Sehr verehrter Herr Kollege Glombig, Sie werden sich etwas gedulden müssen. Ich komme auch noch zu den Maßnahmen, mit denen wir die Höherverdienenden in das Sanierungskonzept einbezogen haben.
Ich bleibe zunächst einmal im Bereich der Sozialversicherung. Da frage ich noch einmal: Herr Kollege Glombig, finden Sie es richtig, daß diejenigen, die ihre Sonderzuwendungen — Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Kirmesgeld — über das ganze Jahr verteilt bekommen, mit diesen Leistungen immer unter der Beitragsbemessungsgrenze liegen, während diejenigen, die alles auf einmal, die möglicherweise nicht nur ein dreizehntes, sondern sogar ein vierzehntes Monatsgehalt ausgezahlt bekommen,
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Bundesminister Dr. Blüm
mit der Mehrheit der Leistungen über der Beitragspflicht liegen? Es kann doch nicht der Sinn von privaten Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sein, zu entscheiden, ob man einer öffentlichen Leistungspflicht unterliegt oder nicht. Das ist doch gegen die Solidarität, Herr Glombig, die Sie sonst immer so hoch preisen.
Eins muß ich doch feststellen, nicht zuletzt weil der Kollege Glombig gerade die Frage der sozial Schwächeren angesprochen hat. Trotz Sparmaßnahmen: Das Unterhaltsgeld und das Übergangsgeld für Behinderte, für berufliche Rehabilitanten, liegt der Höhe nach immer noch über dem Arbeitslosengeld. Entgegen anderslautenden Meldungen liegt auch das Arbeitslosengeld der Höhe nach immer noch über der Sozialhilfe. Lassen Sie sich nicht verwirren! Dies ist eine Tatsache: Ein Alleinstehender muß weniger als 1 300 DM verdient haben, um mit dem Arbeitslosengeld in die Sozialhilfe zu geraten. Selbst die niedrigste Lohngruppe bei den Textilarbeitern liegt 16 %, liegt über 200 DM über dieser Mindestgrenze. Es kann nicht sein, was Sozialdemokraten behaupten: daß diese Sparmaßnahmen nichts anderes seien als ein Abschieben zur Sozialhilfe.
Ich will das Thema soziale Balance anschneiden. Natürlich ist das ein Thema, die soziale Balance. Natürlich sind wir nicht am Ende dieser Aufgabenstellung. Wir haben Subventionen und Steuerprivilegien zu überprüfen. Nur, wer weniger als wir gemacht hat, eignet sich wenig dazu, uns Vorwürfe zu machen. Wenn einer überholt wird, kann er zum Überholer nicht sagen, er fahre zu langsam. Man kann sagen, wir hätten zu wenig getan. Aber die Sozialdemokraten, die in dieser Sache nichts getan haben, haben nun gar keinen Grund, uns Vorwürfe zu machen.
Ich nenne ein paar Beispiele. Wenn Sie Zeit haben, können wir das Thema etwas ausführlicher behandeln. Investitionshilfe: Ich hätte mir gewünscht, sie wird nicht zurückgezahlt. Aber selbst wenn sie zurückgezahlt wird, ist der Zinsverlust so hoch, wie Ihre ganze Ergänzungsabgabe es dem Betrag nach gewesen wäre, nämlich 2,5 Milliarden DM. Es ist ein Stück sozialdemokratischer politischer Schizophrenie, wenn Sie einerseits beklagen, daß wir von den Besserverdienenden keine höheren Abgaben verlangen, und wenn Sie andererseits von Nord nach Süd durchs Land ziehen und Ratschläge geben, wie man sich dieser Zahlungspflicht durch Einsprüche bei den Finanzämtern entziehen kann. Das ist politische Schizophrenie.
Auch dadurch, daß wir beim Kindergeld Einkommensgrenzen eingeführt haben, entziehen wir den Höherverdienenden ein Finanzvolumen von 1 Milliarde DM. Wir haben die Vorsorgepauschale für Besserverdienende begrenzt. Das bringt 1,1 Milliarden DM. Wir haben erreicht, daß Verluste, die im Ausland durch Erwerb von Häusern oder durch Beteiligung an Touristikvorhaben gem acht werden, hierzulande nicht mehr von der Steuer abgesetzt werden können. Ich nenne ein Beispiel: Ein Selbständiger mit 1/2 Million DM Einkommen, der beispielsweise 200 000 DM Verlust bei einem Touristikvorhaben in Südamerika beim Finanzamt geltend machen kann, drückt seine Steuerlast um 112 000 DM. Das war bisher unter sozialdemokratischen Finanzministern möglich, unter christdemokratischen ist es nicht mehr möglich. Das ist der Unterschied. Das haben wir zugemacht.
Sie sagen — damit haben Sie sogar Wahlkämpfe geführt —, wir hätten das Arbeitsmarktinstrumentarium demoliert. Richtig ist, daß wir im Haushalt 1984 für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 544 Millionen DM mehr haben als 1983. Sie haben sich im Oktober 1982 mit 27 610 ABM-Teilnehmern aus der Regierung verabschiedet. Wir haben derzeit 59 925. Man muß keine Mengenlehre können, sondern nur das einfache Einmaleins, um zu erkennen, daß dies die doppelte Zahl ist. Wer das Doppelte macht, kann sich verbitten, daß diejenigen, die bisher nur die Hälfte zustandegebracht haben, ihn beschimpfen.
Auch bei der beruflichen Bildung haben wir 71 Millionen DM mehr als 1983. Unser Sofortprogramm übertrifft bei weitem die Geldmittel, die Sie eingesetzt haben.
Ich verstehe angesichts dieser Tatsachen nicht — man kann sich über vieles streiten —, wenn die IG Metall diese unsere Politik als Vandalismus, als Katastrophenkurs bezeichnet. Die IG Metall ist eine Einheitsgewerkschaft. Ich sage ihr hier von diesem Pult aus: Eine Einheitsgewerkschaft kann sich nicht leisten, was sich eine sozialistische Kadergewerkschaft leisten kann. Diesen Unterschied müssen wir einmal klarmachen.
Man soll uns nicht für einfältig halten und glauben, daß christdemokratische Gewerkschafter noch jubeln, wenn ein solcher politischer Amoklauf über Metall-Zeitungen verkündet wird. Wir sind doch nicht im politischen Kannibalismus, wir sind doch nicht unter Menschenfressern, daß wir Politik so attackieren können, wie es die IG Metall macht.
— Nein.
Wir haben allein für Kohle und Stahl 6 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.
Man kann uns nicht vorwerfen, wir täten nichts für die Beschäftigung.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur gespart, zurückgenommen und das Sozialsystem an
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1 die Finanzierungsmöglichkeiten angepaßt. Wir haben in der Tat auch gestaltet. Sie verwechseln etwas, wenn Sie sagen, wir seien die Tu-nix-Regierung. Wir sind die Tu-wat-Regierung, und Sie sind die Red-viel-Opposition. Das ist der Unterschied.
— Soll ich es wiederholen? Sie waren die Red-viel-
Regierung, und wir sind die Tu-wat-Koalition.
Ich will das an drei Beispielen deutlich machen.
— Mein Gott, hier muß man wirklich Gehörschutz beantragen, wenn man in Ruhe reden will.
Ich will drei Punkte nennen: die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, die Rückkehrförderung und die Vorruhestandsregelung, die wir jetzt auf die Werft setzen.
Ich komme zunächst zur Vermögensbildung. Das Kontrastprogramm ist ganz einfach formuliert. Ihr Abschiedsgeschenk war, die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand um 900 Millionen DM zu kürzen. Unser Einstand ist, daß wir für die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand innerhalb von vier Jahren 1,4 Milliarden DM mehr staatliche Förderung zur Verfügung stellen.
Konnte bisher ein Arbeitnehmer maximal 206
DM staatliche Förderung in Anspruch nehmen, so wird er mit Hilfe unseres Gesetzes, das wir, so hoffe ich, hier in diesem Bundestag neben der Haushaltsberatung verabschieden, nicht maximal 206 DM wie bei Ihnen, sondern maximal 459,65 DM bekommen. In zehn Jahren kann sich ein Arbeitnehmer auf diese Weise ein Vermögen von 21 460 DM ansparen. Seine eigene Aufwendung dabei wird sich auf 8 699 DM belaufen.
Was das Wichtigste ist: Der Pfiff jener Vermögensbildung, wie wir sie wollen, ist ja nicht eine allgemeine Sparförderung — die sei jedem gegönnt —, sondern wir wollen ordnungspolitisch, daß aus betroffenen Arbeitnehmern beteiligte Arbeitnehmer werden.
Für uns ist Eigentumspolitik nicht nur eine materielle Politik, sondern es ist die Politik, daß jeder „mein" und „dein" sagen soll, daß jeder auch ein Stück zusätzlicher sozialer Sicherheit im Kreuz haben soll, daß er ein Stück Eigentum hat, auf das er in Notfällen zurückgreifen kann. Das ist auch ein Stück sozialer Sicherheit, das ist auch der Unterbau für Freiheit und eigene Entscheidung.
Wir wollen kein Staatseigentum. Die Geschichte zeigt: Staatseigentum war immer Bonzeneigentum. Wir wollen das Bürgereigentum. Arbeitnehmer sind Bürger.
— Ich finde es traurig, daß Sozialdemokraten lachen, wenn man das Ziel aufstellt: Arbeitnehmer als Bürger. Das entspricht der alten Tradition der Emanzipationsbewegung, wie sie in der Arbeiterschaft gepredigt wurde, daß Bürger und Arbeitnehmer gleichberechtigt sind. Das muß sich auch im Zugang zum Eigentum an Produktionsmitteln zeigen.
Rückkehrförderung, ein zweites großes Thema. Auch hier sind Sie der Maxime „Red viel" treu geblieben. Sie haben die Rückkehrförderung für ausländische Arbeitnehmer mehrfach angekündigt und in Prüfung gegeben. Was Sie damit erreicht haben, ist nur eine Abwartehaltung bei den ausländischen Arbeitnehmern. Viele saßen auf gepackten Koffern. Wir haben diesen Schwebezustand beendet. Ein Schwebezustand ist kein Dauerzustand. Wir haben Klarheit geschaffen durch eine Rückkehrförderung. Ich glaube, diese Rückkehrförderung verbindet mehreres miteinander: Hilfe für den zurückkehrenden ausländischen Arbeitnehmer und auch ein Stück Entwicklungshilfe für seine Heimat. Ich halte mehr davon, die Entwicklungshilfe an Menschen zu binden als an anonyme Institutionen.
Um auch das aus der Abstraktion herunterzuholen: Wenn ein türkischer Mitbürger mit 30 000 DM in die Heimat zurückkehrt — das kann mit Rückkehrförderung, Kindergeld, betrieblicher Vermögensbildung, Rentenanwartschaften zusammenkommen; das ist kein Ausnahmefall —,
so sind diese 30 000 DM in der Türkei der Durchschnittsverdienst von fünf Jahren. Das ist mehr, als 30 000 DM hier sind.
Deswegen glaube ich, daß wir hier mehreres miteinander verbinden: Entwicklung für die Heimat und Hilfe für denjenigen, der nach Hause zurückkehren will.
Der letzte Punkt: Vorruhestandsregelung. Wir wollen sie jetzt nach gründlicher Beratung in den Koalitionsfraktionen in die parlamentarische Beratung einbringen. An Hand der Vorruhestandsregelung — und nur deshalb erwähne ich sie hier — will ich einige Prinzipien unserer Sozialpolitik deutlich machen. Ich glaube nämlich, daß diese Vorruhestandsregelung mehr als nur eine Arbeitszeitverkürzung darstellt. Am Exempel der Vorruhestandsregelung kann auch eine Vorstellung von Sozialpolitik verdeutlicht werden. Das ist eine Vorfahrtsregel: Erstens. Freiwilligkeit geht bei uns immer vor Befehl.
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Zweitens. Vereinbarung geht vor gesetzlichem Zwang. Drittens. Kompromiß geht vor Konflikt. Viertens. Miteinander geht vor gegeneinander. Fünftens. Generationensolidarität geht vor Generationenkonkurrenz. Und sechstens. Flexible Lösungen gehen vor starren Regelungen.
Lassen Sie sich durch manche Meldungen auch der letzten Tage gar nicht beirren: Es bleibt dabei, daß wir uns für Freiwilligkeit entscheiden, weil wir immer solche Arbeitszeitverkürzungen vorziehen, bei denen der einzelne selber entscheidet, ob er sie in Anspruch nimmt. Wer länger arbeiten will, soll länger arbeiten. Wer kürzer arbeiten will, soll kürzer arbeiten. Die Arbeitnehmer brauchen keinen Vormund. Sie leben nicht im Kindergarten. Deshalb überlaßt ihnen die Entscheidung, wann sie ihre Lebensarbeitszeit beenden!
Es ist auch ein großer Unterschied, ob die Altersgrenze selbst gesetzt ist — —
— Das ist das Echo auf den Geräuschpegel von links. Wenn wir uns auf mehr Ruhe einigen können, bleibe ich auch etwas ruhiger.