. Nicht in jedem Unterschied liegt eine Unterdrückung. Ich sehe darin auch die Chance, den kleinen Gemeinschaften Raum zu geben, der ambulanten Versorgung.
Es gibt die Diskussion über eine Pflegeversicherung. Ich fürchte, eine solche Pflegeversicherung ist ein Angebot, das nur neue Nachfrage schafft. Niemand redet davon, daß 80 % der Pflegefälle in den Familien, in der Nachbarschaft versorgt werden. Wir müssen Sozialpolitik nicht nur für die Apparate machen; wir müssen Sozialpolitik auch für diejenigen machen, die ihre Probleme in eigener Zuständigkeit zu lösen versuchen.