Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erlaube mir, zu Beginn der heutigen Etatdebatte einen kurzen Bericht zum Athener EG-Gipfel zu geben. Ich habe
3010 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 43. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1983
Bundeskanzler Dr. Kohl
natürlich noch Gelegenheit, im Verlaufe der Aussprache zu den anderen Problemen Stellung zu nehmen, halte es jedoch für richtig, zu Beginn der Debatte wenigstens in einigen Sätzen auf diese beiden Tage in Athen einzugehen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat hat seine Aufgabe, das sogenannte Stuttgarter Paket in konkrete Beschlüsse umzusetzen, in Athen nicht lösen können. Es hat in einer Reihe von Fragen Annäherungen gegeben, in Kernbereichen jedoch ließen sich die Differenzen jetzt noch nicht überbrücken.
Ich verhehle überhaupt nicht meine Enttäuschung über diese Entwicklung, aber — das füge ich hinzu — ich habe auch keinen Anlaß, an dieser Stelle Schuldzuweisungen gegenüber Kollegen aus anderen Ländern vorzunehmen. Wir werden das in unseren Kräften Stehende tun, damit der nächste Europäische Rat, der vermutlich im Februar/März 1984 tagen wird, seine Aufgabe besser lösen kann und zu einem Erfolg wird. Dazu ist es notwendig, daß wir in den kommenden Monaten in bilateralen Kontakten den Weg weiter ebnen.
Die Haushaltskrise in der Gemeinschaft und der Mißerfolg in Athen werden, wie ich hoffe, den Prozeß des Umdenkens und damit die Notwendigkeit wachsender Kompromißbereitschaft fördern. Dieser Prozeß — das war offenkundig — war in Athen noch nicht weit genug vorangeschritten, jedenfalls nicht weit genug, um einen Abschluß zu ermöglichen.
Wir hatten uns allerdings auch ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich die notwendigen Maßnahmen, die wir auf dem Stuttgarter Gipfel definiert hatten, durchzusetzen. Diese Maßnahmen greifen tief in nationale Interessen und auch Besitzstände ein. Vielleicht, meine Damen und Herren, bedarf es einer gewissen Zeit und vielleicht auch krisenhafter Entwicklungen, um zu einem solchen weitgreifenden Schritt die Zustimmung aller Partner zu erhalten. Athen darf deshalb in keiner Weise ein Anlaß zur Resignation sein.
Es gibt weder für uns noch für irgendeinen unserer europäischen Partner eine vernünftige Alternative zur Europäischen Gemeinschaft. Das gilt in der jetzigen Weltlage mehr denn je, und das gilt, meine Damen und Herren, gerade auch für uns Deutsche, für die Deutschen, die mit der Teilung ihres Vaterlandes leben müssen und für die es kein Zurück in nationalstaatliche Denkkategorien vergangener Zeiten geben kann.
Das gilt in besonderer Weise auch für die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, deren wirtschaftliche Zukunft entscheidend von der Europäischen Gemeinschaft geprägt wird. Es ist wichtig, auch in dieser Stunde wieder einmal darauf hinzuweisen, daß fast 50 % unserer Exporte in die Länder der Europäischen Gemeinschaft gehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige der Grundgedanken wiederholen, von denen ich mich in Athen habe leiten lassen und die auch Richtschnur unserer zukünftigen Arbeit bleiben werden.
Erstens. Die gegenwärtige Krise der Gemeinschaft kündigte sich seit Jahren an. Jede Lösung, die wir für Probleme der Gemeinschaft finden müssen, muß umfassend und langfristig angelegt sein. Wenn die Europäische Gemeinschaft, das Kernstück des europäischen Einigungswerks, in Zukunft gedeihen soll, muß gewährleistet sein, daß wir nicht schon wieder in einem oder zwei Jahren vor den gleichen Problemen stehen wie heute. Deshalb haben wir gemeinsam in Stuttgart ein Paket geschnürt, das die zukünftige Finanzierung der Gemeinschaft, die Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken einschließlich der Überprüfung der Strukturpolitiken, mit der Erweiterung zusammenhängende Fragen und besondere Probleme einiger Mitgliedstaaten im Haushaltsbereich mit der Notwendigkeit einer strengeren Haushaltsdisziplin verbinden.
Zweitens. Für uns ist dieses Stuttgarter Paket eine untrennbare Einheit. Die Bundesregierung steht unverändert zu der politischen Grundentscheidung von Stuttgart, daß über alle diese Einzelfragen gleichzeitig, gleichgewichtig und konkret gesprochen und letztendlich entschieden und beschlossen werden muß.
Drittens. Nur über eine strengere Haushaltsdisziplin kann die Gemeinschaft den Weg aus der Krise finden. Es ist politisch nicht vertretbar, daß die Mitgliedstaaten ihren Bürgern Opfer zumuten, um die nationalen Haushalte in Ordnung zu bringen, gleichzeitig aber den Gemeinschaftshaushalt ungebremst expandieren lassen. Wir sind in Stuttgart übereingekommen, daß alle Mitgliedstaaten zur Erreichung der notwendigen Einsparungen ihren Beitrag leisten müssen. In Athen haben dies wohl am Ende der Tagung nun auch alle Partner eingesehen.
Viertens. Unverändert treten wir mit Nachdruck für den Beitritt Spaniens und Portugals ein. Bis zum Sommer 1984 sollen nun die Verhandlungen mit den beiden Staaten abgeschlossen sein. Die Gemeinschaft — und damit auch wir — ist hier im Wort, und wir werden zu diesem Wort stehen. Das sind die Europäer Spanien und Portugal vor allem aus grundsätzlichen politischen Überlegungen, aber auch im Hinblick auf die gemeinsame europäische Geschichte und Zukunft schuldig. Ich habe in Athen mit großer Befriedigung festgestellt, daß alle unsere Partner — alle ohne Ausnahme — diese Auffassung teilen.
Fünftens. Die Bundesregierung wird einer Erhöhung der Eigenmittel der Gemeinschaft, die durch den Beitritt Spaniens und Portugals notwendig wird, zustimmen. Allerdings muß besonders im Agrarbereich die Ausgabendynamik des Gemeinschaftshaushalts abgebremst werden. Es muß eine Obergrenze für untragbare Belastungen gesetzt werden, und es muß in der Zeit bis zur Erhöhung
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der Eigenmittel der geltende Finanzrahmen eingehalten werden.
Wir sind mit dem Willen nach Athen gereist, unseren Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme zu erbringen. Ein solcher Beitrag, meine Damen und Herren, hätte in bestimmten Bereichen auch für unsere Bürger Opfer bedeutet. Unsere Partner wissen dies, und sie würdigen dies. Wir haben allerdings deutlich gemacht, daß auch unsere Partner, und zwar jeder von ihnen, ihren Beitrag zur Gesamtlösung leisten müssen.
So enttäuschend das Ausbleiben eines konkreten Ergebnisses in Athen für uns alle ist, so bin ich doch überzeugt, daß dies eine Chance ist, für die Zukunft neue Ufer zu gewinnen. In einer Reihe von Fragen konnten wir — ungeachtet des Ausgangs in Athen — Fortschritte erzielen, die eine Lösung der Probleme des Gesamtpakets in den kommenden Monaten erleichtern werden. So nähern wir uns einer Lösung des Problems des Grenzausgleichs, das insbesondere in unseren Beziehungen zu Frankreich eine wichtige Rolle spielt.
Die Bundesrepublik Deutschland wird auf der Grundlage ihrer wirtschaftlichen Stärke auch in Zukunft den größten Beitrag zum Gemeinschaftshaushalt leisten. Unsere Partner erkennen jedoch an, daß der deutsche Beitrag zum Gemeinschaftshaushalt nicht als einziger Beitrag unlimitiert sein kann.
Es muß eine obere Belastungsgrenze gefunden werden. Es besteht auch Einigkeit darüber, daß eine Beitragserhöhung am Ende derjenigen Maßnahmen stehen muß, die die zukünftige Entwicklung der Gemeinschaft und nicht zuletzt ihre Ausgaben auf eine gesunde und dauerhafte Grundlage stellen. Wir dürfen dies nicht gering einschätzen.
Wir haben das Stuttgarter Paket nicht aufschnüren lassen und werden dies auch in Zukunft nicht zulassen. Es wird dabei bleiben, daß der Beitritt Spaniens und Portugals zur Gemeinschaft, wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Ausgabendynamik, insbesondere im Agrarbereich, als Teil einer insgesamt effizienteren EG-Haushaltspolitik und die Verhinderung unausgewogener Belastungen einzelner Mitgliedstaaten von uns als Einheit gesehen und behandelt werden.
Die Bundesregierung weiß sich in dieser Politik der Unterstützung durch den ganzen Bundestag sicher. Sie kann es andererseits nicht zulassen, daß ihr in Einzelfragen der Spielraum genommen wird, so daß das Aushandeln von Kompromissen, die bekanntlich im Wege des Gebens und Nehmens zustande kommen, erschwert wird.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Europa steht an einer kritischen Wendemarke seiner Entwicklung. Es wird in dieser Situation darauf ankommen, die Nerven zu behalten und mit Ruhe und Beharrlichkeit auf die Lösung der anstehenden Probleme hinzuarbeiten.
— Meine Damen und Herren, wie können Sie hier überhaupt einen Zwischenruf machen! Das Paket, das wir zu bewältigen haben, haben wir doch in der Tat von Ihnen übernommen.
Alle Daten, die in Athen und in Stuttgart relevant waren, sind in Ihrer Regierungszeit entstanden.
Gerade weil dies so ist, wiederhole ich es: Es wird in dieser Situation darauf ankommen, die Nerven zu behalten
und mit Ruhe und Beharrlichkeit auf die Lösung der anstehenden Probleme hinzuarbeiten. Es handelt sich für uns um eine Aufgabe höchster politischer Priorität.
Besonders will ich davor warnen, im Ringen um die Probleme der Gemeinschaft den großen politischen Rahmen, die Perspektive unserer Europapolitik aus den Augen zu verlieren.
Wir Deutschen sollten die Europäische Gemeinschaft ganz besonders in ihrer historischen und politischen Perspektive sehen und fördern. Wir müssen mehr als andere begreifen, daß ein zersplittertes, sich in erneuten Nationalismen erschöpfendes Europa keinen Einfluß in der Welt ausüben kann, ja zum Spielball fremder Interessen werden muß.
Wir müssen uns fragen, ob unser Wunsch, die Welt im Sinne unserer politischen und humanitären Vorstellungen mitzugestalten, dann noch Wirklichkeit werden könnte.
Wirtschaftlich ist die Europäische Gemeinschaft für die Bundesrepublik von existentieller Bedeutung. Nur der Zusammenschluß der Europäer bietet uns und unseren europäischen Freunden und Partnern die Gewähr, daß wir im kommenden Jahrhundert mit anderen wirtschaftlichen Großregionen der Welt konkurrieren können. Die Antwort auf zahlreiche wirtschaftliche und soziale Probleme unserer Zeit kann nur in Europa gemeinsam gefunden und erreicht werden.
Wir sollten in Deutschland — ich wiederhole es — nicht vergessen, daß unser Wunsch, Mauer und Stacheldraht und deutsche Spaltung zu überwinden, einen europäischen Rahmen voraussetzt. Die deutsche Frage war immer auch eine europäische Frage, und wir Deutsche brauchen für den Wunsch unseres Volkes nach Selbstbestimmung das Verständnis und die Unterstützung unserer europäischen Partner. Beides wird nur gewährt werden, wenn die Lösung der deutschen Frage in einen europäischen Rahmen eingebettet ist und nicht gegen die Nachbarn, sondern in ihren wohlverstandenen Interessen erfolgt.
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Unsere auf den europäischen Zusammenschluß gerichtete Politik hat deshalb selbstverständlich immer auch eine deutschlandpolitische Dimension.
Meine Damen und Herren, unsere Rolle in der Europäischen Gemeinschaft hat traditionell der Bedeutung, die wir der europäischen Einigung beimessen, Rechnung getragen. Dies wird auch in Zukunft so sein. Die Bundesrepublik Deutschland, die zu den sechs Mitbegründern der Europäischen Gemeinschaft gehört, wird ihre Kraft auch weiterhin dafür einsetzen, daß die gemeinschaftliche Wirtschaftsintegration und der Aufbau des politischen Europas vollendet werden können. Europa muß sich einen, und alle wirtschaftlichen Interessengegensätze, so vernünftig und begründbar sie im einzelnen sind, dürfen diesen politischen Imperativ nicht in den Hintergrund treten lassen.
Auch wir bringen in die Gemeinschaft Interessen ein, die die Bundesregierung — ebenso wie unsere Partner die ihren — nicht vernachlässigen kann. Die Kunst der europäischen Politik muß darin bestehen, im Wege des Kompromisses denjenigen Kurs zu finden, der wirtschaftlich für alle tragbar ist und der uns in die gewünschte Richtung führt. Alle Partner sind dabei zum Kompromiß aufgerufen. Jeder von uns muß seine Entscheidung unter voller Berücksichtigung der Bedeutung, die dem europäischen Einigungswerk für uns alle, aber auch für die Welt zukommt, treffen. Wir, die Bundesregierung werden uns trotz aller Rückschläge dieser historischen Aufgabe stellen.