Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die weitere Debatte wird Gelegenheit geben, Herr Bundeskanzler, sich mit Ihren Ausführungen, die Sie gerade an dieser Stelle gemacht haben, und auch mit Ihren neuen
3054 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1983
Dr. Vogel
Ankündigungen und Versprechungen kritisch auseinanderzusetzen. Das, was Sie zum Strafverfahren gegen den Bundesminister Graf Lambsdorff gesagt haben, erfordert jedoch eine sofortige Erwiderung.
Erstens. Sie unternehmen neuerdings den untauglichen Versuch, sich nicht über den eigentlichen Kern der Sache, sondern über einen Nebenkriegsschauplatz auszulassen und zu verbreiten.
Sie haben abgelenkt, indem Sie Kritik an den Einzelheiten des Verfahrens geäußert haben. Selbstverständlich ist in unserem Rechtsstaat eine kritische Auseinandersetzung auch über solche Fragen in sachlicher Form möglich. Aber es ist ein absolutes Novum, daß ein Bundeskanzler vom Rednerpult dieses Hauses die Strafverfolgungsbehörden, die hier keine Möglichkeit der Erwiderung haben, in dieser Art und Weise kritisiert.
Zweitens. Sie, Herr Bundeskanzler, haben von Rechtskultur gesprochen und zum Ausdruck gebracht, daß Sie sich über die Rechtskultur Sorgen machten.
Herr Bundeskanzler, ich stelle fest, daß Sie zu dem empörenden Anschlag auf die Rechtskultur
nämlich zu den Äußerungen des kommissarischen Generalsekretärs Tandler, nicht ein Wort verloren haben, nicht ein Wort!
Zum dritten. Sie haben von der politischen Kultur Großbritanniens und alter Demokratien gesprochen. Herr Bundeskanzler, Sie haben kein Recht, sich darauf zu berufen. In Großbritannien und Ländern mit dieser politischen Kultur wäre der Bundesminister, über den wir reden, schon längst nicht mehr im Amt. Das wäre politische Kultur.
Sie haben uns eine neue Mitteilung gemacht. Sie haben bisher die Auffassung vertreten, daß Sie sich über die Frage eines Rücktritts dann schlüssig werden, wenn die Strafkammer beim Landgericht über die Zulassung der Anklage entschieden hat.
Heute haben Sie einen Teilrückzug angetreten.
Heute haben Sie hier mitgeteilt, daß Sie Ihre Entscheidung nach Prüfung und Würdigung der Anklageschrift treffen. — Herr Bundeskanzler, ich nehme diesen Teilrückzug, der dem Grafen sicher zu denken geben wird, zur Kenntnis, aber ich frage Sie: Was soll das?
Wollen Sie an Stelle des Gerichts die Beweise und die Anklage würdigen und prüfen?
Dies ist doch eine Vorverurteilung oder ein Vorfreispruch.
Wir, meine Damen und Herren, wollen das nicht. Unsere Aufgabe ist es nicht — auch die Ihre ist es nicht, Herr Bundeskanzler —, über die Anklage einer Strafverfolgungsbehörde zu befinden.
— Meine Damen und Herren, die deutsche Öffentlichkeit wird sich über Ihr Verhalten ein eindrucksvolles Bild machen.
So reagieren die Leute mit dem guten Gewissen!
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir treten nicht in eine Beweiswürdigung ein. Wir haben bei jeder Gelegenheit erklärt: Das Verfahren kann auch mit Freispruch oder auch mit Einstellung enden. Unser Punkt ist nicht die Würdigung der Beweise. Unser Punkt ist die Auffassung, daß ein Minister, der unter Anklage steht, genauso wenig im Amt bleiben kann wie jeder Inspektor oder wie jeder Regierungsrat. Daran werden wir uns orientieren.
Wenn Sie nicht die Kraft zur Entscheidung haben, und wenn der Graf unter dem Eindruck der neuen Ankündigung nicht von sich aus eine würdige
und von uns erwartete Entscheidung trifft, dann werden wir durch unseren Antrag Gelegenheit geben, daß sich jeder einzelne zu dieser Frage stellen und bekennen kann.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1983 3055
Dr. Vogel
Ich danke Ihnen für Ihre parlamentarische Aufmerksamkeit.